Das Joghurt, der Joghurt, die Joghurt? — Variierendes Genus bei Fremdwörtern
meine großmutter, aufgewachsen im weinviertel, besteht auf "die joghurt". mit der begründung, das sei eine ableitung von joghurtmilch.
[Forum http://derstandard.at, 17.10.2006]
Wenn man Nomina aus anderen
Sprachen übernimmt, gibt es nicht nur Probleme mit der Pluralbildung, sondern auch mit der Zuweisung des grammatischen Geschlechts, der sogenannten Genuszuweisung. Wie heißt es denn nun:
Das Joghurt, der Joghurt oder die Joghurt?
Der Gelee oder das Gelee?
Der Lasso oder das Lasso?
Der Zepter oder das Zepter?
Der Virus oder das Virus?
Das Sandwich oder der Sandwich?
Die E-Mail oder das E-Mail?
Die Grappa oder der Grappa?
Die Sellerie oder der Sellerie?
Auch in professionell erstellten Texten ist man sich nicht immer einig:
Tomaten sind gentechnisch gekennzeichnet, nicht aber das
Ketchup.
[Kleine Zeitung, 27.03.1999]
Später dann hat
der Hightech-Ketchup die rote Karte
bekommen.
[die tageszeitung, 12.03.2004].
Der Papst und die katholische Kirche sollten das
Zölibat überdenken.
[Rhein-Zeitung, 25.04.2023, S. 5]
Auch der
Zölibat sei Überheblichkeit, eine Entfernung aus der gesellschaftlichen
Realität.
[die tageszeitung, 24.08.1990]
Wir haben ausgerechnet, dass ein
Kunde eine halbe Stunde arbeiten muss, um sich so ein Sandwich zu genehmigen.
[Die
Zeit, 22.07.2004, S. 20]
Ich laufe zur High Street, um mir dort einen Sandwich und
eine Flasche Mineralwasser zu kaufen.
[
Frayn
2004, S. 296]
Manchmal finden sich verschiedene Formen des Genus sogar in ein und dem selben Artikel,
wie hier in Text und Überschrift:
Eine längere Diskussion erforderte aber der
Zölibat
[St. Galler Tagblatt, 14.06.1999; Das Zölibat
überdenken]
Für eilige Leser: Meist ist verschiedenerlei erlaubt!
Welche Kriterien spielen eine Rolle?
Schauen wir uns zunächst an, nach welchen Kriterien wir Fremdwörtern überhaupt ein Genus zuweisen.
- Unter anderem schließen wir aus der Gestalt eines Fremdworts auf
dessen grammatisches Geschlecht. So halten wir zum Beispiel Wörter auf -er erst
mal für Maskulina, weil sie auch im Deutschen meist Maskulina sind: Analog den deutschen Maskulina
Lehrer und Möhrenraspler sagen wir: der Surfer,
der Boxer und auch der Tuner. Alle drei Wörter sind aus dem
Englischen entlehnt; dort wird zwar auf surfer und boxer mit
he 'er' verwiesen, aber tuner ist it 'es', also
neutrum.
- Außerdem verfahren wir nach dem Leitwortprinzip: Ein Wort wie
der Wein leitet uns zu sagen: der Rioja, der Nero
d'Avola, der Barbera, der Bordeaux. Wir sagen:
die Frucht und deshalb die Zitrone, die Ananas,
die Grapefruit. Wir sagen: der Schnaps und deshalb der
Ouzo, der Raki, der Grappa.
Nach dem Leitwortprinzip besteht auch die im österreichischen Weinviertel aufgewachsene Großmutter
auf die Joghurt; sie denkt dabei an die Milch. Übrigens steht sie
damit nicht ganz alleine:
Schließlich muß man auch nicht jedem Einzelhändler nachweinen, der einem die Joghurt für 3,50 Mark verkauft.
[die tageszeitung, 25.10.1997, S. 25]
Ich komme aus Hannover, meine Eltern sind ebenfalls beide in Niedersachsen geboren. In unserer Familie heißt es "die Joghurt".
[Wikipedia-Diskussion:Joghurt/Archiv, 2017]
- Dagegen "bevorzugen gebildete Sprecher öfter den Import des
Quellgenus gegenüber dem Leitwortprinzip" (Heringer 1995, S. 209). Mediziner übernahmen das Virus aus dem Lateinischen (dort im Sinne von Gift, Saft, Schleim) mitsamt seines sächlichen Geschlechts. Wegen ital. la grappa verlangen Toskanafans die Grappa. Natürlich führt sowas zu Diskussionen:
Der Grappa, es heißt eigentlich
DIE GRAPPA, hat sich vom einfachen Bauernschnaps zur Edelspirituose gewandelt.
