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"Wer die Wahl hat, hat die Qual" meint – nicht ohne Häme – der Volksmund und hat dabei offenbar vor allem Fälle im Blick, in denen die Wahl unvermeidlich mit einer Entscheidung für eine der Möglichkeiten verbunden ist: Kopf oder Zahl, rechts oder links, auf oder ab. Doch, auch wenn Situationen, in denen Entscheidungen zu treffen sind, mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als solche, in denen einem die Entscheidung erspart bleibt, ist festzuhalten: Was mittels oder verknüpft wird, schließt sich nicht zwingend gegenseitig aus, wie ein Blick auf die folgenden Beispiele zeigt:

Bei dem Temperament fliegt schon mal ein Turnschuh oder ein Goldkettchen durch die Luft.
[Mannheimer Morgen, 06.06.2000, Wie David Goliath austrickst]
Aber auch aus der Hauptsorte Blauburgunder werden dank verschiedener Kelterungsverfahren Spezialitäten gewonnen, beispielsweise Federweisse, Rosé, Barrique oder Eiswein.
[St. Galler Tagblatt, 23.11.2001, Ernte lässt guten Wein erwarten]
Der Regierende Bürgermeister Diepgen (CDU) hat eine Volksbefragung oder einen Volksentscheid über die Bildung eines gemeinsamen Landes Berlin-Brandenburg als »keineswegs ausgeschlossen« bezeichnet.
[die tageszeitung, 03.07.1991, S. 21]
Offen ist, ob bei Zielverfehlung der Bundesrat oder das Parlament für die Einführung der CO2-Abgabe zuständig sein soll.
[Züricher Tagesanzeiger, 20.02.1998, S. 9]

Im Allgemeinen bereiten einem solche Oder-Verknüpfungen wenig Probleme, weil im jeweils gegebenen Kontext klar genug ist, wie sie zu verstehen sind. Betrachtet man die Sätze jedoch ganz auf sich gestellt, zeigt sich, dass sie oft mehrdeutig sind. Das liegt daran, dass für Oder-Verknüpfungen, rein formal betrachtet, stets zwei Interpretationen möglich sind:

  • A oder B, nicht aber beides
  • A oder B oder auch beides

Logisch gesehen entsprechen beiden Lesarten von oder zwei verschiedene Operatoren, die verschiedene Auswirkungen auf den Wahrheitswert damit verbundener Aussagen haben.

Unterschieden werden die zweistelligen Funktoren (Junktoren) "¦" und "V", oft lateinisch als aut und vel bezeichnet. Die verschiedene Wirkung dieser beiden Funktoren lässt sich sehr gut in Form von Wahrheitswert-Tafeln beschreiben, in denen A und B für beliebige, von einander verschiedene Aussagen stehen, die ihrerseits die Wahrheitswerte W (wahr) oder F (falsch) haben können:

A¦B
WFW
WWF
FWW
FFF
AVB
WWW
WWF
FWW
FFF

Klärung durch Kontext

Das Deutsche kennt jedoch nur ein Oder und setzt ganz auf die klärende Kraft des jeweiligen Kontexts. Oft liegt es bereits in der Natur der angebotenen Alternativen, dass in Verbindung mit dem, was darüber gesagt wird, nicht beide Optionen zugleich wahrzunehmen sind:

Das Päckchen wird heute oder morgen eintreffen.

Hinzu kommt, dass es grundsätzlich ausreichen muss, eine der Optionen zu wählen, denn wäre dies nicht so, hätte der Sprecher oder Schreiber anstelle der Oder-Verknüpfung eine Und-Verknüpfung wählen müssen. Für Fälle, in denen ausdrücklich festgehalten werden soll, dass auch beide Optionen gemeinsam verfügbar sind, stehen Floskeln wie oder auch Beides zur Verfügung:

Energiesteuer oder Markteinführungshilfen oder beides zusammen kommen für die Bundesregierung dagegen nicht in Frage.
[die tageszeitung, 03.09.1988, S. 3]
Das kann nur Schicksal, Liebe oder beides sein.
[die tageszeitung, 20.02.1991, S. 31]

Gleichsam als Folge der sachlichen Mehrdeutigkeit von Oder-Verknüpfungen kann sich unter bestimmten Bedingungen auch ein grammatischer Zweifelsfall ergeben: Oder-Verknüpfungen sieht man nicht an, ob man sich für eines zu entscheiden hat oder ob auch beides gemeinsam in Frage kommt. Das ist aus grammatischer Sicht unbedeutend, so lang diese Verknüpfung nicht das Subjekt eines Satzes bildet, doch, wenn sie die Position des Subjekts einnimmt, hat dies Auswirkungen auf die Numerus-Form, die das Verb anzunehmen hat, denn diese hängt davon ab, ob ein Subjekt im Singular (Einzahl) vorliegt oder eines im Plural (Mehrzahl).

