"Sie sehen mich jetzt hier nicht als einen Menschen ohne Zuversicht" — Mehrfachnegation

Für eilige Leser: Direkt zum Fazit

Der Begriff "Negation" im Sinne von "Verneinung" bezieht sich nicht immer und allein auf die Negationspartikel (nicht). Nach Weiß (2016) treten außerdem negative Indefinitpronomen (wie niemand), negierte indefinite Artikel (wie kein oder ohne) oder negative Adverbien (wie nie) als Negationen auf. Hinzu kommen noch morphologisch negierte Adjektive wie ungern (Das Affix-Wörterbuch erläutert dies im Artikel über un-).

Mit "Mehrfachnegation" bezeichnen wir Sätze, in denen mehr als eine Negation auftritt (siehe dazu auch in der Systematischen Grammatik. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um eine doppelte Negation, d.h. es treten genau zwei Verneinungen im Satz auf. Doppelte Negation im zeitgenössischen Deutsch bedeutet, dass die zweite Negation die erste semantisch aufhebt. Darüber hinaus gibt es jedoch noch weitere mögliche Funktionen der Mehrfachnegation, diese werden wir in den weiteren Abschnitten näher beschreiben.

In Karl Joseph Simrocks "Das deutsche Kinderbuch" (1800) finden wir auf Seite 52 den folgenden Gedichtabschnitt:

Unser Bruder Melcher,
der wollt ein Reiter werden,
hatt er doch kein Pferdchen nicht,
kann er keiner werden.

Auch hier handelt es sich um eine doppelte Negation, trotzdem verstehen wir: Melcher hat kein Pferdchen! Die Formulierung "kein X nicht" tritt nicht nur dort und bei einigen älteren christlichen Liedstücken auf (wie z.B. ...Es ist doch ja kein anderer nicht, der für uns könnte streiten von Martin Luther), sondern wird auch heute noch manchmal in der Umgangssprache verwendet (...kann sich kein Kind nicht leisten, das ist kein Witz nicht, er hat kein Klischee nicht bedient). Solche Formulierungen versteht man als Verstärkung der Verneinung.

Litotes

Man kann mit doppelter Negation Aufmerksamkeit erregen: So hat Bundeskanzler Olaf Scholz 2023 bei der Eröffnung einer Chipfabrik in Jena gesagt: Sie sehen mich jetzt hier nicht als einen Menschen ohne Zuversicht. Es ging um das ablehnende Urteil des Verfassungsgerichts zur Haushaltspolitik der Regierung. Sie wollte u.a. die digitale Souveränität Deutschlands mit budgetierten Sondermitteln fördern, die eigentlich für andere Zwecke beschlossen worden waren. Herr Scholz kann so verstanden werden, dass er trotz dieses Urteils zumindest ein bisschen zuversichtlich ist, dass solche Förderungen möglich sein werden (siehe SZ Artikel vom 21.11.2023). Man könnte den Satz also so verstehen, dass die eigentlich positive Aussage (Der Kanzler hat Zuversicht) ein wenig abgeschwächt wird (Der Kanzler hat ein wenig Zuversicht).

Es ist ein übliches Stilmittel in der Politik, sogenannte "Litotes" (Krifka (2014), S. 257 ff.) einzusetzen: Man drückt sich etwas vorsichtiger, also abgeschwächt aus und ist dadurch weniger angreifbar und wenn z.B. ein Politiker behauptet, ein anderer Politiker sei "nicht unbegabt" könnte noch das Stilbild der Ironie hinzukommen: Der andere Politiker wird zwar als "begabt" bezeichnet, aber auf eine Art und Weise, die nahelegt, man meine das Gegenteil des Gesagten. Satz (1) zeigt ein Beispiel aus einer Bundestagsdebatte. Wie schon beim Kanzlersatz oben kann man in Satz (2) hingegen zwar von einer Abschwächung, aber eher nicht von Ironie ausgehen. Hier wird nicht unbegabt eher im Sinne von "ziemlich begabt" verwendet.

(1) Vor allem glaube ich, Herr ..., daß Sie am Ende in die gleichen Schwierigkeiten kommen wie ihr Vorvorgänger im Amt, der ja auch nicht unbegabt war. (Protokoll der Sitzung des Parlaments Deutscher Bundestag am 17.02.1967)
(2) Er ist rhetorisch nicht unbegabt und hat es gut verstanden, den Leuten etwas vorzugaukeln, beschreibt Inspektionskommandant ... den Kriminellen. (Nordkurier, 22.03.2014, S. 1)

Doppelte Negation als Stilmittel in Songtexten

In der populären Musik werden doppelte Negationen gerne als Stilmittel verwendet: Unvergesslich für viele bleibt z.B. die deutsche Band "Ton Steine Scherben", die mit ihrem Song "Keine Macht für Niemand" 1972 einen großen Erfolg feierte. Wer diese Band noch kennt, weiß, dass sie anarchistisch argumentierte: In einer Anarchie sind alle Menschen für alle anderen verantwortlich und handeln entsprechend solidarisch, also braucht es auch niemanden, der Macht über andere ausübt (eine weitere Textzeile lautet daher auch: Keiner hat das Recht, Menschen zu regieren).

