Ein Glas Wein oder ein Glas Weines? — Maßkonstruktionen
Die Antwort auf diese Frage fällt hier und heute eindeutig aus: Es heißt ein Glas Wein, nicht ein Glas Weines. Dafür sprechen eindeutige Zahlen:
| Glas Wein | Glas Wein(e)s |
Google: | ca. 4.500.000 | ca. 4.000 |
DeReKo: | 36.967 | 29 |
Daran ändert sich nahezu nichts, wenn man weitere typische Maßangaben einbezieht:
| Gramm Gold | Gramm Gold(e)s |
Google: | ca. 360.000 | ca. 150 |
DeReKo: | 2.675 | 0 |
| Liter Bier | Liter Bier(e)s |
Google: | ca. 425.000 | ca. 1.000 |
DeReKo: | 13.343 | 6 |
| Tasse Tee | Tasse Tees |
Google: | ca. 2.290.000 | ca. 1.200 |
DeReKo: | 11.050 | 1 |
Suchergebnisse vom 08. Februar 2024
Die Variante, bei der die gemessene Substanz in Form eines Genitivattributs angegeben wird, tritt dermaßen
selten auf, dass man sie aus heutiger Sicht als simplen Fehler abtun könnte. Tatsächlich handelt es
sich jedoch nicht einfach um einen Fehler, sondern um Reste eines früheren Sprachgebrauchs, weshalb
die entsprechenden Formen auch weniger falsch als reichlich antiquiert wirken.
Hier einige Belege zum Raummaß Fuder —
die ältesten reichen zurück bis ins Spätmittelalter:
swelch unser burgere me bruwit zu eyme iare den zwenzik
vudir birs, der gibt vier marke dem rate
[Datierung: 1300. Neue Mitteilungen aus dem Gebiete historisch-antiquarischer Forschungen im Namen des mit der Königl. Universität Halle-Wittenberg verbundenen Thüringisch-Sächsischen Vereins für Erforschung des Vaterländischen Alterthums und Erhaltung seiner Denkmale 3,1 (1836) S. 69]
das torf ze F. gut ze stúre bi dem meisten 9 fuder
wins, 13 (pfund), zem minsten 7 fuder wins und 11 (pfund)
[Datierung: 1306. Das Habsburgische Urbar I 11]
ein fuder wins, das sint 22 amen
[Datierung: 1464. Rappoltsteinisches Urkundenbuch. Quellen zur Geschichte der ehemaligen Herrschaft Rappoltstein im Elsass. IV 333]
In jener Nacht sie wurden eins:
Vier Fuder
Bacharacher Weins
Der Ruprecht seinem Kaiser gab,
Dafür die Krone trat
ihm ab
Der Wenzel als ein Weiser.
So ward der Kurfürst Kaiser.
[Leopold
Jacoby: Es werde Licht. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky, S. 289459. Erstdruck: Berlin 1871]
Auch wenn diese Form der Maßangabe vorzeiten durchaus verbreitet war, so stand sie schon früh in Konkurrenz zu der heute allein gängigen Form:
giltet fur den zins 5 fuder win Boznere
maze
[Datierung: 1288. Meinhards II. Urbare der Grafschaft Tirol von O. v. Zingerle. Wien: Tempsky]
bey jedem Teil wurden V Fuder Meel / IV
Fuder Wein / und VI Fuder Fleisch und Fische / nebest 6000 Kronen wert
silbern Münze geleget / solches alles unter die Armut in den dreyen Städten / weß Glaubens sie auch
seyn möchten / außzuteilen.
[Andreas Heinrich Buchholtz: Des Christliche
Teutschen Herkules [...] Wunder-Geschichte. Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky,
S. 74662. Erstdruck: Braunschweig (Zilliger) 1659/60]
Dass nicht etwa nur verschiedene Schreiber verschiedene Vorlieben hatten, wenn sie
Maßangaben machten, zeigen die folgenden Beispiele, beide von derselben — Goethes! — Feder:
Liebes Mädchen! Ein Glas schäumenden Weines
herbei.
