Klaus Harpprecht schließt seinen Artikel »Narrenschlacht. Das Deutsche soll rein sein« in der »Zeit« mit folgendem Absatz ab: "Die Eindeutscher sind die eigentlichen Sprachverkrüppler. Sie werden ihre Narrenschlacht verlieren wie die französischen Vorbilder. Bundestagspräsident Thierse wird seine nächste Rede kaum in der Sprache Walthers von der Vogelweide halten." (Die Zeit, 22.02.2001, S. 47)
Ich lese die sarkastischen Bemerkungen zum wieder grassierenden und nun gar in Berliner Kreisen Anklang findenden Sprachpurismus durchaus mit Sympathie, stocke aber bei der Sprache Walthers von der Vogelweide. Die genitivmarkierte Form Walthers und dann ein nachklappendes von der Vogelweide. Das entspricht nicht meinem Sprachgefühl. Auch die Sprachwissenschaftlerin lässt sich ja in einem ersten Angang von diesem Sprachorgan leiten, das immer mal wieder Anstoß nimmt. Niemandes Sprachgefühl ist freilich untrüglich oder verallgemeinerbar, aber ich nehme es ernst. Es kann hinweisen auf die knirschenden Scharniere im Sprachsystem, auf die aktuellen Baustellen in dem unendlichen Projekt »Deutsche Sprache«, an dem ich als Sprecherin beteiligt bin.
Die Flexion des Nomens und der Nominalphrase insgesamt ist zweifellos eine der grammatischen Baustellen, an denen sich besonders viel tut – stellt man dabei in Rechnung, dass das grammatische System insgesamt notwendigerweise resistenter ist gegenüber Neuerungen als etwa das lexikalische.
Konzentrieren wir uns also auf den unmittelbar einschlägigen Baustellenbereich: die Genitiv-Endung von Eigennamen (wie etwa Walther, Walter Scheel) im Gegensatz zu der Genitiv-Endung von Gattungsnamen (wie etwa Mann, Pferd, Tasche), und tragen wir erst die sicheren Bausteine zusammen.
Ein auffälliger Unterschied bei der Flexion ist:
Ein auffälliger Unterschied beim Ausbau der Phrasen ist:
Genitivendungen bei Eigennamen und bei Gattungsnamen sind also grundverschieden. Nun war das nicht immer so. Der Romantitel »Die Leiden des jungen Werthers« erinnert daran, dass noch in der Goethezeit um Attribute erweiterte Eigennamen »an sich selbst« eine Genitivmarkierung trugen oder tragen konnten.
Genitivmarkierung am Eigennamen, so schloss ich aus Punkt 2, verbietet den Ausbau des Eigennamens zu einer »normalen« Nominalphrase; Artikel und Attribute sind nicht zugelassen. Enthält eine aus mehreren Wortformen bestehende Nominalphrase einen genitivmarkierten Eigennamen, so muss es sich um einen komplexen Namen handeln, nicht etwa um eine »normale« Nominalphrase, wie etwa in Walter Scheels Sprache, der Roman Johann Wolfgang von Goethes, Götz von Berlichingens Burg usw. An diesen Beispielen lässt sich eine dritte Regularität erkennen:
Für Punkt 3 mag es eine funktionale Motivation geben: Hörer und Leser müssen, um Äußerungen zu verstehen, erkennen, wo ein komplexer Eigenname endet. Wenn für den Hörer die als letzte gehörte Wortform des Namens, bzw. für den Leser die am weitesten rechts stehende Wortform durch ihr Genitivsuffix die grammatische Funktion und gleichzeitig die Grenze des komplexen Eigennamens erkennbar macht, so ist das hilfreich.
Genau diese Regularitäten und meine weitergehenden Schlussfolgerungen aus ihnen nun ließen mich an der Korrektheit von die Sprache Walthers von der Vogelweide zweifeln. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten:
Aber natürlich war meine Annahme naiv, ein Zeit-Autor, dazu noch der Stilist Klaus Harpprecht, habe dazu noch in einem Artikel über unser gefährdetes Deutsch dem Deutschen mutwillig Gewalt angetan. Der Duden gibt Harpprecht Recht. In der Duden-Grammatik 1998, S. 246 heißt es:
Von mehreren Namen wird nur der letzte (Vor- oder Familienname) dekliniert:
Wie selbst überdurchschnittlich gut ausgebildete Sprachteilhaber mit solchen "Regeln" zurecht kommen könnten, scheint die Verfasser dieser Zeilen nicht ernstlich beschäftigt zu haben. Sie hätten sonst schwerlich übersehen können, dass sie damit mehr Probleme schaffen, als sie Lösungen anzubieten haben.
