Negation kehrt den Wahrheitswert einer Aussage um. Im Sinne von "Verneinung" bezieht sie sich dabei nicht immer und allein auf die Negationspartikel nicht. Im Sprachgebrauch treten außerdem negative Indefinitpronomen (wie niemand), negierte indefinite Artikel (wie kein oder ohne) oder negative Adverbien (wie nie) auf; vgl. Weiß 2017. Hinzu kommen noch morphologisch negierte Adjektive wie ungern - das Affix-Wörterbuch erläutert dies im Artikel über un-.
Mit Mehrfachnegation bezeichnen wir Situationen, in denen mehr als eine Negation auftritt. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um eine doppelte Negation, d.h. es treten genau zwei Verneinungen im Satz auf. Doppelte Negation im zeitgenössischen Deutsch bedeutet, dass die zweite Negation die erste semantisch aufhebt. Darüber hinaus gibt es jedoch noch weitere mögliche Funktionen der Mehrfachnegation, diese werden wir in den weiteren Abschnitten näher beschreiben.
In Karl Joseph Simrocks "Das deutsche Kinderbuch" (1800) finden wir auf Seite 52 den folgenden Gedichtabschnitt:
Auch hier handelt es sich um eine doppelte Negation, trotzdem verstehen wir: Melcher hat kein Pferdchen! Die Formulierung "kein X nicht" tritt nicht nur dort und bei einigen älteren christlichen Liedstücken auf (wie z.B. ...Es ist doch ja kein anderer nicht, der für uns könnte streiten von Martin Luther), sondern wird auch heute noch manchmal in der Umgangssprache verwendet (...kann sich kein Kind nicht leisten, das ist kein Witz nicht, er hat kein Klischee nicht bedient). Solche Formulierungen versteht man als Verstärkung der Verneinung.
Man kann mit doppelter Negation Aufmerksamkeit erregen: So hat Bundeskanzler Olaf Scholz 2023 bei der Eröffnung einer Chipfabrik in Jena gesagt: Sie sehen mich jetzt hier nicht als einen Menschen ohne Zuversicht. Es ging um das ablehnende Urteil des Verfassungsgerichts zur Haushaltspolitik der Regierung. Sie wollte u.a. die digitale Souveränität Deutschlands mit budgetierten Sondermitteln fördern, die eigentlich für andere Zwecke beschlossen worden waren. Herr Scholz kann so verstanden werden, dass er trotz dieses Urteils zumindest ein bisschen zuversichtlich ist, dass solche Förderungen möglich sein werden (siehe SZ Artikel vom 21.11.2023). Man könnte den Satz also so verstehen, dass die eigentlich positive Aussage (Der Kanzler hat Zuversicht) ein wenig abgeschwächt wird (Der Kanzler hat ein wenig Zuversicht).
Es ist ein übliches Stilmittel in der Politik, sogenannte "Litotes" (Krifka (2014), S. 257 ff.) einzusetzen: Man drückt sich etwas vorsichtiger, also abgeschwächt aus und ist dadurch weniger angreifbar und wenn z.B. ein Politiker behauptet, ein anderer Politiker sei "nicht unbegabt" könnte noch das Stilbild der Ironie hinzukommen: Der andere Politiker wird zwar als "begabt" bezeichnet, aber auf eine Art und Weise, die nahelegt, man meine das Gegenteil des Gesagten. Satz (1) zeigt ein Beispiel aus einer Bundestagsdebatte. Wie schon beim Kanzlersatz oben kann man in Satz (2) hingegen zwar von einer Abschwächung, aber eher nicht von Ironie ausgehen. Hier wird nicht unbegabt eher im Sinne von "ziemlich begabt" verwendet.
In der populären Musik werden doppelte Negationen gerne als Stilmittel verwendet: Unvergesslich für viele bleibt z.B. die deutsche Band "Ton Steine Scherben", die mit ihrem Song "Keine Macht für Niemand" 1972 einen großen Erfolg feierte. Wer diese Band noch kennt, weiß, dass sie anarchistisch argumentierte: In einer Anarchie sind alle Menschen für alle anderen verantwortlich und handeln entsprechend solidarisch, also braucht es auch niemanden, der Macht über andere ausübt (eine weitere Textzeile lautet daher auch: Keiner hat das Recht, Menschen zu regieren).
