Begehen, entgehen, ergehen, vergehen, zergehen – Präfixverben und ihre Bedeutung
Ein Verb, das ist so, wie wenn man im dunklen Raum das Licht anknipst.
Mit einem Schlag ist eine Szene da.Heringer 1983: 49 Begehen, entgehen, ergehen,
vergehen, zergehen.... Welches Licht werfen wir mit
diesen Verben auf eine Szene und wodurch erreichen wir den illuminierenden Effekt?
"Die Bezeichnung Verb geht auf das lateinische verbum 'Wort' zurück,
das seinerseits als Übersetzung des griechischen Wortes für 'Aussage' verwendet wurde - ein
Hinweis darauf, dass man das Verb als unentbehrlich für eine Aussage ansah" (Fabricius-Hansen 2005: 395). Verben sind also wichtig, wenn wir
etwas aussagen wollen. Mit Verben sagen wir meist etwas über Tätigkeiten aus: Sie
spielt Susaphon. Wir nehmen dazu vor allem einfach strukturierte Verben wie
spielen, aber auch komplex strukturierte Verben wie
begehen. Um komplexe Verben zu bilden, kombinieren wir zum Beispiel
Wörter wie gehen mit Präfixen wie be-. Das
zugrundeliegende Wort bildet die Basis; das Präfix
wird vorne angefügt - lateinisch praefigere 'vorne anheften' - und leitet
die Basis ab. Außerdem kombinieren wir Wörter wie gehen mit Wörtern wie
an oder nach (angehen,
nachgehen).
Die zentralen Präfixe zur Ableitung deutscher Verben sind be-,
ent-, er-, ver- und
zer-; sie können alle mit einem Nomen, einem Adjektiv oder einem Verb
kombiniert werden.
| mit Nomenbasis | mit Adjektivbasis | mit Verbbasis |
be- | begrenzen | befreien | beleuchten |
ent- | entkernen | entmutigen | entlocken |
er- | erdolchen | erheitern | erbauen |
ver- | vergolden | versüßen | verjagen |
zer- | zerscherben | zerkleinern | zerbrechen |
Diese zentralen Präfixe sind sämtlich einheimische Präfixe und wir nutzen sie vielfach,
allerdings ausschließlich, um Verben zu bilden. Weniger nutzen wir Präfixe, die nicht
einheimisch, sondern aus anderen Sprachen übernommen sind: Vor allem aus klassischen
Sprachen haben wir Präfixe entlehnt wie re- in
reaktivieren, rekonstruieren oder de- mit den Varianten des- und dis- in
demaskieren, desillusionieren, disqualifizieren. Weniger nutzen wir
auch Präfixe, die außer zur Bildung von Verben zur Bildung von Nomina und Adjektiven
herangezogen werden, etwa miss- in
missdeuten, Missmut und
missgelaunt.
Schauen wir uns nun die Verben mit den zentralen Präfixen genauer an: Was können wir mit
ihnen aussagen? Welche Szenen leuchten wir aus? Und wie genau machen wir das?
Präfixverben mit Nomenbasis (begrenzen, entkernen, erdolchen, vergolden, zerscherben)
Mit Nomina machen wir Aussagen über Sachen oder Sachverhalte; daher beleuchten wir mit
nomenbasierten Verben Tätigkeiten, die irgendetwas mit Sachen oder Sachverhalten zu tun
haben. Was genau die Tätigkeiten mit den Sachen und Sachverhalten zu tun haben, steuern zum
Teil die Präfixe; meist verrät es uns aber unser Weltwissen:
- So wissen wir zum Beispiel von der Grenze, dass wir sie ziehen können mit
allerlei einengenden oder beschützenden Folgen: Wir begrenzen die Freiheit des anderen
und wir begrenzen den Schaden. Von Gold wissen wir, dass es ungemein schmückt: Wir
vergolden das Eisengitter und unsern grauen Alltag. Verben, bei denen etwas hinzugefügt
wird, eine Grenze oder Gold, heißen Ornativa zu
lateinisch ornare 'hinzufügen, schmücken'. So auch
bestuhlen, beschriften,
beflaggen, bekränzen, besohlen,
bewaffnen, verglasen, vergittern,
verschnörkeln.
