Keine Macht für niemand — Mehrfachnegation

Negation kehrt den Wahrheitswert einer Aussage um:

Ich verstehe dich => Ich verstehe dich nicht.

Die Verneinung wird dabei nicht immer und allein durch die Negationspartikel nicht ausgedrückt. Im Sprachgebrauch treten außerdem negierende Indefinitpronomen (wie niemand), indefinite Artikel (wie kein oder ohne) oder Adverbien (wie nie) auf; vgl. Weiß 2017 und Wellmann 2013. Hinzu kommen morphologisch negierte Adjektive wie ungern - das Affix-Wörterbuch erläutert dies im Artikel über un-.

Im Standarddeutschen wird die Negation üblicherweise durch genau ein solches Mittel pro Satz markiert. Mit Mehrfachnegation bezeichnen wir dagegen Situationen, in denen mehrere Negationsausdrücke zum Einsatz kommen. In den meisten Fällen treten dann zwei Verneinungen im Satz auf. Doppelte Negation im zeitgenössischen Deutsch bedeutet üblicherweise, dass die zweite Negation die erste semantisch aufhebt. Darüber hinaus gibt es weitere mögliche Funktionen der Mehrfachnegation, diese werden nachfolgend näher betrachtet.

In manchen Sprachen ist die Mehrfachnegation übrigens sogar — anders als im Deutschen — obligatorisch und wird im Sinne einer einfachen Verneinung verwendet:

  • Deutsch: Er kann das nicht tun.
  • Französisch: Il ne peut pas faire ça.
  • Afrikaans: Hy kann dit nie doen nie.
  • Russisch: Он не может этого сделать.

Kurze historische Betrachtung

In Karl Joseph Simrocks "Das deutsche Kinderbuch" (1800) finden wir auf Seite 52 den folgenden Gedichtabschnitt:

Unser Bruder Melcher,
der wollt ein Reiter werden,
hatt er doch kein Pferdchen nicht,
kann er keiner werden.

Auch hierbei handelt es sich um eine doppelte Negation, trotzdem verstehen wir: Melcher hat kein Pferdchen! Die Formulierung "kein X nicht" tritt nicht nur dort und bei einigen älteren christlichen Liedstücken auf (wie z.B. Es ist doch ja kein anderer nicht, der für uns könnte streiten von Martin Luther), sondern wird auch heute noch gelegentlich im Sinne einer einfachen Verneinung verwendet — häufig in Umgangssprache bzw. in Dialekten:

Bairisch:

Mia hod koana koa Stickl Broad ned gschengt. (Tages-Anzeiger, 15.03.1996, S. 2)
(Im Sinne von: Niemand hat mir ein Stück Brot geschenkt.)

Alemannisch-Schwäbisch:

Mir ham bis jetzt koin Mangel net. (Der Spiegel, 09.11.1987, S. 120)
(Im Sinne von: Wir haben keinen Mangel.)

Plattdeutsch (vgl. Thies 2021):

För keen Geld nich. (Thies 2021, 3.1.8.4: Verstärkung der Verneinung im Satz)
(Im Sinne von: Für (gar) kein Geld.)

Solche Formulierungen lassen sich als Verstärkung der Verneinung verstehen, so wie auch hier:

"Das ist doch kein Leben nicht", schimpft auf schwäbisch die 65jährige Wolgadeutsche Alma Kreutzer und fährt auf russisch fort: "Meine Rente (umgerechnet 50 Franken pro Monat) reicht gerade für Brot sowie die Strom- und Kohlenrechnung." (Tages-Anzeiger, 15.03.1996, S. 2)
Der wo kein Bier nicht sauft, der gehört erst gar nicht tauft. (Süddeutsche Zeitung, 28.09.2000, S. 21)

Mehr zur Verwendung der doppelten Verneinung als Verstärkung in Dialekten (vornehmlich im südlichen deutschen Sprachraum) bietet der Atlas zur deutschen Alltagssprache (kurz: AdA, in Kooperation von den Universitäten Salzburg und Liège erstellt).