In Songtexten tritt die doppelte Negation immer mal wieder auf:

Was bessres wüsst ich schon, das ist auch dir nicht unbekannt [...]
(Element of Crime: "Alten Reste eine Chance", 1993, zitiert nach: songkorpus.de)
Ich möchte ja nicht unbescheiden sein [...] Ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen [...]
(Reinhard Mey: "Ich möchte!", 1994, zitiert nach: songkorpus.de)
Und wir, wir werden frei sein und doch nicht unverbunden [...]
(Tocotronic: "Mein Morgen", 2018, zitiert nach: songkorpus.de)

Man hätte doch...

Eine doppelte Negation (mit aufhebender Wirkung der zweiten Negation) kann auch andeuten, dass es bei einer Entscheidung eventuell andere Möglichkeiten gegeben hätte, wie die Beispiele (3) und (4) aufzeigen:

(3) Das Haus wird aber nicht ungesegnet zurückgelassen. ( St. Galler Tagblatt, 06.01.2009, S. 29 )
(4) Der Star-Architekt dürfe nicht ungestraft einen Baustop missachten, hiess es. ( St. Galler Tagblatt, 10.01.2009, S. 33 )

Positive, negierte und doppelte negierte Formulierungen im quantitativen Vergleich

Anhand einer bekannten Redewendung untersuchen wir exemplarisch, wie oft sie positiv, einfach negiert oder doppelt negiert verwendet wird. Wenn wir im W-Archiv des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) mit über 13,3 Milliarden Wortformen nach Formulierungen mit den Wörtern kommt gelegen suchen, finden wir folgende Verteilung:

FormulierungHäufigkeit
kommt gelegen5.217
kommt nicht/nie gelegen456
kommt ungelegen 2.089
kommt nicht/nie ungelegen5.314

Wenn die positive Formulierung verwendet wird — z.B. in den Beispielen (5) und (6) — zeigt sich, dass sie mit weiteren Adverbien verstärkt oder auch abgeschwächt werden kann. Wir finden verstärkende Adverbien wie ganz, auch besonders, äußerst, sehr sowie abschwächende wie (wohl) etwas, manchmal.

(5) "Uns kommt das ganz gelegen, so haben wir noch etwas mehr Zeit, uns weiter nach Kandidaten umzuschauen", sagt …. ( Braunschweiger Zeitung, 05.01.2013 )
(6) Ein Angebot, das der berufstätigen Mutter sehr gelegen kommt. ( Braunschweiger Zeitung, 05.09.2012 )

Die einfach negierte Formulierung beinhaltet manchmal ebenfalls abschwächende und verstärkende Adverbien — siehe Beispiele (7) bis (9).

(7) Die Weltmeisterschaft, die am Montag beginnt, kommt ein wenig ungelegen. (Berliner Ztg., 16.03.2002, S. 40)
(8) Ein Gerät, das es den Zuschauern so einfach macht, Werbeeinblendungen zu umgehen, käme da denkbar ungelegen. (Berliner Ztg., 11.10.1999, S. 21)
(9) Der Uni kommt das äusserst ungelegen. (St. Galler Tagbl., 11.02.2009, S. 8)

Die doppelte Negation wird nach den obigen Zahlen zumindest im Fall kommt gelegen viel häufiger verwendet als die positive Formulierung, diese ist wiederum häufiger als die beiden einfach negierten Formulierungen zusammen. Betrachten wir ein paar Beispiele, entdecken wir Sätze wie (10) bis (12). Wie beim Kanzlersatz oben zeigt sich, dass die zweite Negation für kommt gelegen nicht nur die erste Negation aufheben, sondern eine Abschwächung der eigentlich positiven Aussage ausdrückt.

(10) Auch aussenpolitisch kommt Ahmadinejad der Krieg im Gaza-Streifen nicht ungelegen ( St. Galler Tagblatt, 08.01.2009, S. 5 )
(11) Hannovers Taktik schneller Gegenstöße kam das nicht ungelegen. ( Braunschweiger Zeitung, 11.03.2013 )
(12) Es spricht einiges dafür, dass der Flüchtlings-Skandal nicht ungelegen kommt, um jetzt in der Schanze die Muskeln spielen zu lassen. ( MOPO, 17.10.2013, S. 2 )

Bei doppelt verneinten Formulierungen von kommt gelegen finden wir überwiegend abschwächende Adverbien, siehe Beispiele (13) bis (15).

