Ein Glas Wein oder ein Glas Weines? — Maßkonstruktionen
Die Antwort auf diese Frage fällt hier und heute eindeutig aus: Es heißt ein
Glas Wein, nicht ein Glas Weines. Dafür sprechen eindeutige
Zahlen aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo):
ART (ADJ) Glas Wein | ART (ADJ) Glas Wein(e)s |
35.529 Belege | 27 Belege |
Daran ändert sich nahezu nichts, wenn man weitere typische Maßangaben einbezieht:
ART (ADJ) Liter Bier | ART (ADJ) Liter Bier(e)s |
2.671 Belege | 4 Belege |
ART (ADJ) Tasse Tee | ART (ADJ) Tasse Tee(e)s |
10.617 Belege | 1 Beleg |
ART (ADJ) Unze Gold | ART (ADJ) Unze Gold(e)s |
1.357 Belege | 1 Beleg |
Recherchiert wurde im Deutschen
Referenzkorpus (DeReKo) (Stand Dezember 2024) mit KorAP.
Der Suchausdruck [tt/p=ART] [tt/p=ADJA]? Glas Weines findet beispielsweise Belege wie ein Glas Weines oder des gewohnten Glas Weines:
bestimmte oder unbestimmte Artikel, optional gefolgt von einem Adjektiv, vor der Wortfolge Glas Weines.
Die Variante, bei der die gemessene Substanz in Form eines Genitivattributs angegeben wird, tritt dermaßen selten auf, dass
man sie aus heutiger Sicht als simplen Fehler abtun könnte. Tatsächlich handelt es sich
jedoch nicht einfach um einen Fehler, sondern um Reste eines früheren Sprachgebrauchs,
weshalb die entsprechenden Formen auch weniger falsch als reichlich antiquiert
wirken.
Hier einige Belege zum Raummaß Fuder — die ältesten reichen zurück bis
ins Spätmittelalter:
swelch unser burgere me bruwit zu eyme iare den zwenzik vudir
birs, der gibt vier marke dem rate
(Datierung: 1300. Neue
Mitteilungen aus dem Gebiete historisch-antiquarischer Forschungen im Namen des mit der
Königl. Universität Halle-Wittenberg verbundenen Thüringisch-Sächsischen Vereins für
Erforschung des Vaterländischen Alterthums und Erhaltung seiner Denkmale 3,1
(1836) S. 69)
das torf ze F. gut ze stúre bi dem meisten 9 fuder wins, 13
(pfund), zem minsten 7 fuder wins und 11 (pfund)
(Datierung: 1306. Das
Habsburgische Urbar I 11)
ein fuder wins, das sint 22 amen
(Datierung: 1464.
Rappoltsteinisches Urkundenbuch. Quellen zur Geschichte der ehemaligen
Herrschaft Rappoltstein im Elsass. IV 333)
In jener Nacht sie wurden eins:
Vier Fuder Bacharacher
Weins
Der Ruprecht seinem Kaiser gab,
Dafür die Krone trat
ihm ab
Der Wenzel als ein Weiser.
So ward der Kurfürst
Kaiser.
(Leopold Jacoby: Es werde Licht. Deutsche Literatur von
Luther bis Tucholsky, S. 289459. Erstdruck: Berlin 1871)
Auch wenn diese Form der Maßangabe vorzeiten durchaus verbreitet war, so stand sie schon
früh in Konkurrenz zu der heute allein gängigen Form:
giltet fur den zins 5 fuder win Boznere
maze
(Datierung: 1288. Meinhards II. Urbare der Grafschaft Tirol
von O. v. Zingerle. Wien: Tempsky)
bey jedem Teil wurden V Fuder Meel / IV Fuder Wein
/ und VI Fuder Fleisch und Fische / nebest 6000 Kronen wert silbern
Münze geleget / solches alles unter die Armut in den dreyen Städten / weß Glaubens sie auch
seyn möchten / außzuteilen.
(Andreas Heinrich Buchholtz: Des Christliche
Teutschen Herkules [...] Wunder-Geschichte. Deutsche Literatur von Luther bis
Tucholsky, S. 74662. Erstdruck: Zilliger, Braunschweig 1659/60)
Dass nicht etwa nur verschiedene Schreiber verschiedene Vorlieben hatten, wenn sie
Maßangaben machten, zeigen die folgenden Beispiele, beide aus derselben — Goethes! —
Feder:
Liebes Mädchen! Ein Glas schäumenden Weines
herbei.