Doppelte Negation als Stilmittel in Songtexten

In der populären Musik wird die doppelte Negation gerne als Stilmittel verwendet: Unvergessen beispielsweise von der Band "Ton Steine Scherben" in ihrem wohl berühmtesten Song "Keine Macht für Niemand". Wer die Scherben kennt, weiß um ihre anarchistische Überzeugung: In einer herrschaftslosen Gesellschaft sind alle Menschen füreinander verantwortlich und handeln entsprechend solidarisch, also braucht es auch niemanden, der Macht über andere ausübt (eine weitere Textzeile im Song lautet entsprechend: Keiner hat das Recht, Menschen zu regieren).

Andere Beispiele für doppelte Negation in Songtexten:

Was bessres wüsst ich schon, das ist auch dir nicht unbekannt [...]
(Element of Crime: "Alten Reste eine Chance", 1993, zitiert nach: songkorpus.de)
Ich möchte ja nicht unbescheiden sein [...] Ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen [...]
(Reinhard Mey: "Ich möchte!", 1994, zitiert nach: songkorpus.de)
Doch nichts genaues weiß man nicht.
(Udo Lindenberg: "Weltreise", 1991, zitiert nach: songkorpus.de)
Jetzt hab ich doch mein Herz verlorn an dich, und hab deshalb kein Herz nicht mehr für mich.
(Konstantin Wecker: "Vom Herzen", 1989, zitiert nach: songkorpus.de)

Randnotiz: Auch in englischsprachigen Songs kommt doppelte Verneinung (etwa zur besonderen Betonung von etwas Schlechtem) nach wie vor gerne zum Einsatz:

People ain't no good (Nick Cave)
Ain't no sunshine when she's gone (Bill Withers)
We don't need no education (Pink Floyd)

Litotes

Mit doppelter Negation lässt sich Aufmerksamkeit erregen. So hat Bundeskanzler Olaf Scholz 2023 bei der Eröffnung einer Chipfabrik in Jena gesagt:

Das müssen wir mühsam politisch erarbeiten, da sind wir dran – und sie sehen mich jetzt hier nicht als Menschen ohne Zuversicht. (Der Spiegel, 25.11.2023, S. 14)

Es ging um das ablehnende Urteil des Verfassungsgerichts zur Haushaltspolitik der Regierung. Sie wollte u.a. die digitale Souveränität Deutschlands mit budgetierten Sondermitteln fördern, die eigentlich für andere Zwecke beschlossen worden waren. Herr Scholz kann so verstanden werden, dass er trotz dieses Urteils zumindest ein bisschen zuversichtlich ist, dass solche Förderungen möglich sein werden — im Satz wird also die positive Aussage ('Der Kanzler hat Zuversicht') abgeschwächt ('Der Kanzler hat ein wenig Zuversicht').

Solche "Litotes" (Krifka (2014), S. 257 ff.) sind ein nicht unübliches Stilmittel in der Politik: Man drückt sich etwas vorsichtiger, also abgeschwächt aus und ist dadurch weniger angreifbar. Das Stilmittel der Ironie kommt im politischen Diskurs dann hinzu, wenn z.B. behauptet wird, jemand anderes sei "nicht unbegabt": Der andere wird damit zwar wortwörtlich als "begabt" bezeichnet, aber auf eine Art und Weise, die nahelegt, man meine eigentlich das Gegenteil. Satz (1) zeigt ein Beispiel aus einer Bundestagsdebatte. In Satz (2) hingegen dürfen wir zwar wie schon beim obigen Kanzlerzitat von einer Abschwächung, aber nicht von Ironie ausgehen. Hier wird nicht unbegabt im Sinne von "ziemlich begabt" verwendet.