[Johann Wolfgang von Goethe: Epigramme. Venedig 1790.
Werke, S. 1519.]
Ein Glas Wein schmeckt auf so einen Strauß.
[Werke: Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Werke, S. 2958]
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dann, dass die Variation, wie sie hier bei Goethe
festzustellen ist, durchaus System hat. Während bei "nackten" Maßangaben die Form Mengenangabe +
Substanzangabe mittels unflektiertem Nomen
bevorzugt wird, geben Schreiber auch heutzutage noch die Substanz gern in
Form eines Genitivattributs an, wenn diese mittels eines adjektivischen Attributs spezifiziert
wird:
Der Gesamtkonsum verteilt sich auf 121 Mio. Liter
einheimischen und 174 Mio. Liter ausländischen Weines.
[St.
Galler Tagblatt, 03.09.1999, Weniger Ertrag der Kantonalbanken]
Wunderbarerweise kamen ein paar Dosen eiskalten
Bieres aus der Seite der Dreihals-Doppelkolben-Violine auf Rädern zum
Vorschein.
[die tageszeitung, 16.01.1989, S. 20-21]
Eine Meerschweinchenkeule bringt es auf 30 Gramm
kräftigen und mageren Fleisches.
[die tageszeitung, 10.12.1997, S.
20]
Die Eindrücke dieser Route lassen sich in Chamonix bei einem
Glas trockenen Weines aus Savoyen leichter verarbeiten.
[Vorarlberger
Nachrichten, 05.04.1997, In Chamonix genießt jeder auf seine Art]
Der Mann und die Frau, die damals anläßlich einer
Feierlichkeit beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) in Kladow aus Protest gegen die
Mittelamerikapolitik Warnkes ein Glas roter Farbe über den Minister gekippt hatten,
waren unerkannt entkommen.
[die tageszeitung, 04.07.1988, S. 17]
Auch wenn bei solchen Maßangaben die Substanzen häufiger in Form des Genitivattributs
aufgeführt werden, kann nicht davon die Rede sein, dass sie zur Regel geworden seien. Es finden
sich ebenso Belege für Maßangaben, bei denen die Substanzangabe denselben Kasus annimmt wie die
Nennung des Maßes:
Alles, woran sie denken konnten, war frische Luft und
ein Glas kaltes Wasser.
[die tageszeitung, 05.01.1991, S. 17]
Der Narr ist ein Buch für kalte Winterabende, zu lesen in
einem wohlgeheizten Raum, wenn es geht, vor einem lauschigen Kamin, noch besser vor einem irischen
Torffeuer, mit einem Glas irischem Whiskey in Reichweite.
[die tageszeitung,
11.01.1992, S. 15]
Unentscheidbar bleibt die Art der Konstruktion logischerweise, wo die Maßangabe insgesamt
im Genitiv erfolgt:
Das Wohlbefinden und der gewisse Life-Style-Charakter dieser
äußeren Therapie wird durch eine "innere" Therapie in Form eines Glases Silberberger
Weines ergänzt.
[Kleine Zeitung, 03.12.2000, Heilsame Kräfte]
Eine exemplarische, wenn auch sicher nicht repräsentative Suche nach den Ausdruckssequenzen der Formen 'Flasche + Adjektiv + Weines' und
'Flasche + Adjektiv + Wein' im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) erbrachte nur einen vergleichsweise geringen zahlenmäßigen Rückstand für die Form mit Genitivattribut: 379 zu 508 (Stand 02/2024).
Die hier beobachtbare Annäherung gilt allerdings nur für schriftliche Äußerungen. In mündlicher Rede hingegen wirken die Formen mit
Genitivattribut wie ein Ballkleid auf dem Jahrmarkt. Wer es nicht bewusst darauf anlegt, mit seiner
Formulierung Aufsehen zu erregen, ist gut beraten, diese Formen im Alltag eher zu vermeiden.