Warum sind nicht alle Verben regelmäßig?

Frage von F. (12 Jahre)

Lieber F.,

vielen Dank für deine spannende Frage! Lass uns zusammen schauen, warum es in der deutschen Sprache zwei Hauptarten von Verben gibt: Zum einen gibt es Verben, die sich immer auf die gleiche Weise beugen – das sind die regelmäßigen Verben, auch „schwache Verben“ genannt. Du kennst ja sicherlich regelmäßige Verben wie lernen. Die Grundformen von lernen sind ganz einfach zu bilden: lernen – lernte – gelernt, nicht wahr? Die „starken Verben“ hingegen sind ein bisschen wie Verwandlungskünstler. Sie ändern nicht nur ihre Form, sondern auch ihren Stammvokal wie in singen: singen – sang – gesungen. Den Vokalwechsel (wie i – a – u bei singen) nennt man in der Grammatik Ablaut. Starke Verben sind berühmt-berüchtigt wegen der Vielzahl solcher Vokalwechselmuster, denn man unterscheidet traditionell sieben Ablautreihen, und das – stell dir vor – schon seit dem Althochdeutschen! Das ist die Sprache, die unsere Vorfahren um die Zeit zwischen 750 – 1050 n. Chr. gesprochen haben. Klingt kompliziert, oder? Manchmal würde man sich wünschen, es wäre einfacher und alle Verben würden sich wie die schwachen Verben verhalten.

Und weißt du was? Bruno Horst Bull, ein Dichter, hatte wohl als Schulkind Schwierigkeiten mit diesen verwirrenden Verben und wünschte sich vielleicht auch, dass sich alle Verben regelmäßig beugen. Er hat darüber sogar ein Gedicht geschrieben, das „Ein schlechter Schüler“ heißt. Hier sind ein paar Zeilen daraus:

Als ich noch zur Schule gehte, zählte ich bald zu den Schlauen,
doch ein Zeitwort recht zu biegen, bringte immer Furcht und Grauen.

Als nun ganz und gar nichts helfte, prophezieh mir unser Lehrer:
wenn die Schule ich verlasste, wörde ich ein Straßenkehrer.

Da ich das nicht werden willte, kommte ich bald auf den Trichter,
stak die Nase in die Bücher, und so werdete ich Dichter.

(Bruno Horst Bull (1972): Ein schlechter Schüler. In: Eine Katze ging ins Wirtshaus. Aus dem Kinderwunderland. München: Heyne)

Ist das nicht amüsant, wie die starken Verben klingen, wenn sie im Präteritum schwach gebeugt werden? Statt ging und half sagt der Schüler gehte und helfte. Er versucht, es sich einfacher zu machen, leider sorgt dies nur für Verwirrung: steckte wird bei ihm zu stak, würde zu wörde, aber trotz „Furcht und Grauen“ vor den starken und schwachen Verben ist aus dem Schüler ein toller Schriftsteller und Dichter geworden!

Es wäre sicherlich einfacher, wenn sich alle Verben immer auf die gleiche Weise beugen würden, aber die Sprache hat sich nun mal so entwickelt, dass es neben vielen schwachen Verben auch starke Verben gibt. Ein kleiner Trost: Die Anzahl der starken Verben ist über die Zeit kleiner geworden. Im Mittelhochdeutschen gab es 349 starke Verben, heute sind es nur noch 169. Das liegt daran, dass einige Verben nicht mehr verwendet werden und aus dem heutigen Sprachgebrauch verschwunden sind oder sich von starken zu schwachen Verben gewandelt haben. Einige Verben sind noch in einem Übergangsprozess und daher gibt es manchmal für ein und dasselbe Verb beide Formen – eine starke und eine schwache – wie zum Beispiel bei dem Verb backen: backte und buk.

Und zum Abschluss noch eine gute Nachricht: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Anzahl der starken Verben in der Zukunft steigen wird. Wenn neue Verben entstehen, die neue Aktivitäten oder Technologien beschreiben, wie telefonieren, mailen oder googeln, werden diese normalerweise als schwache Verben in die deutsche Sprache aufgenommen. Das macht es einfacher, denn diese neuen Verben folgen dem regelmäßigen Muster, das wir schon kennen.

Im Rahmen von Aktionstagen wie dem Girls' Day oder Türen auf mit der Maus haben Kinder die Möglichkeit, uns Fragen zu allem zu stellen, was sie an der deutschen Sprache interessiert. Die hier nachlesbare Frage mitsamt Antwort stammen aus diesen Quellen.

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Autor(en)
Anna Volodina
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