(1) Vor allem glaube ich, Herr ..., daß Sie am Ende in die gleichen Schwierigkeiten kommen wie ihr Vorvorgänger im Amt, der ja auch nicht unbegabt war. (Protokoll der Sitzung des Parlaments Deutscher Bundestag am 17.02.1967)
(2) Er ist rhetorisch nicht unbegabt und hat es gut verstanden, den Leuten etwas vorzugaukeln, beschreibt Inspektionskommandant ... den Kriminellen. (Nordkurier, 22.03.2014, S. 1)

Man hätte doch...

Eine doppelte Negation (mit aufhebender Wirkung der zweiten Negation) kann auch andeuten, dass es bei einer Entscheidung eventuell andere Möglichkeiten gegeben hätte, wie die Beispiele (3) und (4) aufzeigen:

(3) Das Haus wird aber nicht ungesegnet zurückgelassen. (St. Galler Tagblatt, 06.01.2009, S. 29)
(4) Der Star-Architekt dürfe nicht ungestraft einen Baustop missachten, hiess es. (St. Galler Tagblatt, 10.01.2009, S. 33)

Positive, negierte und doppelte negierte Formulierungen im quantitativen Vergleich

Anhand einer bekannten Redewendung untersuchen wir exemplarisch, wie oft sie positiv, einfach negiert oder doppelt negiert verwendet wird. Wenn wir im W-Archiv des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) mit über 13,3 Milliarden Wortformen nach Formulierungen mit den Wörtern kommt gelegen suchen, finden wir folgende Verteilung:

FormulierungHäufigkeit
kommt gelegen5.217
kommt nicht/nie gelegen456
kommt ungelegen 2.089
kommt nicht/nie ungelegen5.314

Die positive Formulierung kann — z.B. in den Beispielen (5) und (6) — mit weiteren Adverbien verstärkt oder auch abgeschwächt werden. Wir finden verstärkende Adverbien wie ganz, auch besonders, äußerst, sehr sowie abschwächende wie (wohl) etwas, manchmal:

(5) Ein Angebot, das der berufstätigen Mutter sehr gelegen kommt. (Braunschweiger Zeitung, 05.09.2012)
(6) Die chinesische Regierung schürt so einen dumpfen Nationalismus, der ihr manchmal gelegen kommt , aber nur schwer kontrollierbare, gefährliche Auswirkungen haben kann, wie die Ereignisse in Westchina zeigen. (Neue Zürcher Zeitung, 09.07.2009, S. 5)

Die einfach negierte Formulierung beinhaltet manchmal ebenfalls abschwächende und verstärkende Adverbien — siehe Beispiele (7) bis (9):

(7) Die Weltmeisterschaft, die am Montag beginnt, kommt ein wenig ungelegen. (Berliner Ztg., 16.03.2002, S. 40)
(8) Ein Gerät, das es den Zuschauern so einfach macht, Werbeeinblendungen zu umgehen, käme da denkbar ungelegen. (Berliner Ztg., 11.10.1999, S. 21)
(9) Der Uni kommt das äusserst ungelegen. (St. Galler Tagbl., 11.02.2009, S. 8)

Die doppelte Negation wird nach den obigen Zahlen zumindest im Fall von kommt gelegen ähnlich häufig verwendet wie die positive Formulierung; beide finden sich jeweils häufiger als die einfach negierten Formulierungen zusammengenommen. Betrachten wir einschlägige Belege, entdecken wir Sätze wie (10) bis (12). Wie beim Kanzlersatz oben zeigt sich, dass die zweite Negation für kommt gelegen nicht nur die erste Negation aufhebt, sondern eine Abschwächung der eigentlich positiven Aussage ausdrückt.