In Songtexten tritt die doppelte Negation immer mal wieder auf:
Eine doppelte Negation (mit aufhebender Wirkung der zweiten Negation) kann auch andeuten, dass es bei einer Entscheidung eventuell andere Möglichkeiten gegeben hätte, wie die Beispiele (3) und (4) aufzeigen:
Anhand einer bekannten Redewendung untersuchen wir exemplarisch, wie oft sie positiv, einfach negiert oder doppelt negiert verwendet wird. Wenn wir im W-Archiv des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) mit über 13,3 Milliarden Wortformen nach Formulierungen mit den Wörtern kommt gelegen suchen, finden wir folgende Verteilung:
Formulierung | Häufigkeit |
kommt gelegen | 5.217 |
kommt nicht/nie gelegen | 456 |
kommt ungelegen | 2.089 |
kommt nicht/nie ungelegen | 5.314 |
Wenn die positive Formulierung verwendet wird — z.B. in den Beispielen (5) und (6) — zeigt sich, dass sie mit weiteren Adverbien verstärkt oder auch abgeschwächt werden kann. Wir finden verstärkende Adverbien wie ganz, auch besonders, äußerst, sehr sowie abschwächende wie (wohl) etwas, manchmal.
Die einfach negierte Formulierung beinhaltet manchmal ebenfalls abschwächende und verstärkende Adverbien — siehe Beispiele (7) bis (9).
Die doppelte Negation wird nach den obigen Zahlen zumindest im Fall kommt gelegen viel häufiger verwendet als die positive Formulierung, diese ist wiederum häufiger als die beiden einfach negierten Formulierungen zusammen. Betrachten wir ein paar Beispiele, entdecken wir Sätze wie (10) bis (12). Wie beim Kanzlersatz oben zeigt sich, dass die zweite Negation für kommt gelegen nicht nur die erste Negation aufheben, sondern eine Abschwächung der eigentlich positiven Aussage ausdrückt.
Bei doppelt verneinten Formulierungen von kommt gelegen finden wir überwiegend abschwächende Adverbien, siehe Beispiele (13) bis (15).
Weitere Beispiele für doppelte Negationen mit abschwächender Wirkung sind nicht ungeteilt, nicht unmittelbar, nicht ungefährlich, nicht unangenehm, oder auch nicht ungetrübt.
Nicht alles, was auf den ersten Blick nach doppelter Negation aussieht, ist auch wirklich eine solche. Betrachten wir nicht unbedingt in den Sätzen (16a) und (17a), dann stellen wir fest, dass eine Ersetzung durch bedingt die jeweiligen Aussagen nicht umkehrt. Stattdessen könnten wir das Wort unbedingt einfach weglassen, um eine positive Aussage zu erreichen, so wie es die Sätze (16b) und (17b) demonstrieren.
Hier zeigt sich beispielhaft eine der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Negationspartikel nicht. Sie bindet sich in diesen Beispielen nicht mit dem Adverbial unbedingt, sondern mit den prädikativen Adjektivphrasen schick gekleidet und benötigt. Also haben wir es hier gar nicht mit einer doppelten Negation zu tun.
In einigen Sprachen ist die Mehrfachnegation — anders als im Deutschen — obligatorisch, bedeutet aber eine einfache Negation:
Fakultativ tritt die doppelte Negation heute noch in Dialekten des Deutschen auf, so z.B. im Bairischen, Schwäbischen und auch im Plattdeutschen:
Dialekt | Beispiel |
Bairisch | Mia hod koana koa Stickl Broad ned gschengt. |
Mir hat keiner kein Stück Brot nicht geschenkt | |
'Mir hat keiner ein Stück Brot geschenkt.' | |
(Weiß 1998:186) | |
Schwäbisch | I han koin Alkohol net drunga |
Ich habe keinen Alkohol nicht getrunken | |
'Ich habe (gar) keinen Alkohol getrunken' | |
Plattdeutsch | keen nix |
kein nichts | |
'(rein) gar nichts' | |
(SASS Plattdeutsche Grammatik) |
Mehr zur Verwendung der doppelten Verneinung als Verstärkung in Dialekten im südlichen deutschen Sprachraum findet man im Atlas der Alltagssprachen (kurz: AdA, in Kooperation von den Universitäten Salzburg und Liège erstellt).
Das Spiel mit der doppelten Negation birgt die Gefahr ungewollter Umkehrungen von Aussagen, so wie mutmaßlich im nachfolgenden Beleg:
Die doppelte Negation im Deutschen fungierte historisch als verstärkte Verneinung. In manchen Dialekten ist das heute noch der Fall. Im zeitgenössischen Standard dagegen hebt die zweite Negation die erste semantisch wieder auf. Die doppelte Verneinung kann als Stilmittel ("Litotes") eingesetzt werden, um eine abgeschwächte positive Lesart zu erreichen, die getroffene Aussage kann dabei jedoch auch ironisch gemeint sein. Weiterhin kann mit der doppelten Negation ausgedrückt werden, dass es bei einer Entscheidung auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Manche Adverbien bzw. Adverbialphrasen zeigen diese Abschwächung an, wie in das kommt eher ungelegen. Aber nicht alles, was auf den ersten Blick danach aussieht, ist tatsächlich eine doppelte Negation. Genau das ist es, was sie als sprachliches Stilmittel so spannend macht: Als komplexer Ausdruck sorgt sie für Aufmerksamkeit bei den Angesprochenen.