Welche Form soll man unter welchen Bedingungen wählen? Eine Faustregel könnte lauten: Wann immer man hinzufügen könnte: "oder beide(s)" oder auch "oder andere(s) mehr" kann man die Pluralform wählen:
Der Ehegatte oder die Familienangehörigen haften, wenn sie in das Mietverhältnis eingetreten sind, neben dem Erben für die bis zum Tode des Mieters entstandenen Verbindlichkeiten als Gesamtschuldner; im Verhältnis zu dem Ehegatten oder den Familienangehörigen haftet der Erbe allein.
[Bürgerliches Gesetzbuch, § 569a.3]
Michael Jackson oder Springsteen haben den kleineren Veranstaltern das Wasser abgegraben.
[die tageszeitung, 16.08.1988, S. 19]
Selbst funktionelle Kernspintomographie oder Positronen-Emissions-Tomographie können die neurobiologischen "Korrelate" geistiger Vorgänge nicht mit ausreichender zeitlicher und räumlicher Auflösung sichtbar machen.
[Berliner Zeitung, 04.03.2002, Ressort: Feuilleton; Die Evolution im Kopf, S. 16]

In jedem Fall kann durch die Verwendung der Pluralform ausgeschlossen werden, dass nur das eine und nicht zugleich auch das andere in Frage kommt. Dies wiederum ist dann der Fall, wenn in Verbindung mit oder nur Bezeichnungsvarianten aufgeführt werden oder wenn sachliche Gründe dafür sprechen, dass in Verbindung mit dem gegebenen Prädikat nur eines in Frage kommt. Hier sollte man die Singularform wählen:

Die Enzymologie oder die Technik der biokatalysatorischen Reaktionen ist also ebenfalls eine etablierte Technologie, die seit vielen Jahren angewandt wird.
[ Hansgeorg Gareis: Anwendungsfelder und wirtschaftliche Bedeutung der Biotechnologie, 1987]
Bettet man eine Kugel zwischen zwei Folien in Öl ein, kann man sie mit einem elektrischen Feld so drehen, dass entweder Schwarz oder Weiß nach oben zeigt.
[Berliner Zeitung, 08.09.2005, S. 17]
Weil die Zahlen 6 bis 18 auf dem Zeitenring schwarz unterlegt sind, soll der Träger auf einen Blick feststellen, ob dort gerade Tag oder Nacht herrscht.
[Frankfurter Allgemeine, 1993]

Dass es dabei nicht genügt, dass die in Verbindung gebrachten Gegenstände sich sachlich ausschließen, zeigen diese Beispiele:

Doch sind Sieg oder Niederlage in einem Testspiel für den Nationalcoach überhaupt von Belang?
[St. Galler Tagblatt, 28.04.1999, Ohne Trainingsspiele keine Chance]
Tag oder Nacht waren die beiden möglichen Parameter, eine Dämmerung gab es nicht.
[spektrumdirekt, 10.06.1999, Bei anderem Licht besehen]

Mehr als eine Faustregel kann dies freilich nicht sein, denn

  • zum einen wird man — insbesondere als Hörer oder Leser — oft genug nicht entscheiden können, ob man die genannten Floskeln hinzufügen könnte bzw. ob wirklich nur eines in Frage kommt,
  • zum andern kann man als Sprecher bzw. Schreiber nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Adressaten erkennen, dass man dieser Regel folgt. Umgekehrt kann man als Hörer oder Leser nicht unbedingt davon ausgehen, dass eine gegebene Textpassage nach dieser Regel abgefasst wurde.

Fazit

Mit Blick auf die Daten, die in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache verfügbar sind, ist festzustellen, dass in dieser Frage — wie bei allen ernstlichen Zweifelsfällen — kaum eine eindeutig präferierte Verwendungsweise zu erkennen ist. Das mag manchen unbefriedigend erscheinen, weil sie es in Sachen Grammatik gern klar und eindeutig hätten, doch ist es unverkennbar Teil der Sprachwirklichkeit. Jede weiter gehende Festlegung bedürfte einer Rechtfertigung, die auf rein wissenschaftlicher Basis nicht zu leisten ist.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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