Spionage für die ehemalige DDR — Wie funktioniert Zeitbezug bei Attributen?

In einer Pressemitteilung vom 30.12.1997 lässt die Generalbundesanwaltschaft verlauten:

Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat mit Anklageschrift vom 29. November 1997 vor dem 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg gegen den 49 Jahre alten Diplom-Ingenieur Dr. Peter A. Anklage wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit im besonders schweren Fall für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR erhoben.

Aus grammatischer Sicht ist an dieser Mitteilung nichts zu beanstanden, und vermutlich wird sie flüchtige Leser auch inhaltlich kaum irritieren. Erst bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass hier etwas seltsam verquer ist, denn tatsächlich wird hier festgestellt, jemand werde wegen einer Tat angeklagt, die er unmöglich ausgeführt haben kann. Ausgelöst wird dies durch eine sachlich falsche Verwendung des Attributs ehemaligen, eine durchaus verbreitete Fehlleistung, die nahezu täglich in den Medien zu beobachten ist. Hier nur eine kleine Auswahl gleicher und ähnlich gelagerter Missgriffe:

Eine Antwort aus Karlsruhe stehe noch aus. Das Bundesverfassungsgericht könne das Verfahren trotz der hessischen Rücknahme fortsetzen, wenn es ein öffentliches Interesse an dem Prozeß bejahe. Die ehemalige SPD-Landesregierung hatte mit der Normenkontrollklage zur verfassungsrechtlichen Überprüfung des Atomgesetzes eine von der Bundesregierung gewünschte atomrechtliche Genehmigung für die Hanauer Brennelementefabrik ALKEM verhindern wollen.
[die tageszeitung, 05.06.1987, S. 4]
H.Reinhold Küberl, ein ehemaliger Vater eines Schülers, selber ehemaliger Fußballer und ehemaliger Seiersberger Vereinsfunktionär für die Jugendmannschaften, stellt sich in unsere Dienste und trainiert und organisiert mit uns in seiner Freizeit die kleinen Fußballer.
[www.vs-seiersberg.at/sport/fussball.html abgerufen am 11.9.2006]
Die Straßenverkehrsordnung der Ex-DDR schrieb etwa unsinnigerweise vor, daß man nicht auf die linke Fahrspur der Autobahn wechseln darf, um einem einfahrenden Kfz das Einfädeln zu ermöglichen.
[die tageszeitung, 08.10.1990, S. 28]
ich brachte seinerzeit ein PS1 mit nach brasilien, wir hatten (mein damaliger sohn 11 und ich), versucht spiele (CD´s) aus brasilianischer produktion mit dem deutschen gerät zum laufen zu bringen, aber leider ohne erfolg.
http://brasil-web.de/forum/ abgerufen am 11.9.2006]
Der US-Pornoverleger Larry Flynt hat in seinem persönlichen Feldzug gegen die "Heuchelei" in Washington Kongreßabgeordnete der Lüge über Ehebruch und Abtreibung bezichtigt. Er beschuldigte den republikanischen Abgeordneten Bob Barr in Beverly Hills, seine frühere Frau zu einer Abtreibung gezwungen zu haben.
[Vorarlberger Nachrichten, 13.01.1999, S. A2, Ressort: Politik]

Dass hier jeweils etwas so gründlich daneben geht und dann auf den ersten Blick nicht als misslungen erkannt wird, ist darauf zurückzuführen, dass von Ereignissen berichtet wird, deren "Geschäftsgrundlagen" sich zwischenzeitlich verändert haben:

