Zur vollsten Zufriedenheit? — Zur Stärkung von Superlativen

Eigentlich sollten hier gar keine Fragen aufkommen: Was voll ist, kann voller nicht sein, was rein ist, wäre nicht rein, wenn es reiner sein könnte. Doch der Bedarf an nicht mehr zu überbietenden Charakterisierungen für Außergewöhnliches und Herausragendes scheint grenzenlos, was schon mal dazu führt, dass versucht wird, an sich bereits Optimales weiter zu steigern. Opfer solcher "Übersteigerung" kann jedes Adjektiv (Eigenschaftswort) werden, das für eine Eigenschaft steht, die aus sachlichen oder logischen Gründen keine Abstufungen erlaubt und nicht schon formal als sog. Superlativ zu erkennen ist, also neben voll und rein unter anderem auch vollkommen, einzig, einmalig, allumfassend, unüberbietbar und natürlich auch maximal, optimal und tautologisch. Hier nur einige Beispiele:

Wenn auch scheußlich anzusehen, schrecklich in der Handhabung, entsetzlich zu lesen, rein, was die Augen angeht jedenfalls, und überhaupt ganz und gar dermaßen unmöglich, dass Verlag und Setzer und alle mit den unvergänglichsten Flüchen belegt gehören.
[Die Zeit vom 01.07.2004, Nr. 28, S. 48:]
Das ist ja nun wirklich ein Pleonasmus der tautologischsten Schattierung.
[Harry Rowohlt live in der Berliner Volksbühne, aus: Der Paganini der Abschweifung]
Silvester steht trampelnd, grölend und Funken sprühend vor der Tür - und niemand kann in dieser Stadt dem allumfassendsten aller Feste entkommen.
[Berliner Zeitung, 30.12.2000, S. 23]
Im maximalsten aller Fälle werden der oder die Killer mit Pensionsberechtigung eine mehr oder minder milde Bestrafung erfahren.
[die tageszeitung, 09.07.1993, S. 18]

Blick über den Tellerrand

Bemerkenswert und sicher auch bedenkenswert ist allerdings, dass die Bildung solcher Formen weder auf die deutsche Sprache beschränkt ist, noch als ein Zeichen unserer "maßlosen" Zeit gelten kann, wie die folgenden Zitate belegen:

Francesco Angeloni ci racconta: "Se Cornelio Tacito per la sovrana eccellenza dell'acquistata virtù meritò di giungere alle prime dignità nella romana repubblica, che dirassi di Marco Claudio Tacito anch'esso municipale (ternano, n.d.r.), già vecchio di età, gravato di merito, di carichi, e di militari e urbani umori; a cui mentre faceva mestieri di godere il riposo, fu come al più ottimo di tutti i senatori, prima dell'istesso senato, e poscia dagli eserciti e dal popolo, con vere e lietissime voci, appoggiato l'impero e forzato a riceverlo?"
[www.comune.terni.it/storia_curiosita.asp — gefunden am 26. 7. 2006]
L’être moral souverain étant par rapport au citoyen ce que la personne physique despotique est par rapport au sujet, et l’esclave le plus parfait ne transférant pas tout son être à son souverain, à plus forte raison le citoyen a-t-il des droits qu’il se réserve, et dont il ne se départ jamais.
[fr.wikisource.org/wiki/Citoyen — gefunden am 26. 7. 2006]
Hanks as Blago is discovered to actually be a 12-year-old boy who not only managed to get elected twice but also persuaded Geraldo Rivera (Andy Samberg) and Greta Van Susteren (Amy Poehler) that he was the bestest governor ever.
[https://www.nbcchicago.com/news/local/live-from-ny-blago/2094697/ — gefunden am 29. 2. 2024]
Während Freienwalde dieses Schmuckes beinah völlig entbehrt und Buckow, den großen See zu seinen Füßen abgerechnet, nur zwei kleine Edelsteine von allerdings reinstem Wasser aufweist, sind Fluß und See das eigentliche Lebenselement der Ruppiner Schweiz.
[Theodor Fontane: Werke, NA Bd. 9, S. 307]
Der vierde ist / Nouatus mit seinen Katharen / welche die Busse versagten / vnd fur andern die reinsten sein wolten.
[Luther-Bibel von 1545: Vorrede auff die Offenbarung S. Johannis.]
Nehmt Froschlaich, Krötenzungen, kohobiert,
Im vollsten Mondlicht sorglich distilliert
Und, wenn er abnimmt, reinlich aufgestrichen,
Der Frühling kommt, die Tupfen sind entwichen.
[Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Hamburger Ausgabe Bd. 3, S. 194 ]
Neu ist der Einfall doch nicht, man hat ja selber den höchsten, einzigsten, reinsten Begriff Gottes in Teile geteilt.
[Friedrich Schiller: Xenien und Votivtafeln. Schiller: Werke, S. 928]
najdoskonalszy akcelerator cząstek
[fizyka.servis.pl/akcel_czast.php]
„der perfekteste Teilchenbeschleuniger”
najbardziej doskonały system
[/www.senat.gov.pl/K4/DOK/sten/089/23.HTM]
„das am meisten perfekte System”
najbardziej najlepszy album
[rekreacja.interia.pl/woda/nurkowanie/news?inf=517397]
„das am meisten beste Album”
najnajlepszy film
[kryminalni.onet.pl/ 1,159,8,8471731,25320882,1208700,0,forum.html]
„der 'besteste' Film”
Belle, vous êtes belle... Dans votre rêve en cachemire et en soie vous êtes la plus irrésistible de toute la terre.
[www.accessoire12.de/product_info.php/cPath/22/products_id/46/language/fr/pashmina-champagne.html]
Perhaps happiness is the most unreachable goal of all.
[www.newsandentertainment.com/zMhappiness.html]
Was mußte denn aus ihm werden, da sie zu Vollendung ihres Sieges alles anwendete, was auch den unempfindlichsten unter allen Menschen zu ihren Füßen hätte legen können?
[Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Werke Bd. 1, S. 505]
Es war aber darüber, daß er den Mittag der erniedrigenden Begegnung dieser Leute ausgesetzt war, deren Wohltat er sich doch notwendig wieder gefallen lassen mußte, wenn es ihm nicht als der unverzeihlichste Stolz sollte ausgelegt werden.
[Karl Philip Moritz: Anton Reiser. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S. 130919. www.digitale-bibliothek.de/band1.htm ]
Dass nun in unsrem Gedicht die äussern und inneren Formen so eng auf einander passen, dass sie sich gerade gegenseitig nur bekleiden und erfüllen, dadurch wird der Charakter desselben in dem reinsten und + Sinne, reiner als bei andern modernen und voller als bei den alten Dichtern: Einfachheit, Wahrheit und Natur.
[Wilhelm von Humboldt: Ueber Göthes Herrmann und Dorothea. Humboldt-W Bd. 2, S. 242 ]
Offenbarung ist das einzige Bedürfnis des Geistes; denn das Höchste ist allemal das einzigste Bedürfnis.
[Bettina von Arnim: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S. 7235. www.digitale-bibliothek.de/band1.htm ]
Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?
Das ewige Wesen, Göttern ebenbürtig,
So groß als zart, so hehr als liebenswürdig?
[Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Goethe-Hamburger Ausgabe Bd. 3, S. 227]
Saadi hat jedoch uns einige Beispiele erhalten, deren Zartheit, gewiß allgemein anerkannt, das vollkommenste Verständnis eröffnet.
[Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 3, S. 251]