(10) Auch aussenpolitisch kommt Ahmadinejad der Krieg im Gaza-Streifen nicht ungelegen (St. Galler Tagblatt, 08.01.2009, S. 5)
(11) Hannovers Taktik schneller Gegenstöße kam das nicht ungelegen. (Braunschweiger Zeitung, 11.03.2013)
(12) Es spricht einiges dafür, dass der Flüchtlings-Skandal nicht ungelegen kommt, um jetzt in der Schanze die Muskeln spielen zu lassen. (MOPO, 17.10.2013, S. 2)

Bei doppelt verneinten Formulierungen von kommt gelegen finden wir überwiegend abschwächende Adverbien, siehe Beispiele (13) bis (15):

(13) Das kommt nicht wirklich ungelegen, wollte man die Zeitungsleser über die tatsächlichen, gigantischen Ausmaße der geplanten Anlage täuschen. (Braunschweiger Zeitung, 23.05.2006)
(14) Mit den Baustellen ruhen auch die Steinbrüche, aber das kommt nicht ganz ungelegen. (Rhein-Zeitung, 13.02.2017, S. 7)
(15) Diese «blöden» Niederlagen kamen nicht einmal so ungelegen. (Tages-Anzeiger, 28.12.2017, S. 27)

Weitere Beispiele für doppelte Negationen mit abschwächender Wirkung sind nicht ungeteilt, nicht unmittelbar, nicht ungefährlich, nicht unangenehm, oder auch nicht ungetrübt.

Achtung: Ausnahme

Nicht alles, was auf den ersten Blick nach doppelter Negation aussieht, ist auch wirklich eine solche. Betrachten wir nicht unbedingt in den Sätzen (16a) und (17a), dann stellen wir fest, dass eine Ersetzung durch bedingt die jeweiligen Aussagen nicht umkehrt. Stattdessen könnten wir das Wort unbedingt einfach weglassen, um eine positive Aussage zu erreichen, so wie es die Sätze (16b) und (17b) demonstrieren.

(16a) Wer die Schlosskonzerte besucht, muss nicht unbedingt schick gekleidet sein. (St. Galler Tagblatt, 10.01.2009, S. 33)
(16b) Wer die Schlosskonzerte besucht, muss nicht schick gekleidet sein.
(17a) Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch Pillen schluckt, die er nicht wirklich unbedingt benötigt. (Braunschweiger Zeitung, 23.12.2008)
(17b) Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch Pillen schluckt, die er nicht wirklich benötigt.

Hier zeigt sich beispielhaft eine der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Negationspartikel nicht. Sie bindet sich in diesen Beispielen nicht mit dem Adverbial unbedingt, sondern mit den prädikativen Adjektivphrasen schick gekleidet und benötigt. Also haben wir es hier gar nicht mit einer doppelten Negation zu tun.

Achtung: Missverständnis

Das Spiel mit der doppelten Negation birgt die Gefahr ungewollter Umkehrungen von Aussagen, so wie mutmaßlich im nachfolgenden Beleg:

(18) Es käme nur dann nicht zum Abstieg, wenn sich die prekäre finanzielle Situation der Lyoner bis Saisonende nicht deutlich verbessert. (kicker, "Transfersperre und provisorischer Zwangsabstieg für Lyon", 15.11.2024)

Fazit

Die doppelte Negation im Deutschen fungierte historisch als verstärkte Verneinung. Umgangssprachlich bzw. in manchen Dialekten ist das heute noch der Fall. Im zeitgenössischen Standard dagegen hebt die zweite Negation die erste semantisch wieder auf. Die doppelte Verneinung kann als Stilmittel ("Litotes") eingesetzt werden, um eine abgeschwächte positive Lesart zu erreichen, die getroffene Aussage kann dabei jedoch auch ironisch gemeint sein. Weiterhin kann mit der doppelten Negation ausgedrückt werden, dass es bei einer Entscheidung auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Manche Adverbien bzw. Adverbialphrasen zeigen diese Abschwächung an, wie in das kommt eher ungelegen. Aber nicht alles, was auf den ersten Blick danach aussieht, ist tatsächlich eine doppelte Negation. Und genau das macht sie als sprachliches Stilmittel spannend: Als komplexer Ausdruck sorgt sie für Aufmerksamkeit.

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Gertrud Faaß
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