  • Wenn von der ehemaligen DDR die Rede ist, dann kann damit nur das Territorium gemeint sein, das früher das Staatgebiet des inzwischen untergegangenen Staatswesens DDR war. Das Territorium wird dabei im Hinblick auf eine Eigenschaft charakterisiert, die ihm früher einmal zukam, ganz so, wie man jemand als ehemaligen Lehrer bezeichnen kann, der früher einmal als Lehrer gearbeitet hat. Als Staatswesen existiert die DDR jedoch nicht länger und entspricht so vielleicht einem verstorbenen Lehrer, in keinem Fall jedoch einem ehemaligen. Da von einer ehemaligen DDR in diesen Sinn nicht die Rede sein kann, ist auch auszuschließen, dass es ein Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR gibt, weshalb es natürlich unmöglich ist, für ein solches Spionage zu betreiben. Gemeint war wohl, dass der Angeklagte zu einer Zeit, als es den Staat namens DDR noch gab, für das Ministerium für Staatssicherheit dieses Staates spioniert hatte. Der Schreiber versuchte offenbar, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die DDR untergegangen ist, und hat sich in der Wortwahl vergriffen. Korrekt, wenn auch umständlicher, wäre es gewesen, anstelle von der ehemaligen DDR von der inzwischen nicht mehr existierenden DDR zu schreiben.
  • Ehemalige Landesregierungen mögen in Form der Personen, die sie gebildet hatten, zwar als ehemalig fortbestehen, doch können sie als solche in keiner rechtlich signifikanten Weise mehr agieren. Doch Derartiges sollte hier vermutlich auch gar nicht behauptet werden. Gesagt werden sollte wohl eher, dass bereits die frühere, damals von der SPD geführte Landesregierung die Normenkontrollklage eingebracht hatte.
  • Herr Küberl kann sicher völlig zurecht als ehemaliger Fußballer und Vereinsfunktionär bezeichnet werden, weil diese Charakterisierungen früher auf ihn zutrafen, jetzt jedoch nicht mehr. Die Eigenschaft, Vater eines Schülers zu sein, kann ihm allerdings nur unter ausgesprochen seltsamen Voraussetzungen abhanden gekommen sein. Viel wahrscheinlicher ist hier, dass die Charakterisierung als ehemalig nicht dem Vater-Sein gelten sollte, sondern dem Schüler-Sein seines Sohnes.
  • Im Fall der Ex-DDR gilt dasselbe wie im oben besprochenen Fall der ehemaligen DDR. Der Versuch, auch noch anzumerken, dass es die DDR inzwischen nicht mehr gibt, führt hier zu einer sachlich völlig unangemessenen Formulierung.
  • Der damalige Sohn wird wohl immer noch Sohn des Schreibers sein, auch wenn natürlich nicht ganz auszuschließen ist, dass sich dessen Vaterschaft inzwischen als Irrtum herausgestellt hat. Wahrscheinlicher ist, dass gesagt werden sollte, der Sohn sei zu der Zeit, von der hier berichtet wird, elfjährig gewesen.
  • Larry Flint hat den Abgeordneten Bob Barr tatsächlich beschuldigt, doch keineswegs, eine Frau zu einer Abtreibung gezwungen zu haben, mit der er früher einmal verheiratet war, sondern eben die Frau, mit der er zu der fraglichen Zeit verheiratet war.
AMY GOODMAN: What about Congress member Bob Barr, who was one of the House managers of the impeachment of President Clinton?
LARRY FLYNT: Well, the reason why we went after Barr is he had been on my list for a long time. He used to go up on the floor of Congress and say that abortion is equivalent to murder, and at the same time he was taking his wife for an abortion and paid for it with his own personal check, all of which we have evidence of. So, that is the kind of hypocrisy that really tears at our democracy, and I'm not interested in exposing anyone's sex life just for the sake of doing it. But only if they take a public position contrary to the way they're living their private life, then I think they're fair game.
[http://www.singularitynetwork.org/forum/ abgerufen am 13.2.2007]
Zu den Schwierigkeiten beim Gebrauch und Verstehen von Attributen wie ehemalig-, früher-, später-, derzeitig- sowie Präfixen wie Ex-, Alt-, Neu- kommt es wohl deshalb, weil Zeitbezüge durcheinandergebracht werden: Zum einen ist da die Zeit, zu der eine entsprechende Charakterisierung vorgenommen wird, zum andern die Zeit, zu der das Ereignis stattfand oder -findet bzw. der Zustand bestand oder besteht, von dem dabei die Rede ist. Anders als etwa heutig-, gestrig-, morgig-, die stets auf die Sprechzeit zu beziehen sind, ist bei diesen Ausdrücken von einem Bezug auf die Zeit auszugehen, zu der der beschriebene Zustand bestand oder das Ereignis eintrat.

Wenn also z.B. jemand erzählt, er habe seinen ehemaligen Lehrer getroffen, dann ist für die Charakterisierung als 'ehemalig' allein entscheidend, ob die Person, die er traf, zu diesem Zeitpunkt noch sein Lehrer war oder nicht. Nur wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sein Lehrer war, ist die Charakterisierung korrekt. Die Frage, ob die Person zum Zeitpunkt der Erzählung noch Lehrer des Erzählers war oder nicht, stellt sich hier erst gar nicht.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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