(Johann Wolfgang von Goethe: Epigramme. Venedig
1790. Werke, S. 1519)
Ein Glas Wein schmeckt auf so einen Strauß.
(Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen
Hand. 1773. Werke, S. 2958)
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dann, dass die Variation, wie sie hier bei Goethe
festzustellen ist, durchaus System hat. Während bei "nackten" Maßangaben die Form
Mengenangabe + Substanzangabe mittels unflektiertem Nomen bevorzugt wird, geben Schreiber
auch heutzutage noch die Substanz gern in Form eines Genitivattributs an, wenn diese mittels
eines adjektivischen Attributs spezifiziert wird:
Der Gesamtkonsum verteilt sich auf 121 Mio. Liter
einheimischen und 174 Mio. Liter ausländischen Weines.
(St. Galler Tagblatt, 03.09.1999, Weniger Ertrag der
Kantonalbanken)
Wunderbarerweise kamen ein paar Dosen eiskalten Bieres aus
der Seite der Dreihals-Doppelkolben-Violine auf Rädern zum Vorschein.
(die
tageszeitung, 16.01.1989, S. 20-21)
Eine Meerschweinchenkeule bringt es auf 30 Gramm kräftigen und
mageren Fleisches.
(die tageszeitung, 10.12.1997, S. 20)
Die Eindrücke dieser Route lassen sich in Chamonix bei einem Glas
trockenen Weines aus Savoyen leichter verarbeiten.
(Vorarlberger
Nachrichten, 05.04.1997, In Chamonix genießt jeder auf seine Art)
Der Mann und die Frau, die damals anläßlich einer Feierlichkeit beim
Deutschen Entwicklungsdienst (DED) in Kladow aus Protest gegen die Mittelamerikapolitik
Warnkes ein Glas roter Farbe über den Minister gekippt hatten, waren unerkannt
entkommen.
(die tageszeitung, 04.07.1988, S. 17)
Auch wenn bei solchen Maßangaben die Substanzen häufiger in Form des Genitivattributs
aufgeführt werden, kann nicht davon die Rede sein, dass sie zur Regel geworden seien. Es
finden sich ebenso Belege für Maßangaben, bei denen die Substanzangabe denselben Kasus
annimmt wie die Nennung des Maßes:
Alles, woran sie denken konnten, war frische Luft und ein Glas
kaltes Wasser.
(die tageszeitung, 05.01.1991, S. 17)
Der Narr ist ein Buch für kalte Winterabende, zu lesen in einem
wohlgeheizten Raum, wenn es geht, vor einem lauschigen Kamin, noch besser vor einem irischen
Torffeuer, mit einem Glas irischem Whiskey in Reichweite.
(die
tageszeitung, 11.01.1992, S. 15)
Unentscheidbar bleibt die Art der Konstruktion logischerweise, wo die Maßangabe
insgesamt im Genitiv erfolgt:
Das Wohlbefinden und der gewisse Life-Style-Charakter dieser äußeren
Therapie wird durch eine "innere" Therapie in Form eines Glases Silberberger
Weines ergänzt.
(Kleine Zeitung, 03.12.2000, Heilsame
Kräfte)
Eine exemplarische, wenn auch sicher nicht repräsentative DeReKo-Suche nach den
Ausdruckssequenzen der Formen 'Flasche + Adjektiv +
Wein(e)s' und 'Flasche + Adjektiv +
Wein' erbrachte nur einen vergleichsweise geringen zahlenmäßigen Rückstand für die Form mit
adjektivischem Genitivattribut: 392 zu 524 (Stand 12/2024).
Die hier beobachtbare Annäherung gilt allerdings nur für schriftliche
Äußerungen. In mündlicher Rede hingegen wirken die Formen mit Genitivattribut oft wie ein
Ballkleid auf dem Jahrmarkt. Wer es nicht bewusst darauf anlegt, mit seiner Formulierung
Aufsehen zu erregen, ist gut beraten, diese Formen im Alltag eher zu vermeiden.