Wo ist dem Opa seine Brille? — Zugehörigkeitsanzeige durch
Dativattribut
Fragen wie diese kann man in weiten Teilen Deutschlands nahezu täglich hören, und dies
keineswegs nur von mehr oder weniger bildungsfernen Sprechern, die des Genitivs nicht
mächtig wären. Dies ist umso bemerkenswerter, als Generationen von Lehrern und
Sprachkritikern sich mühten, der deutschen Sprachgemeinschaft den adnominalen Dativ — so die wissenschaftliche Bezeichnung
— auszutreiben. Erfolgreich war die Kritik nur insoweit, als es ihr gelang, diese
Form, Zugehörigkeit anzugeben, auf mündliche Alltagskommunikation einzuschränken.
Entsprechend finden sich zeitgenössische schriftliche Belege für diese Ausdruckform in aller
Regel nur, wo bewusst Alltagskommunikation wiedergegeben oder nachgemacht werden soll, um
die landsmannschaftlichen Bindungen der Akteure zu betonen:
Oben auf dem Betzenberg werden die Gäste um Franz Beckenbauer
und den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck im feinen Saal der Nordtribüne
stehen, sie werden hinunterschauen auf die Stadt und sagen: "Das ist dem Fritz sein
Wetter."
[Berliner Zeitung, 31.10.2000, S. 34]
Eine Schande ist das, wo doch die Fliegerei dem
Landesvater sein Hobby ist.
[die tageszeitung, 10.08.1988, S.
16]
Daß Bürgermeister Wedemeier am Mittwoch den Staatsakt für
Detlev-Carsten Rohwedder besuchte, gehört zu den Obliegenheiten eines Politikers ebenso wie
der heute stattfindende Auftritt von Senator Uwe Beckmeyer in der neuen Bratküche des
Fisch-Marketings in Bremerhaven oder die Anwesenheit von Umweltsenatorin Evi
Lemke-Schultebeim Geburtstagskaffee für Daimler Benz-Direktor Schreck-immerhin muß ihre
Behörde den bösen Onkels vom anderen Stern noch so manches Stück Umwelt für dem Niefer
sein klein' Häuschen schenken.
[die tageszeitung, 12.04.1991, S.
28]
Dem seine Muskeln solltest Du mal sehen, liebe
Mamma! Sie sind so dick wie meine Waden.
[Otto Julius Bierbaum, Stilpe.
Ein Roman aus der Froschperspektive. Deutsche Literatur von Luther bis
Tucholsky, S. 52624 www.digitale-bibliothek.de/band125.htm]
Abends kehrten wir in dem Nazi seine Höhle
zurück, wo wir uns die Nacht und den folgenden Tag der Ruhe, der stillen Betrachtung und dem
Genuß unserer Vorräte widmeten.
[Wilhelm Busch, Der Schmetterling.
Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 84265,
www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]
Für zehn Pfennige kann man im Blätterkino dem Maler
sein Modell bewundern, für Einsfuffzich ein Bärchen schießen.
[ die
tageszeitung, 14.07.1989, S. 26]
Sprachgeschichtliche Entwicklung
Obwohl diese Form der Besitzanzeige oder allgemein Zugehörigkeitsanzeige funktional den
als Standard akzeptierten pränominalen Genitivattributen —
Fritzens Wetter, dessen Muskeln,
Nazis Höhle — entspricht, handelt es sich dabei
keineswegs um ursprüngliche Genitivformen, an deren Stelle, wie etwa nach bestimmten
Präpositionen, eine Dativform getreten wäre. Die Entwicklung dieser Ausdrucksform mag durch
die Parallele zu pränominalen Genitivattributen gefördert worden sein, doch
sprachgeschichtliche Studien zeigen, dass es sich um echte Dativformen handelt, deren
zugehörigkeitsanzeigende Funktion sich, wie anzunehmen ist, einer veränderten Interpretation
ursprünglicher Dativkomplemente verdankt, was auch
erklärt, weshalb hier, anders als bei den entsprechenden Genitivattributen ein Possessiv-Artikel (sein-,
ihr-) auf das Attribut folgen muss, ohne den eine Bezeichnung von
Zugehörigkeit nicht zustande käme.
Legende: S - Satz, SatzAdv - Satzadverb,
N - Nomen, NP - Nominalphrase, Art - Artikel, ProP
- Pronominalphrase, DatAttr - Dativ-Attribut, V3 -
3-wertiges Verb
Wann und wieso es zu einer derartigen Umdeutung im Satzbau gekommen ist, lässt sich
nicht mit Sicherheit bestimmen. Eindeutige Belege finden sich nach Behaghel jedoch bereits
in Schriften aus dem 14. Jahrhundert:
meynthen deme riche syme slosze den bue und
befestenunge abezunemene, ...