Niemand wird derart illustren Schreibern vorhalten wollen, sie hätten Schwierigkeiten mit der logisch korrekten Formulierung ihrer Texte. Tatsächlich finden sich auch bei diesen Autoren überwiegend Verwendungen von einzig-, rein-, voll-, vollkommen-, wie eine Auswertung digital verfügbarer Werke von Goethe und Schiller zeigt:

Goethe

einzigste...7einzig106einzige...381
reinste...105rein309reine...589
vollste...5voll281volle...284
vollkommenst...42vollkommen365vollkommen...150

Schiller

einzigste...1einzig42einzige...228
reinste...13rein88reine...221
vollste...0voll144volle...67
vollkommenst...17vollkommen87vollkommen...45

Diskussion

Man wird — allemal bei diesen Autoren, zu deren Repertoire offenkundig beide Formen gehörten — wohl davon ausgehen müssen, dass die "übersteigerten" Formen mit Bedacht gewählt wurden, um mehr als nur nüchterne, sachlich korrekte Charakterisierung zu erreichen. Darum dürfte auch zutreffen, was das Grimm'sche Wörterbuch zu einzigst ausführt:

4) einzig wird durch den superlativ noch erhöht: dasz das menschengebild am vorzüglichsten und einzigsten das gleichnis der gottheit an sich trägt. GÖTHE 17, 293; die ersten und einzigsten nachrichten der urgeschichte. 24, 204; gute nacht, engel. einzigstes, einzigstes mädchen, und ich kenne ihrer viele. an Auguste Stolberg 8. eine andere erhöhung des worts s. eineinzig.
[Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm]

Doch das heißt keineswegs, man habe immer und jederzeit davon auszugehen, jede derart "erhöhte" Form würde in der Absicht gebildet, das normale Höchstmaß noch zu überbieten. Gerade bei Literaten, bei denen anzunehmen ist, dass sie ihre Texte bewusst gestalten, dürfte weniger der irrationale Wunsch im Vordergrund stehen, auch nicht mehr Steigerungsfähiges noch zu steigern, als vielmehr die Absicht, die Intensität oder Eindringlichkeit der Charakterisierungen zu erhöhen, die sie mit diesen Ausdrucksformen vornehmen.

Man mag jetzt einwenden, Steigerungsformen seien aber keine Formen der Intensivierung, und deshalb sei eine entsprechende Verwendung nicht korrekt. Doch damit provoziert man nur die Frage, woher man dies denn so genau wisse und worauf man sich dabei stütze. Und diese Frage wird man kaum ohne Anmaßung beantworten können.