Hätte ich mich damit zufrieden geben, mein Sprachgefühl abschreiben und künftig häufiger und rechtzeitig im Duden nachschlagen sollen? Nun, ich ließ es darauf ankommen. Zunächst verschaffte ich mir einen Überblick zur Beleglage in den Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache.
Das Bild, das sich dabei ergab, war alles andere als einheitlich:
Walthers von der Vogelweide | 19 | Walther von der Vogelweides | 5 |
Hartmanns von Aue | 3 | Hartmann von Aues | 6 |
Wolframs von Eschenbach | 5 | Wolfram von Eschenbachs | 27 |
Hildegards von Bingen | 23 | Hildegard von Bingens | 45 |
Ottos von Habsburg | 16 | Otto von Habsburgs | 31 |
Herberts von Karajan | 0 | Herbert von Karajans | 237 |
Achims von Arnim | 0 | Achim von Arnims | 21 |
Heinrichs von Kleist | 3 | Heinrich von Kleists | 217 |
Johann Wolfgangs von Goethe | 0 | Johann Wolfgang von Goethes | 132 |
Recherchen durchgeführt am 22. 11. 2006
Dass gerade bei Namen mittelalterlicher Persönlichkeiten besonders häufig eine Genitivmarkierung am "Vornamen" zu finden ist, könnte auch damit im Zusammenhang stehen, dass in den — durchweg im Feuilleton auftretenden — einschlägigen Texten eben dieser Vorname als Kurzform überwiegt. So wird etwa auf Walther von der Vogelweide gleich zehn mal mittels Walther Bezug genommen, während kein einziges Mal von der Vogelweide in dieser Funktion verwendet wird. Auf Otto von Habsburg hingegen — immerhin einer Person der neueren Zeitgeschichte — finden sich in den Korpora des Instituts ganz vier Verweise mittels Otto, jedoch 61 Verweise mittels von Habsburg.
Zusätzlich startete ich eine kleine Umfrage unter meinen Kollegen, die sich mit ganz erstaunlicher und dankenswerter Bereitwilligkeit auf mein Ansinnen einließen.
Der Fragebogen enthielt neun Einzelbeispiele, die möglichst spontan im Hinblick auf ihre Akzeptabilität bewertet werden sollten. Die ersten vier umfassen die theoretisch möglichen Variationen zu die Sprache Walthers von der Vogelweide, die folgenden fünf spielen entsprechende Variationen mit dem einfachen Eigennamen Anna durch. Hier die Fragen und die statistische Auswertung der eingegangenen 53 ausgefüllten Fragebögen in folgender Tabelle:
xxxx | voll akzeptabel | geht einigermaßen | fragwürdig | inakzeptabel |
1. die Sprache Walthers von der Vogelweide | 35 66% | 11 21% | 5 9% | 2 4% |
2. die Sprache Walther von der Vogelweides | 13 24% | 4 8% | 16 30% | 20 38% |
3. Walthers von der Vogelweide Sprache | 4 8% | 6 11% | 19 36% | 24 45% |
4. Walther von der Vogelweides Sprache | 27 51% | 11 21% | 3 6% | 12 22% |
5. die Sprache Annas | 41 77% | 7 13% | 4 8% | 1 2% |
6. Annas Sprache | 53 100% | 0 0% | 0 0% | 0 0% |
7. die Sprache Annas aus Mannheim | 28 53% | 11 21% | 10 18% | 4 8% |
8. Annas aus Mannheim Sprache | 2 4% | 0 0% | 11 21% | 40 75% |
9. Anna aus Mannheims Sprache | 0 0% | 4 8% | 6 11% | 43 81% |
Die Auswertung der Beurteilung zunächst der ersten vier Beispiele bestätigt die Unsicherheit, was die Genitivmarkierung von Walther von der Vogelweide und Konsorten angeht.