[Friedbg. Urkb. 301 (1377). Zitiert nach Otto
Behaghel, Deutsche Syntax, Heidelberg 1923, § 449]
Hier ein Beleg aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts:
Dann als dem sein schandtlichen rhat nit
gefolgt ward, hat er sich auß grossem neid selbs erhencket.
[Georg Wickram (um
1505 – vor 1562): Der Goldtfaden. Deutsche Literatur von Luther bis
Tucholsky, S. 575798, http://www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]
Exakte Aussagen über die Häufigkeit von Dativattributen sind nicht möglich, da bei
Feminina Dativ und Genitiv nicht zu
unterscheiden sind. Man kann jedoch festhalten, dass Dativattribute schriftlich so gut wie
nicht vorkommen, wenn man einmal von Texten der oben aufgeführten Art absieht. Auch mündlich
werden sie vermieden, wo immer Sprecher darum bemüht sind, standardkonform zu reden. Im
täglichen Umgang allerdings werden sie in manchen Regionen selbst in formelleren Kontexten
wie Dienstbesprechungen häufig den Genitivformen vorgezogen und können dort gewissermaßen
als "Alltagsstandard" gelten.
Völlig konkurrenzlos in der Funktion als Anzeige sind Dativattribute in mehr oder
weniger stark dialektgeprägter Kommunikation, wenn Genitivformen überhaupt nicht existieren.
So kann man etwa im Schwäbischen der Stuttgarter Region hören:
Dia Däg haue am Karle sein Bruadr in Schtuagert
troffe.
Isch des deim Vadder sei Audo?
Dativattribute können in solchen Kontexten sogar Reihen bilden:
Des isch meim Freind seinera Muader ihrm Scheff seinera
Fra ihrm Ongel sei Haus.
Wie es dereinst zu einer Uminterpretation von Dativkomplementen zu Dativattributen
kommen konnte, lässt sich noch heute nachvollziehen, wenn man Sätze wie diese
betrachtet:
Das Bräutl soll heißen: Jungfrau Maria Kathrein Und soll
dem Lackenschusteranderl seine Hochzeiterin sein.
[Lena Christ,
Mathias Bichler. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 87155,
www.digitale-bibliothek.de/band125.htm ]
Wo noch vor wenigen Monaten Christdemokraten die Zukunft
Baden-Württembergs mit Bergen von Plastikmüll besiegelt hatten, schäumt jetzt das Bio -Bräu,
versorgen Solarzellen die Märklineisenbahn, erleichtert das Soja-Eis dem
Milchallergiker sein Los.
[die tageszeitung, 22.08.1988, S.
4]
Doch 1985 verweigerte die Behörde aus arbeitsmarktpolitischen
Erwägungen dem Lehrer sein Zubrot.
die tageszeitung, 19.10.1988, S.
18]
Und las dem Angeklagten sein sozialistisches
Sündenregister vor: asoziales Verhalten, mangelnde Arbeitsdisziplin, geringe
Verankerung im Kollektiv, Diebstahl...
[die tageszeitung, 08.06.1991, S.
29]
Was soll das verantwortungslose Gebrabbel eines unfähigen
Senators von einer Währungsreform, die dem Sparer sein Geld nimmt, um damit die
Schulden von 40 Jahren SPD-Mißwirtschaft zu bezahlen?
[die tageszeitung,
16.12.1991, S. 21]
Berlusconi warf einen schnellen Blick auf die mitgebrachten
Spickzettel, lehnte sich grinsend zurück und erzählte einen Witz: Auf einer Bootsfahrt fällt
dem Papst sein Brevier ins Meer.
[die tageszeitung, 15.08.1994,
S. 8]
Das Brevier, das dem Papst ins Wasser fällt, ist zweifellos nichts anderes als des
Papstes Brevier. Weil sich das Dativkomplement auf die Person bezieht, die auch mittels
sein als "Betroffener" der im folgenden genannten Sache oder Person
geführt wird, tritt keine entscheidende Informationsveränderung ein, wenn man —
anfänglich durchaus fälschlicherweise — das Dativkomplement als ein Dativattribut mit
possessiver Lesart auffasst. Zwar ist es keineswegs so, dass sein immer auf
dieselbe Person zu beziehen ist wie das Dativkomplement, doch, einmal als Möglichkeit
erkannt, ist die Voraussetzung für die Entstehung pränominaler Dativattribute gegeben.
Weitere Erklärungsversuche
Vielleicht ist der Übergang von Dativkomplement zu adnominalem Dativattribut so ähnlich
zu erklären wie das Kippen bei Bildern dieser Art:
Man sieht zunächst nur eine Struktur, doch — man weiß nicht wie —
plötzlich sieht man, was doch offenkundig ein und dasselbe ist, auf andere Weise.
