Stellen Sie sich vor, Sie erwarten Gäste und möchten zu diesem Anlass eine Rotkraut-Cremesuppe kochen. Im Internet finden Sie folgendes Rezept: 1 kg Zwiebel, 250 g Butter, 7 kg Rotkraut, 2 kg Kartoffel, 2 kg Apfel, 1,5 l Rotwein, 15 l Suppe, 400 g Preiselbeerkompott, Salz, Pfeffer, Kümmel, Nelkenpulver, Zimt, 2 l Orangen- oder Apfelsaft. Verwirrt fragen Sie sich, warum es Zwiebel, Kartoffel, Apfel und nicht Zwiebeln, Kartoffeln, Äpfel heißt. Die angegebenen Mengen sind so groß, dass von all diesen Zutaten mehr als ein Stück vorhanden ist - warum stehen sie also nicht in der Mehrzahl? Hat der Rezept-Autor sich verschrieben (gleich dreimal) oder gibt es eine bessere Erklärung?
Obwohl die Suppe sehr lecker geworden ist, essen Ihre Gäste - zwei Frauen - kaum etwas davon. Sie fragen nach dem Grund. "Ich will die Pfunde purzeln lassen", antwortet die eine. Die andere schließt sich an und sagt, sie habe ebenfalls einige Pfund zu viel drauf. Schade, Sie hatten sich mit dem Kochen so eine Mühe gegeben. Enttäuscht trinken Sie drei Gläser Wein nacheinander. "Sind drei Glas Wein nicht zu viel?", fragt eine der Besucherinnen.
Damit Ihr nächstes Essen - zumindest sprachlich - unkomplizierter wird, könnte sich eine Beschäftigung mit Messangaben und Plural lohnen.
Es gibt im Deutschen mehrere Möglichkeiten, den "Umfang" anzugeben, in dem Gegenstände oder Stoffe vorhanden sind. Man unterscheidet drei Kategorien:
Alle diese Ausdrücke haben gemein, dass sie aus einem Zahlwort (z. B. drei, zehn) oder einem quantifizierenden Ausdruck (z. B. viele) und zwei Nomina bestehen: der Messangabe und dem, was gemessen wird. Im Hinblick auf die am Anfang erwähnten Zweifelsfälle erscheint es wichtig, den Numerus (Singular oder Plural) sowohl der Messangabe als auch des Gemessenen zu untersuchen.
In Anlehnung an den Duden lassen sich folgende Regeln für den Numerus der Messangabe - in Verbindung mit Zahlwörtern o. Ä. über eins - formulieren:
Die Villacher haben's wirklich genossen: Nicht weniger als 20.000 Besucher hat
Acker-Wirt Hias Kucher in 24 Tagen zwischen den Sonnenblumen verköstigt. "Rund 300
Fass Bier flossen in die durstigen Kehlen, 1500 Kilogramm unserer hauseigenen
Bratwürste haben die Gäste verspeist," zieht Kucher Bilanz. "Absoluter Renner waren heuer unsere
Ofenkartoffeln, davon gingen mehr als 1000 Kilo weg, wie die warmen Semmeln."
[Kleine Zeitung, 01.08.1999, Ressort: Lokal]
Fast
10.000 Metallarbeiter trafen sich in der Moosdorfstraße in Treptow. In einem geschlossenen Zug, der
sich "Spaziergang" nannte, wanderten sie in das Waldgebiet von Niederschöneweide. Dort hatte ein
Gastwirt mehrere Fässer Bier deponiert, und nach einem Frühschoppen ging es weiter
über Köpenick nach Friedrichshagen.
[die tageszeitung,
30.04.1990, S. 28]
Im ersten Text wird die Singularform
Fass verwendet, da es hier auf die Messangabe ankommt. Es soll betont werden,
welche riesigen Mengen die Besucher gegessen und getrunken haben: 300 Fass Bier, 1500
Kilogramm Bratwürste, 1000 Kilo Ofenkartoffeln. Im zweiten Text dagegen ist die Menge
unwichtig, was man daran sehen kann, dass sie nicht genau bestimmt wird (mehrere).
Stattdessen liegt die Betonung auf den Bierfässern, die als Gegenstände betrachtet werden - man
kann sich als Leser bildlich vorstellen, wie der großzügige Gastwirt sie für die Metallarbeiter
bereitstellt.
Allerdings ist die Verwendung nicht einheitlich, wie der folgende
Textauschnitt zeigt:
"Und dieser Zusatz an gutem Cholesterin erklärt weitgehend
die Risiko-Reduzierung für Herzerkrankungen", führt Studienleiter Dr. Michael Gaziano aus. "Zwei
Martinis oder zwei Glas Wein zum Abendessen haben denselben Effekt." Warum etliche
vorangegangene Studien vor allem dem Rotwein positive Wirkung auswiesen, erklärt Gaziano folgend:
"Rotwein-Trinker tendieren eher dazu, täglich ein oder zwei Gläser zum Essen zu sich
zu nehmen. Bierliebhaber hingegen trinken mehr oder weniger nur am Wochenende, dafür aber
wesentlich mehr."