- Von Kernen wissen wir, dass sie stören: Wir entkernen Kirschen, bevor wir sie
einkochen, und wir entkernen altmodisch gewordene Innenstädte. Verben, bei denen etwas
weggenommen, etwas entfernt wird, heißen Privativa zu lateinisch
privare 'berauben'. Das typische Präfix der Privativa ist ent-. So auch entbeinen,
entgräten, entehren, entmachten,
entwerten.
- Von Dolchen wissen wir, dass wir mit ihnen töten können. Wie wir es in der
Schule bei Schiller gelernt haben, hat Damon vor, den Tyrannen zu erdolchen: Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande/ Ihn
schlugen die Häscher in Bande,/ "Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!"/
Entgegnet ihm finster der Wüterich./ "Die Stadt vom Tyrannen befreien!"/ "Das
sollst du am Kreuze bereuen." Verben, bei denen es um den
Gebrauch von Instrumenten im weitesten Sinne geht, heißen Instrumentativa. So auch verankern,
vertäuen, zerbeilen.
- Von Scherben wissen wir, dass sie das Resultat unsrer Unachtsamkeit oder
unsrer hellen Wut sein können: Wir zerscherben den Krug und manchmal mutwillig unser
Glück. Verben, bei denen es um Resultate im weitesten Sinne geht, heißen Resultativa. So auch verslumen,
versumpfen, versnoben, verbauern,
zertrümmern.
- Von Personen wissen wir, dass sie sich auf bestimmte Art verhalten: Wir
verarzten jemandes Wunde, wie es ein Arzt nicht besser könnte. So auch
bewirten, bemuttern, bevormunden.
Verben, bei denen ein Tätiger thematisiert wird, ein Agierender, ein grammatisches
Agens, heißen Agentiva zu lateinisch agens 'Handelnder'.
Präfixverben mit Adjektivbasis (befreien, entmutigen, erheitern,
versüßen, zerkleinern)
Mit Adjektiven machen wir Aussagen über Eigenschaften; daher beleuchten wir mit
adjektivbasierten Verben Tätigkeiten, die irgendetwas mit Eigenschaften zu tun
haben.
- Die meisten adjektivbasierten Verben sind ornativ zu lesen; eine Eigenschaft kommt hinzu, zum Beispiel frei, heiter,
süß oder kleiner zu sein. So auch entfremden,
entledigen, erkalten, erneuern,
ernüchtern, erröten, verarmen,
verbessern, verunklaren. Weiter feinunterschieden
werden kann hier in kausative Verben zu lateinisch causare
'verursachen' und ingressive Verben zu lateinisch ingredire
'eintreten': Wenn jemand jemanden befreit, ist das Freie verursacht; wenn jemand
errötet, ist die Röte eingetreten.
- Das Präfix ent- steuert auch hier wieder eine privative Lesart; eine Eigenschaft wird entzogen, zum
Beispiel mutig zu sein. So auch enthärten. Allerdings haben wir ja
bereits am vorherigen Punkt gesehen, dass auf ent- nicht wirklich
Verlass ist: entfremden ist eindeutig ornativ zu lesen und der
entfernende Aspekt ist eher im Einanderfremdwerden angelegt. Auch hier kann weiter
feinunterschieden werden in kausative und ingressive Verben. Vgl. Barz (2005).
Präfixverben mit Verbbasis (beleuchten, entlocken, erbauen, verjagen, zerbrechen)
Mit Verben machen wir Aussagen über Tätigkeiten. Mit der Präfigierung von Verben können
wir eine nuancierte Aussage über eine Tätigkeit machen.
- Viele verbbasierte Präfixverben fokussieren andere Mitspieler der Szene: So beleuchten wir zum Beispiel mit dem Verb
streichen im Satz Hans-Peter streicht Odas sensationelle
Sauerkirschmarmelade auf sein Brötchen die Sauerkirschmarmelade anders als
mit bestreichen in Hans-Peter bestreicht sein Brötchen mit Odas
sensationeller Sauerkirschmarmelade. Im bestreichen-Satz
könnten wir die wirklich sensationelle Marmelade sogar ganz ins Dunkle stellen und
Hans-Peter mit seinem Brötchen alleine lassen.