Hermann Paul spricht in diesem Zusammenhang von einer
"Gliederungsverschiebung":
Anderen Ursprungs ist der Ersatz des Gen. durch den Dat.
mit Possessiv-Pron. Er beruht auf einer Gliederungsverschiebung. Der Dat. stand
ursprünglich in keiner direkten Beziehung zum Possessivpron., sondern war von einem
Verbum abhängig. Der Übergang läßt sich veranschaulichen an einem Satze wie er
hat dem Bürgermeister sein Haus angezündet. Hier könnte man dem
Bürgermeister noch von hat angezündet abhängig machen,
ebenso aber mit sein verbinden. Wann sich zuerst die Auffassung
verschoben hat, läßt sich nicht sicher feststellen. Heute ist diese Konstruktion in
volkstümlicher Rede der gewöhnliche Ersatz für den nicht mehr gebräuchlichen Gen. neben
Subst. (In den Mundarten, die den Dat. verloren haben, tritt dafür natürlich der Akk.
ein.) In die Literatur ist sie weniger eingedrungen als der Gen. mit Poss.-Pron.,
weshalb in zweifelhaften Fällen eher der Gen. als der Dat. vorauszusetzen ist. Einige
sichere Belege des Dat. dem 16. und 17. Jahrh. gibt Behaghel, „Der Gebrauch der
Zeitformen“ S. 49; jüngere: gegen dem seine Weisheit Le. (Dwb.),
Wie wird dem sein Herz seyn Nicolai, Notha. 2, 26, von
meinem Sohn seinen Wercken Frau Rat 234. 22, so ging es auch . . .
dem König von Barba seiner Braut Goe. (Dwb.), einem seine
Beiläuferin Hebel 194, 24, zu dem sein Sohn Raimund 1.
119, vor denen ihrem Spitz 0. Ludwig 2, 35.
[Hermann Paul,
Deutsche Grammatik, Halle 1916, Bd. 3, §241]
Otto Behaghel sieht hierin diesen Entwicklungsprozess:
Dieser Dat. hat sich in den Fällen herausgebildet, wo der
sympathetische Dat. unmittelbar neben der im Besitz befindlichen Größe stand; daß die
Zusammenfassung erfolgte, der Dat. in engere Beziehung zum Nomen als zum Verbum gebracht
wurde, ist die Folge des Umstands, daß ungefähr gleichwertig daneben die genitivische
Fügung stand: er hat meinem Vater seinen Hut genommen — er hat meines
Vaters Hut genommen.
[Otto Behaghel, Deutsche
Syntax, Heidelberg 1923, Bd. 1§ 448. 449]
Behaghels weitergehende Vermutung, dass die paralle Existenz einer genitivischen
Fügung eine notwendige Voraussetzung für die Ausbildung entsprechender
Dativfügungen war, ist weniger zwingend, denn von den seiner Meinung nach inexistenten
Formen ihm sein Hut, mir mein Hut kann nur die zweite wirklich
ausgeschlossen werden, und dies nicht, weil eine entsprechende Genitivform nicht
nachzuweisen ist, sondern weil hier bereits mit mein eine eindeutige
Besitzanzeige gegeben ist. Bei ihm sein ist dies nicht der Fall, weil
ihm und sein sich grundsätzlich auf verschiedene
Personen beziehen können, wie sich bei hier zeigt:
Er schenkte ihm sein Vertrauen.
Zugehörigkeitsanzeige durch adnominale Dativattribute ist so ungewöhnlich nicht, denn
schließlich erfolgen auch standardsprachlich Nennung und Erfragung von Besitzern oder Besitzerinnen ganz regulär in Form
einer dativischen Phrase:
Nach Schätzungen gehörenden Japanern im Pazifikraum und in Nordamerika schon 150 solcher Plätze mit
Hotels und Einkaufszentren.
[die tageszeitung, 19.10.1991, S. 27]
Am Montag war das Rätselraten groß gewesen: Wem
gehört der in München abgegebene Tippschein, mit dem der Jackpot geknackt wurde?
[Berliner Zeitung, 12.08.1998, S. 8]
In manchen Regionen Deutschlands kann anstelle von gehören auch
sein verwendet werden, um Besitzverhältnisse klarzustellen:
"Wem ist die Kerb?"
[Frankfurter
Rundschau, 03.07.1997, S. 15]
Finger weg! Das ist mir!
Weiterführende Literatur
Zifonun, Gisela (2003): Dem Vater sein Hut. Der Charme des Substandards und wie wir ihm gerecht werden . In: Deutsche Sprache. Zeitschrift für
Theorie, Praxis und Dokumentation 31 2. S. 97-126.
Zifonun, Gisela (2005): Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod.
Zur Analyse des adnominalen possessiven Dativs. In: D' Avis, Franz Josef (Hg.)
(2005): Deutsche Syntax. Empirie und Theorie. Symposium in Göteborg 13.-15. Mai
2004. Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis. S. 25-51. Print.