[Die Presse, 27.12.1995, Ressort:
Gesundheit]
Viele Nomina bezeichnen zählbare Dinge, das heißt, man kann die Anzahl
dieser Dinge angeben: eine Karotte, zwanzig Pferde, hundert Bäume. Ist die Anzahl
größer als eins, steht das Nomen im Plural.
Es gibt aber auch Nomina, die sich auf etwas
Unzählbares beziehen. Diese Nomina lassen sich nicht mit einer Zahl verbinden und
bilden keinen Plural. Oft bezeichnen sie Stoffe oder Massen: Sand, Mehl, Wasser (*ein Sand,
*zwanzig Mehl, *hundert Wasser).
Beide Arten von Nomina können mit Maß- und Behälterbezeichnungen, aber nur Nomina, die
etwas Zählbares bezeichnen, mit Mengenbezeichnungen verwendet
werden.
zählbar: hundert Gramm Nüsse,
sechs Milliarden Nüsse, eine Schale Nüsse
unzählbar: hundert Gramm
Pudding, *sechs Milliarden Pudding, eine
Schale Pudding
Wie man sieht, stehen die Nomina mit dem Merkmal "zählbar" im Plural und die mit dem Merkmal "unzählbar" im Singular. Dies ist der Normalfall, doch im realen Sprachgebrauch kommt es auch vor, dass das Gemessene, obwohl zählbar, im Singular steht.
Wer sich nicht vorstellen kann, was in der Suppe ist, für den haben die beiden ein paar
Zahlen parat: acht Zentner Linsen, gut fünf Zentner Kartoffel, 15 Zentner Kleinsolper,
fünf Zentner Würstchen, je zwei Zentner Lauch, Karotten, Sellerie und Zwiebel und die
ein oder andere Knoblauchknolle.
[Frankfurter Rundschau,
10.02.1997, S. 4, Ressort: LOKAL-RUNDSCHAU]
Eine Banane etwa legt zunächst
knapp 12.000 Kilometer zurück, ehe sie daheim in den Obstkorb gelegt wird. Sie steigt aber im
Gegensatz etwa zu einem Apfel aus Südafrika immer noch relativ gut aus. Während 200 Gramm Bananen
aus Costa Rica 150 Gramm CO2 "produzieren", braucht es 220 Gramm CO2 für den Transport von 200
Gramm Apfel aus Südafrika.
[Salzburger
Nachrichten, 30.05.2000, Ressort: WISSEN/MEDIZIN/UMWELT]
Ein Kilogramm
Kartoffel ist für ca. einen Euro erhältlich.
[Wikipedia]
Ausdruck | Treffer COSMAS | Treffer Google | Treffer Google in Prozent |
x Gramm Kartoffeln | 270 | 103.605 | 99% |
x Gramm Kartoffel | 3 | 712 | 1% |
x Kilogramm Kartoffeln | 223 | 46.847 | 95% |
x Kilogramm Kartoffel | 24 | 2.574 | 5% |
x Gramm Zwiebeln | 95 | 69.370 | 79% |
x Gramm Zwiebel | 24 | 18.540 | 21% |
x Kilogramm Zwiebeln | 53 | 1.899 | 59% |
x Kilogramm Zwiebel | 16 | 1.346 | 41% |
x Gramm Bohnen | 16 | 39.070 | 98% |
x Gramm Bohne | 0 | 948 | 2% |
x Kilogramm Bohnen | 34 | 12.160 | 92% |
x Kilogramm Bohne | 0 | 1.049 | 8% |
x Gramm Karotten | 105 | 31523 | 95% |
x Gramm Karotte | 3 | 1.731 | 5% |
x Kilogramm Karotten | 44 | 2.227 | 56% |
x Kilogramm Karotte | 0 | 1.722 | 44% |
x Gramm Äpfel | 32 | 28.795 | 94% |
x Gramm Apfel | 25 | 1.909 | 6% |
x Kilogramm Äpfel | 178 | 73.079 | 99% |
x Kilogramm Apfel | 0 | 534 | 1% |
x Gramm Bananen | 7 | 1.621 | 33% |
x Gramm Banane | 5 | 3.354 | 67% |
x Kilogramm Bananen | 122 | 3.481 | 85% |
x Kilogramm Banane | 2 | 623 | 15% |
x Gramm Melonen | 0 | 185 | 9% |
x Gramm Melone | 1 | 1.906 | 91% |
x Kilogramm Melonen | 1 | 539 | 23% |
x Kilogramm Melone | 1 | 1.774 | 77% |
Die Tabelle stellt die Suchergebnisse für verschiedene Messkonstruktionen in den Textkorpora des IDS sowie bei Google dar (Stand: 03.03.2006).
Es wurde nicht nur nach Kilo, Kilogramm und Gramm, sondern auch nach kg und g gesucht. Zuerst wurden die Ergebnisse für die ausgeschriebenen Wörter von den Ergebnissen für die Abkürzungen getrennt, da es hätte sein können, dass bei der einen Art häufiger Singularformen auftreten als bei der anderen. Dies hat sich jedoch nicht bestätigt, wie folgendes Beispiel zeigt: Bei der ausgeschriebenen Variante Kilogramm Kartoffel/n macht die Singularform 47% der Google-Treffer aus, bei der Abkürzung mit kg nur 2%. Mit den Ergebnissen für Karotte/n verhält es sich andersherum: Während bei der ausgeschriebenen Form die Einzahl in 2% der Fälle auftritt, kommt sie bei der Abkürzung in 59% der Fälle vor.