Zwar votiert eine Mehrheit von 66% für die duden- und harpprechtkonforme Version die Sprache Walthers von der Vogelweide (kurz: Walthers-Variante). Aber immerhin 24% halten die Version die Sprache Walther von der Vogelweides (kurz: Vogelweides-Variante) für voll akzeptabel.
Eindeutiger ist die Haltung gegenüber den Versionen 3 und 4: Nur eine Minderheit von 8% kann sich mit der Walthers-Variante in Walthers von der Vogelweide Sprache anfreunden, die knappe Mehrheit von 51% hält die Vogelweides-Variante mit Walther von der Vogelweides Sprache für voll akzeptabel. Diese Asymmetrie kommt nicht von ungefähr: Das pränominale Attribut, der so genannte »sächsische« Genitiv ist in der Regel nicht durch nachgestellte Attribute erweitert. Auch Beispiel 8: Annas aus Mannheim Sprache wird von der großen Mehrheit der Befragten abgelehnt. Diese starke strukturelle Beschränkung erzwingt für die — knappe — Mehrheit auch bei pränominalem Walther von der Vogelweide eine Genitivmarkierung rechts außen und damit die Interpretation als komplexen Eigennamen. Dass eine derartige Ausweichstrategie – Genitivmarkierung rechts bei pränominalem Anna aus Mannheim und eine entsprechende Interpretation als komplexer Eigenname – gänzlich ausgeschlossen ist, zeigt eindrucksvoll die einhellige Ablehnung von Beispiel 9.
Eine Zwischenbemerkung zu den Anna-Beispielen: Einerseits bestätigen sie die in der Literatur postulierte Tendenz, nur noch den pränominalen s-Genitiv von Eigennamen als vollständig zeitgemäß zu akzeptieren, man vergleiche die Werte für Beispiel 6 gegenüber denen für Beispiel 5. Andererseits schießen aus meiner Sicht die Analysten über das Ziel hinaus, wenn sie die postnominale Verwendung schon abschreiben. Dagegen sprechen die doch recht hohen Sympathiewerte für die Sprache Annas. Ein Blick in die Korpora geschriebener Sprache zeigt außerdem, dass postnominale Eigennamen mit s-Genitiv dort gang und gäbe und mit Sicherheit aus strukturellen Gründen unverzichtbar sind, will man nicht auf von-Phrasen ausweichen. Man vergleiche etwa: alle Texte Wolfram von Eschenbachs gegenüber *Wolfram von Eschenbachs alle Texte oder Wolfram von Eschenbachs mediävale Texte gegenüber bedeutungsverschiedenem mediävale Texte Wolfram von Eschenbachs (vgl. Süddeutsche Zeitung 12. 06.1997, S. 24).
Auch die Duden-Grammatik will der Asymmetrie von prä- und postnominaler Verwendung und dem sich wandelnden Sprachgebrauch Rechnung tragen. Dort heißt es im Anschluss an die oben zitierte Passage: "Steht jedoch der Ortsname unmittelbar vor dem dazugehörenden Substantiv, dann wird immer häufiger der Ortsname gebeugt:"
Etwas kryptisch fährt der Duden fort: "Die einfache Regel, dass dasjenige Wort gebeugt wird, das neben dem regierenden Wort steht, hat sich nicht durchsetzen können:"
Gebrauchsgrammatiken sollen und wollen den Sprechern und Schreibern Hilfestellung leisten, gerade dort, wo Unsicherheiten bestehen. Bis zu einem gewissen Grad nehmen die Sprecher, und vor allem die Schreiber, dies zeigen Korpusbelege und Umfrage, die Hinweise an. Andererseits aber, so scheint es, folgen sie ihrem Sprachgefühl mehr als jeder »einfachen« Regel, die ihnen von wohlmeinenden Helfern präsentiert wird.
Grammatikanalysten und -theoretiker wollen und sollen ergründen, warum Unsicherheiten bestehen, wohin wir tendieren, und wo es denn aller Voraussicht nach langgehen wird, wenn wir zu einer auf Zeit tragfähigen Konstruktion gelangen wollen. Lassen wir uns überraschen, welche Konstruktion sich herausmendeln wird.