- Häufig machen wir durch die Präfigierung auch ein intransitives Verb wie folgen zu einem transitiven wie befolgen: Die
Objekte intransitiver Verben stehen nicht im Akkusativ, sondern in einem anderen Fall,
zum Beispiel im Dativ (ich folge deinem Rat); durch die Präfigierung
setzen wir das Objekt in den Akkusativ; es entstehen transitive
Verben: ich befolge deinen Rat. Transitivierte Verben mit
dem Präfix be- sind übrigens nicht nur besonders genau erforscht und
beschrieben worden, sondern auch immer mal wieder Ziel erbittertster Sprachkritik
gewesen. So wurde Sprecherschreibern vorgeworfen, mit Verben wie
befolgen einen "inhumanen Akkusativ" zu erzeugen. Mehr dazu bei
Eisenberg 1993 und Donalies 2003: 29.
- Bereits in den Präfixen angelegt sind Aussagen zu Positionen. Die zentralen
Präfixe der Verben gehen nämlich überwiegend auf Präpositionen zurück: So kommt
be- von der althochdeutschen
Präposition bî 'um ... herum, bei, an';
ent- kommt von althochdeutsch
ant, int 'gegen'; er- kommt von
althochdeutsch ur 'aus ... heraus';
ver- von den gotischen Präpositionen
faur 'vor, vorbei', fra 'weg' und
fair 'heraus, hindurch'. Nicht ganz geklärt ist schließlich
zer-; plausibel ist der Zusammenhang
mit gotisch twis- in Wörtern wie twisstass
'Zwiespalt'. Präpositionen sind meist zeiträumlich
angelegt, daher machen wir auch mit vielen Präfixen zeiträumliche Aussagen: Um Zeit,
nämlich um Beginn und Ende, geht es zum Beispiel bei erblühen und
verblühen. Auch hier lassen sich weiter Ingressiva und Egressiva zu
lateinisch egredire 'hinausgehen' unterscheiden. Um Räumliches geht es
bei beleuchten und entfliehen: Beleuchten wir eine
Szene, leuchten wir eine Szene an; entfliehen wir, bewegen wir uns weg. Solche Verben
heißen auch Lokativa zu lateinisch locus 'Ort, Stelle' (daher auch das
stille Örtchen :-).
- Bei ver- wurde - besonders in
Verbindung mit dem Reflexivpronomen sich - eine spezielle Negationslesart
herausgebildet; ausgesagt wird, dass etwas missglückt, dass etwas nicht wie erwartet
geschieht: Wir versprechen uns beim Erzählen und verzählen uns beim Rechnen. Solche
Verben heißen auch Falsifikativa, weil es um etwas falsch Gelaufenes, falsch
Ausgeführtes geht.
Fazit
Wir sehen: Mit Präfixverben können wir die verschiedensten Szenen
ausleuchten. Sprecherschreiber und Hörerleser können sich dabei tendenziell an den Präfixen
orientieren: So legt zum Beispiel be- wegen seiner Herkunft aus
bei ornative und zeiträumliche Muster nahe - allerdings auf eine etwas
gesuchte Art: Wer einen Saal bestuhlt, ist zwar irgendwie einer, der Stühle "dabei" stellt,
aber zu beleuchten und befreien müssen wir die
Bei-Erklärung weit herholen. Und dann ist auf derlei auch keineswegs
Verlass. So ist zum Beispiel ent- auf Privativa abonniert: Wird Wasser
enthärtet, ist es nicht mehr hart. Wir können gelegentlich aber auch das
ornative Gegenteil ausdrücken: Entfremden wir einander, machen wir einander fremd.
Erst das Zusammenspiel von Präfix und Basis und vor allem der Gebrauch des Präfixverbs sagt uns genug
über dessen Bedeutung. Denn die Bedeutung eines Verbs ist sein Gebrauch in der Sprache.
Spezialliteratur
Olsen 1996, Eichinger 2000,
Pavlov 2002, Dudek 2003,
Takahashi 2003, Aldinger 2022