Wie man in obiger Tabelle sieht, unterscheiden sich die Obst- und Gemüsesorten bzgl. ihrer Verwendung mit Singularformen stark voneinander. Zur besseren Übersicht ein Auszug aus der Tabelle:
Singularform | Verwendung mit Gramm | Verwendung mit Kilogramm |
Melone | 91% | 77% |
Banane | 67% | 15% |
Apfel | 6% | 1% |
Zwiebel | 21% | 41% |
Karotte | 5% | 44% |
Bohne | 2% | 8% |
Kartoffel | 1% | 5% |
Melone erzielt mit Abstand die höchsten Werte für die Verwendung der Einzahl. Dies lässt sich dadurch erklären, dass eine Melone schwer ist - bei den meisten Messkonstruktionen, z. B. 2 kg Melone, handelt es sich tatsächlich um eine einzelne Frucht. Äpfel und Bananen wiegen weniger, deshalb werden sie in Verbindung mit Kilogramm nicht oft in der Einzahl benutzt, in Verbindung mit Gramm aber umso öfter. In den COSMAS-Treffern für Gramm Banane/Bananen ist der Übergang von Einzahl zu Mehrzahl sogar eindeutig zu bestimmen: Bis 100 g steht Banane in der Einzahl und ab 100 g in der Mehrzahl. Die Verwendung der Einzahl bei den Obstsorten ist also in vielen Fällen einleuchtend. Handelt es sich (schätzungsweise) nur um eine Frucht, wird die Einzahl benutzt; handelt es sich um mehrere Früchte, nimmt man die Mehrzahl.
Anders verhält es sich mit den Gemüsesorten. Eine Kartoffel z. B. ist nicht leichter als eine Banane und müsste daher öfter mit Gramm- als mit Kilogramm-Angaben in der Einzahl verwendet werden. Dies ist jedoch nicht der Fall: Im Gegensatz zu den Obstsorten kommt bei allen Gemüsesorten die Singularform in der Verwendung mit Kilogramm sehr viel häufiger vor als mit Gramm. Eine Erklärung für diese "korrektere" Benutzung der Einzahl bei Obstsorten könnte sein, dass man bei Früchten eher als bei Gemüse daran gewöhnt ist, sie einzeln zu betrachten: Man isst einen Apfel oder eine Banane, aber normalerweise keine einzelne Kartoffel oder Bohne.
Das alles erklärt aber nicht, warum Singularformen - auch bei den Obstsorten - an Stellen benutzt werden, an denen man Pluralformen erwarten würde. Warum wird in einer Messkonstruktion das Gemessene in der Einzahl verwendet, obwohl die Messangabe so groß ist, dass es sich um mehr als ein Stück des Gemessenen handeln muss?
Hier handelt es sich vorwiegend um Rezepte. In Rezepten hat man oft mit Nomina mit dem Merkmal "unzählbar" zu tun, da die meisten Zutaten zu dieser Kategorie gehören. Wenn man eine Zutatenliste aufschreibt, die aus Mehl, Wasser, Milch, Butter, Spinat und Kartoffeln besteht, dann liegt es nahe, die einzige zählbare Zutat, Kartoffeln, an die unzählbaren Zutaten anzugleichen und somit auch als unzählbar zu behandeln. Die Perspektive, aus der man die meisten Zutaten betrachtet - als einheitliche Masse, von der man Teile nur durch Abmessen/Abwiegen entnehmen kann -, wird der Einfachheit halber auf die wenigen zählbaren Zutaten übertragen. Schließlich ist für die Zubereitung eines Gerichts irrelevant, dass man z. B. Kartoffeln zählen kann - man muss sie sowieso abwiegen, weil im Rezept gewöhnlich ihr Gewicht und nicht ihre Anzahl angegeben wird.
Kombiniert man ein Nomen mit dem Merkmal "zählbar" mit einer Kardinalzahl, z. B. zwei Gurken, dann fällt sofort auf, dass sich Gurke von Reis oder Gold unterscheidet, weil *zwei Reis oder *zwei Gold falsch wären. In der Kombination mit einer Messangabe wie 3 kg oder einer Behälterangabe wie ein Eimer springt diese Verschiedenheit nicht mehr ins Auge: 3 kg Reis, ein Eimer Reis und 3 kg Gold, ein Eimer Gold sind genauso korrekt wie 3 kg Gurken, ein Eimer Gurken.
Warum sind z. B. Linsen zählbar, aber Reis nicht? Eine Linse ist nicht viel größer als ein Reiskorn und man wird in keinem Rezept eine Angabe wie 50 Linsen finden. Es könnte sein, dass Menschen dazu neigen, Unterschiede, die ihnen unbegründet erscheinen, mit der Zeit verschwinden zu lassen.