Erweiterung von Nominalphrasen mit Genitivattributen

Erweiterungen von Nominalphrasen mit Genitivattributen - meist Nominalphrasen im Genitiv, daneben die genitivischen Demonstrativ-Pronomina dessen (pränominal) und desselben/derselben (postnominal) - sind ebenso gängig wie in ihrer Wirkungsweise unspezifisch: Allein aus der Tatsache, dass ein Genitivattribut zur Erweiterung eingesetzt wird, kann man nur erschließen, dass zwischen dem Denotat des Bezugsnomens und dem Denotat des Genitivattributs ein irgendwie gearteter Zusammenhang besteht. Da dieser Zusammenhang im gegebenen Fall mal so und mal so gesehen werden kann, hat man Genitivattribute traditionell als ausgesprochen mehrdeutig betrachtet und eine Vielzahl von Genitiven unterschieden.

Wirklich zu unterscheiden sind nicht die Attribute selbst, sondern die syntaktischen und semantischen Verbindungen, die sie eingehen können, und diese werden nicht von den Attributen bestimmt, sondern von den Nomina, zu denen sie als Attribute treten. Das wird deutlich, wenn man ein und dieselbe Genitiv-Phrase mit verschiedenen Nomina verbindet:

der Rat des Vatersverstanden wieder Rat, den der Vater gibt
der Wagen des Vatersverstanden wieder Wagen, der dem Vater gehört
die Entlassung des Vatersverstanden wiedie Entlassung , die den Vater betraf
die Bücher des Vatersverstanden wiedie Bücher, die der Vater geschrieben hat

Die Interpretationen, die hier jeweils gegeben werden, sind bei weitem nicht die einzig möglichen, aber sie sind in jedem Fall möglich, und untereinander hinreichend verschieden, um deutlich zu machen, dass die verschiedenen Deutungen nicht auf das Attribut selbst zurückzuführen sind.

Erweiterungen von Nominalphrasen mit Genitivattributen können pränominal und postnominal vorgenommen werden, wie diese Beispiele zeigen:

pränominal:

Des großen Manitus Worte waren schließlich ganz allgemein geblieben, wie es einem konservativen, parteiübergreifenden Präsidenten gebührt.
(Berliner Zeitung, 15.11.1997, S. 4)
Das war also unmittelbar nach dem Tode Ziesemers, dessen großes Lebenswerk nun zugrundegegangen war.
(FKO/XAE.00000)
In ihrem gelungenen Buch untersuchen sie nicht nur Archimedes' Waschwanne, sondern auch Newtons Apfel, Schrödingers Katze, Kekulés Schlange oder den Schmetterlingseffekt.
(Die Zeit, 17.10.1997, Nr. 43, S. 46)
Des Menschen Ausgang aus seiner "selbst verschuldeten Unmündigkeit" sei Aufklärung, schrieb Kant vor rund 200 Jahren.
(Berliner Zeitung, 03.04.2000, S. 18)

postnominal:

Ein Ablauf, der es nicht nur erlaubt, sondern mit sich bringt, dass man 80 Prozent der Zeit nichts zu tun hat, drängt die Frage nach dem Sinn desselben auf.
(Vorarlberger Nachrichten, 18.05.2000, S. C10)
Die Argumentation der WiedervereinigungskritikerInnen darauf zu reduzieren, ist eine bösartige Verflachung derselben.
(die tageszeitung, 12.02.1990, S. 18)
Wir laden Sie heut' in die Welt der Kurven und Maße, zu entschleiern vor Ihrem Kennerblick die Geburtsstunde der Physik. Sie sehen das Leben des großen Galileo Galilei, den Kampf des Fallgesetzes mit dem Gracias Dei, der Wissenschaft mit der Obrigkeit an der Schwelle einer neuen Zeit.
(Berliner Ensemble, Bertold Brecht: Das Leben des Galilei)

Pränominale und postnominale Genitivattribute unterscheiden sich formal in zweifacher Hinsicht:

  1. Pränominale Genitivattribute sind stets in maximaler Entfernung vor zu attribuierenden Nomen zu positionieren:
    • des Kaisers Kleider
    • des Kaisers neue Kleider
    • des Kaisers neue, von Armani entworfene Kleider
    • des Kaisers von Armani entworfene, schon etwas in die Jahre gekommene Kleider
    • des Kaisers von Armani entworfene, schon etwas in die Jahre gekommene, aber immer noch ansehnliche Kleider
    Sie wirken dabei gewissermaßen als Artikelersatz, denn sie blockieren das Auftreten eines Phrasen einleitenden Artikels, ohne sich allerdings wie ein Artikel auf die Flexion nachfolgender Adjektiv-Attribute auszuwirken:
    • mit einem neuen Wagen
    • mit dem neuen Wagen
    • mit Vaters neuem Wagen
  2. Ein postnominales Genitivattribut blockiert Phrasen einleitende Artikel nicht. Es steht - von Erweiterungsnomina abgesehen - immer unmittelbar rechts vom Kopfnomen, auf das es bezogen ist. Dabei lässt es rechts von sich nur dann ein weiteres Attribut zu, wenn dieses nicht als Attribut zum Attribut aufgefasst werden kann. Folgt auf ein Genitivattribut ein weiteres Attribut fungiert, ist die erste Option stets, das zweite Attribut auf die nominale Komponente des ersten zu beziehen und nicht über dieses hinweg auf dessen Bezugsnomen, also so:



    und nicht so:



    Zwingend ist dies allerdings nur, wenn das zweite Attribut auch ein Genitivattribut ist:



    Bei anderen postnominalen Attributen kann das dem Genitivattribut folgende Attribut auch auf den nominalen Kopf der gesamten Phrase bezogen werden. Bei der Interpretation solcher Phrasen gilt jedoch das Prinzip, dies nur dann zu tun, wenn dies sachlich plausibler scheint als ein Bezug auf den Kopf des vorangehenden Attributs. Ein solcher Fall liegt etwa hier vor:



    Ganz ohne sachliche Erwägungen kann von einer solchen Abfolge von Interpretationsschritten ausgegangen werden, wenn
    1. das zweite Attribut ein Relativsatz ist, der durch ein Relativ-Element eingeleitet wird, das in Numerus und Genus mit dem Kopf der gesamten Phrase korrespondiert, nicht aber mit dem Kopf des vorangehenden Genitivattributs:



    2. das zweite Attribut ein Komplementausdruck ist, der nur Komplement zum Kopf der gesamten Phrase sein kann:



Eine Erweiterung von Nominalphrasen mit einem Genitivattribut wirkt stets restriktiv, eine Eigenschaft, die auch ausdrucksseitig als Beschränkung wirksam wird: Nominalphrasen im Genitiv sind als Attribute nur bei Nominalphrasen zulässig, deren Bedeutung prinzipiell eine Restriktion zulässt, also nicht bei Eigennamen und anderen artikellos gebrauchten Individuenbezeichnungen:

  1. *Heidelberg der sechziger Jahre
  2. *Lothar Margits
  3. ?Gott der Christen
  4. ?Mutter zweier Söhne

Die beiden letztgenannten Ausdrucksformen sind nicht wirklich in jeder Verwendung inakzeptabel. Sie können als Formen der Anrede verwendet werden, wirken dann allerdings reichlich antiquiert.

In jedem Fall kann festgehalten werden, dass Genitivattribute, da stets restriktiv, immer als N-Supplemente zu interpretieren sind.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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