(13) Das kommt nicht wirklich ungelegen, wollte man die Zeitungsleser über die tatsächlichen, gigantischen Ausmaße der geplanten Anlage täuschen. ( Braunschweiger Zeitung, 23.05.2006)
(14) Mit den Baustellen ruhen auch die Steinbrüche, aber das kommt nicht ganz ungelegen. ( Rheinzeitung, 13.02.2017, S. 7 )
(15) Diese «blöden» Niederlagen kamen nicht einmal so ungelegen. ( Tages-Anzeiger, 28.12.2017, S. 27 )

Weitere Beispiele für doppelte Negationen mit abschwächender Wirkung sind nicht ungeteilt, nicht unmittelbar, nicht ungefährlich, nicht unangenehm, oder auch nicht ungetrübt.

Achtung: Ausnahme

Nicht alles, was auf den ersten Blick nach doppelter Negation aussieht, ist auch wirklich eine solche. Betrachten wir nicht unbedingt in den Sätzen (16a) und (17a), dann stellen wir fest, dass wir hier eher keine positive Formulierung mit dem Wort bedingt erreichen. Stattdessen müssten wir das Wort unbedingt einfach weglassen, um eine positive Aussage zu erreichen, so wie es die Sätze (16b) und (17b) demonstrieren.

(16a) Wer die Schlosskonzerte besucht, muss nicht unbedingt schick gekleidet sein. ( St. Galler Tagblatt, 10.01.2009, S. 33 )
(16b) Wer die Schlosskonzerte besucht, muss nicht schick gekleidet sein.
(17a) Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch Pillen schluckt, die er nicht wirklich unbedingt benötigt. ( Braunschweiger Zeitung, 23.12.2008 )
(17b) Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch Pillen schluckt, die er nicht wirklich benötigt.

Hier zeigt sich beispielhaft eine der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Negationspartikel nicht. Sie bindet sich in diesen Beispielen nicht mit dem Adverbial unbedingt, sondern mit den prädikativen Adjektivphrasen schick gekleidet und benötigt. Also haben wir es hier gar nicht mit einer doppelten Negation zu tun.

Fundstücke: Andere Sprachen und deutsche Dialekte

In einigen Sprachen ist die Mehrfachnegation — anders als im Deutschen — obligatorisch, bedeutet aber eine einfache Negation:

  • Deutsch: Er kann das nicht tun.
  • Französisch: Il ne peut pas faire ça.
  • Afrikaans: Hy kann dit nie doen nie.
  • Russisch: Он не может этого сделат.

Fakultativ tritt die doppelte Negation heute noch in Dialekten des Deutschen auf, so z.B. im Bairischen, Schwäbischen und auch im Plattdeutschen:

DialektBeispiel
BairischMia hod koana koa Stickl Broad ned gschengt.
Mir hat keiner kein Stück Brot nicht geschenkt
'Mir hat keiner ein Stück Brot geschenkt.'
(Weiß 1998:186)
SchwäbischI han koin Alkohol net drunga
Ich habe keinen Alkohol nicht getrunken
'Ich habe (gar) keinen Alkohol getrunken'
Plattdeutsch keen nix
kein nichts
'(rein) gar nichts'
(SASS Plattdeutsche Grammatik)

Mehr zur Verwendung der doppelten Verneinung als Verstärkung in Dialekten im südlichen deutschen Sprachraum findet man im Atlas der Alltagssprachen (kurz: AdA, in Kooperation von den Universitäten Salzburg und Liège erstellt).

Fazit

Die doppelte Negation im Deutschen fungierte historisch als verstärkte Verneinung. In manchen Dialekten ist das heute noch der Fall. Im zeitgenössischen Standarddeutschen dagegen hebt die zweite Negation die erste semantisch wieder auf. Die doppelte Verneinung kann als Stilmittel ("Litotes") eingesetzt werden, um eine abgeschwächte positive Lesart zu erreichen, die getroffene Aussage kann dabei jedoch auch ironisch gemeint sein. Weiterhin kann mit der doppelten Negation auch ausgedrückt werden, dass es bei einer Entscheidung auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Manche Adverbien bzw. Adverbialphrasen zeigen diese Abschwächung an, wie in das kommt eher ungelegen. Aber nicht alles, was auf den ersten Blick danach aussieht, ist auch wirklich eine doppelte Negation. Genau das ist es, was sie als Stilmittel der deutschen Sprache so spannend macht: Als komplexer Ausdruck sorgt sie für Aufmerksamkeit bei den Angesprochenen.

Zum Text

Schlagwörter
Autor(en)
Gertrud Faaß
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen