"Wer die Wahl hat, hat die Qual" meint – nicht ohne Häme – der Volksmund und hat dabei offenbar vor allem Fälle im Blick, in denen die Wahl unvermeidlich mit einer Entscheidung für eine der Möglichkeiten verbunden ist: Kopf oder Zahl, rechts oder links, auf oder ab. Doch, auch wenn Situationen, in denen Entscheidungen zu treffen sind, mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als solche, in denen einem die Entscheidung erspart bleibt, ist festzuhalten: Was mittels oder verknüpft wird, schließt sich nicht zwingend gegenseitig aus, wie ein Blick auf die folgenden Beispiele zeigt:
Im Allgemeinen bereiten einem solche Oder-Verknüpfungen wenig Probleme, weil im jeweils gegebenen Kontext klar genug ist, wie sie zu verstehen sind. Betrachtet man die Sätze jedoch ganz auf sich gestellt, zeigt sich, dass sie oft mehrdeutig sind. Das liegt daran, dass für Oder-Verknüpfungen, rein formal betrachtet, stets zwei Interpretationen möglich sind:
Logisch gesehen entsprechen beiden Lesarten von oder zwei verschiedene Operatoren, die verschiedene Auswirkungen auf den Wahrheitswert damit verbundener Aussagen haben.
Unterschieden werden die zweistelligen Funktoren (Junktoren) "¦" und "V", oft lateinisch als aut und vel bezeichnet. Die verschiedene Wirkung dieser beiden Funktoren lässt sich sehr gut in Form von Wahrheitswert-Tafeln beschreiben, in denen A und B für beliebige, von einander verschiedene Aussagen stehen, die ihrerseits die Wahrheitswerte W (wahr) oder F (falsch) haben können:
|
|
Das Deutsche kennt jedoch nur ein Oder und setzt ganz auf die klärende Kraft des jeweiligen Kontexts. Oft liegt es bereits in der Natur der angebotenen Alternativen, dass in Verbindung mit dem, was darüber gesagt wird, nicht beide Optionen zugleich wahrzunehmen sind:
Hinzu kommt, dass es grundsätzlich ausreichen muss, eine der Optionen zu wählen, denn wäre dies nicht so, hätte der Sprecher oder Schreiber anstelle der Oder-Verknüpfung eine Und-Verknüpfung wählen müssen. Für Fälle, in denen ausdrücklich festgehalten werden soll, dass auch beide Optionen gemeinsam verfügbar sind, stehen Floskeln wie oder auch Beides zur Verfügung:
Gleichsam als Folge der sachlichen Mehrdeutigkeit von Oder-Verknüpfungen kann sich unter bestimmten Bedingungen auch ein grammatischer Zweifelsfall ergeben: Oder-Verknüpfungen sieht man nicht an, ob man sich für eines zu entscheiden hat oder ob auch beides gemeinsam in Frage kommt. Das ist aus grammatischer Sicht unbedeutend, so lang diese Verknüpfung nicht das Subjekt eines Satzes bildet, doch, wenn sie die Position des Subjekts einnimmt, hat dies Auswirkungen auf die Numerus-Form, die das Verb anzunehmen hat, denn diese hängt davon ab, ob ein Subjekt im Singular (Einzahl) vorliegt oder eines im Plural (Mehrzahl).
In jedem Fall kann durch die Verwendung der Pluralform ausgeschlossen werden, dass nur das eine und nicht zugleich auch das andere in Frage kommt. Dies wiederum ist dann der Fall, wenn in Verbindung mit oder nur Bezeichnungsvarianten aufgeführt werden oder wenn sachliche Gründe dafür sprechen, dass in Verbindung mit dem gegebenen Prädikat nur eines in Frage kommt. Hier sollte man die Singularform wählen:
Dass es dabei nicht genügt, dass die in Verbindung gebrachten Gegenstände sich sachlich ausschließen, zeigen diese Beispiele:
Mehr als eine Faustregel kann dies freilich nicht sein, denn
Mit Blick auf die Daten, die in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache verfügbar sind, ist festzustellen, dass in dieser Frage — wie bei allen ernstlichen Zweifelsfällen — kaum eine eindeutig präferierte Verwendungsweise zu erkennen ist. Das mag manchen unbefriedigend erscheinen, weil sie es in Sachen Grammatik gern klar und eindeutig hätten, doch ist es unverkennbar Teil der Sprachwirklichkeit. Jede weiter gehende Festlegung bedürfte einer Rechtfertigung, die auf rein wissenschaftlicher Basis nicht zu leisten ist.