Neben einer Verwendung zum Zweck der Intensivierung finden sich weitere, weniger spektakuläre Verwendungsweisen solcher Formen:

  • Wenn etwa ein Mannheimer Bürger in einem Alltagsgespräch erklärt, er sei kein einzigstes Mal in Ludwigshafen gewesen, kann man im Allgemeinen davon ausgehen, dass er ganz einfach meint, er sei kein einziges Mal dort gewesen, denn in seiner regionalen Variante des Deutschen bedeutet das einzigste soviel wie das einzige im Standarddeutschen.

Aus: Variantengrammatik des Standarddeutschen (2018). http://mediawiki.ids-mannheim.de/VarGra/index.php/Einzigst-.

Tatsächlich bestätigt ein Blick in regionale Tageszeitungen die empirische Bestandsaufnahme der "Variantengrammatik":

Den einzigsten Sieg schafften die Herren II in Ilvesheim.
Mannheimer Morgen, 25.10.2002, Schwarzes Brett]
Die HG 85 ist das einzigste Team der Liga, die es geschafft hat, dem derzeitigen Spitzenduo Spergau und Naumburg jeweils eine Niederlage beizubringen.
[Mitteldeutsche Zeitung, 27.02.2007, HG-Herren stürzen den Spitzenreiter]
Den einzigsten Wermutstropfen an diesem Tag stellte der Ehrentreffer von Maik Seidel da, der nach einem Eckball völlig frei zum Schuss kam.
[Sächsische Zeitung, 13.10.2008, S. 13]

Böse Zungen werden anmerken, es sei sicher kein Zufall, dass alle drei Beispiele dem Sportteil entnommen sind. Eine umfassende Prüfung dieses Umstands muss an dieser Stelle aus Zeitgründen entfallen.

Dass sich dieser Sprachgebrauch zwar nicht ganz, aber wohl doch hauptsächlich auf informelle Äußerungen konzentriert, zeigt eine Recherche im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo). Von insgesamt über 3.000 Belegen zu einzigste- im Februar 2024 entstammen deutlich mehr als 2.000 aus unredigierten Internetquellen (Online-Diskussionen, Youtube-Kommentare etc.). Hier einige Beispiele:

Da ich sicherlich nicht der einzigste bin, der mit solchen Beträgen Sinnvolleres anstellen könnte, würde ich dir von solchen Aktionen freundlicher weise abraten.
[Wikipedia-Benutzerdiskussion: Giftpflanze/Archiv/2012/09]
Geld ist nicht alles und Uwe ist bis jetz der einzigste der normal geblieben ist.
[NDY/034.000048, YouTube, 14.02.2017]
Ich bin der einzigste Benutzer und hatte so etwas noch nie gehabt.
[Usenet 22.9.2015, Re: [Win10] Daten verschwunden]
  • Eigenschaften, die mit Adjektiven wie rein, sauber und voll zum Ausdruck zu bringen sind und an sich jeweils bereits ein Höchstmaß bestimmen, werden im Alltag durchaus als steigerungsfähig empfunden, weil ihr Zutreffen an der Erfüllung von Kriterien gemessen wird, die - anders als bei einzig oder einmalig - keineswegs absolute Geltung haben. So wird man etwa davon sprechen, ein Saal sei voll, wenn alle Sitzplätze besetzt sind. Wenn weitere Personen in diesen Saal drängen, wird er, gemessen an diesem Standard, noch voller, und wenn er dann am Ende aus allen Nähten platzt, ist er am vollsten.

So gesehen wird auch nachvollziehbar, wie es dazu kommen konnte, dass heute im Arbeitsleben gilt, was das LAG Hamm am 13. 2.1992 für Recht befand:

"Der sehr guten Leistung entspricht die zusammenfassende Beurteilung 'zur vollsten Zufriedenheit'. Will der Arbeitgeber das Wort 'vollste' vermeiden, so muß er eine sehr gute Leistung mit anderen Worten als 'volle Zufriedenheit' bescheinigen." - BAG 23.9.1992 - AZR 573/91.
"Es erscheint rabulistisch, dem Arbeitnehmer das Adjektiv 'vollste' bei der Beurteilung im Zeugnis zu verweigern, wenn es in arbeitsrechtlichen Monographien, Musterbüchern und Zeitschriften gebräuchlich ist."
"Eine Notenskala mit nur fünf Noten läßt nicht die gesamte Bandbreite der Bewertung zu. Eine Notenskala mit sieben Stufen läßt weitere Bewertungen nach oben wie nach unten zu. Es empfiehlt sich, folgende Notenskala zu übernehmen: 'stets zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigt' = sehr gute Leistungen; 'stets zu unserer vollen Zufriedenheit erledigt' = gute Leistungen; 'zu unserer vollen Zufriedenheit erledigt' = vollbefriedigende Leistungen; 'stets zu unserer Zufriedenheit erledigt' = befriedigende Leistungen; 'zu unserer Zufriedenheit erledigt' = ausreichende Leistungen; 'im großen und ganzen zu unserer Zufriedenheit erledigt' = mangelhafte Leistungen; 'zu unserer Zufriedenheit zu erledigen versucht' = unzureichende Leistungen."

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Roman Schneider
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