[http://www.grappanet.de/seiten/geschi.htm, 19.10.2006]
Eigentlich müsste es „die Grappa“
heißen, denn „la Grappa“ ist weiblich. Weil das aber so ungewohnt klingt, bleiben wir bei der
verbreiteten männlichen Anrede des edlen Tropfens.
[http://www.sempre-italia.de/service/feuilleton, 19.10.2006]
Befragt man Herrn Duden zu
dem Thema, heißt es die Grappa, in unserem Sprachgebrauch ist es geläufig, der Grappa zu
sagen.
[http://www.dooyoo.de/getraenke/grappa-della-toscana-aldi,
19.10.2006]
Gibt es feste Regeln?
Eine immergleiche Hierarchie der Prinzipien gibt es offenbar nicht. Die
Prinzipien, nach denen wir einem Fremdwort ein Genus zuweisen, führen mitunter zu verschiedenen
Ergebnissen. Meist setzt sich eine Form durch; mitunter etablieren sich aber auch
Varianten.
Die Varianten können zwischen Individuen bestehen; so bevorzugt Karl May
der Lasso gegenüber allgemein das
Lasso:
Jetzt aber griff der Indianer in den Lasso, zog ihn scharf an,
so daß er vorn Raum zu einer Wendung bekam, und drehte sich um - doch nicht
ganz.
[http://www.karl-may-werke.de, 17.10.2006]
Die Liebe wird stärker mit
jedem Umweg. Besteht sie am Ende nur aus den Fährten, die zu ihr führen; ist sie womöglich selbst
das Lasso, das sie einfangen soll.
[Die Zeit, 15.08.2001]
Variiert wird auch in verschiedenen Fachkontexten. So heißt es medizinisch konsequent das Virus (Quellgenus), im Computerbereich aber recht häufig der Virus (was wiederum dem Gestaltprinzip entspricht, denn Substantive auf -us sind im Deutschen meist maskulin):
| Informatik | Medizin |
der Virus | 54 | 19 |
das Virus | 52 | 925 |
Datenbasis ist das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo), Stand Mai 2024. Für den Bereich "Informatik" wurden Belege in einem Fachzeitschriften-Subkorpus aus "Computer Zeitung" und "c't" gesucht, für den Bereich "Medizin" in einem Subkorpus aus "Ärzte Zeitung" und "Deutsches Ärzteblatt". Beide Subkorpora enthalten insgesamt jeweils ca. 23 Millionen Wortformen. Maximal darf ein Wort zwischen Artikel (ohne Beachtung von Groß-/Kleinschreibung) und Virus stehen.
Es besteht die Gefahr, dass der Virus Tastatureingaben belauscht und Passwörter abgegriffen hat.
[c't, 19.01.2019. FAQ Virenschutz]
Genauso könnten Zecken, die das Virus in sich tragen, von einem auf das nächste Jahr verschwinden.[Ärzte Zeitung, 08.03.2018, S. 7]
Im Orthografischen Kernkorpus, das in relativer regionaler Ausgewogenheit repräsentative Daten aus Zeitungs- und Zeitschriftentexten aller Länder und Regionen mit Deutsch als Amtssprache enthält (rd. 14 Mrd. Wortformen), zeigt sich eine klare Präferenz für das Virus; allerdings dominieren hier eindeutig medizinische Kontexte. Interessanter scheint deshalb ein Blick auf die zeitliche Entwicklung, die auf eine tendenzielle Abnahme der maskulinen Variante seit der Jahrtausendwende hindeutet:
Betrachten wir die relativen Frequenzen, wird eine massive Erhöhung der "medizinischen" das-Variante ab Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich und erklärt die diachrone Tendenz seit 2020.
Variiert wird zudem zwischen den Varietäten einer Sprache. So sagt man in Deutschland offenbar lieber der Joghurt, in der Schweiz und in Österreich lieber das oder auch mal die Joghurt:
Am nächsten Tag wird der Joghurt dann nur noch mit Wasser und je nach
Belieben mit Salz verrührt.
[Mannheimer Morgen, 13.03.2003]
Zwei Beispiele zur Illustration: in Deutschland durften Kirschen in Joghurt mit dem Wirkstoff der roten Rübe eingefärbt werden,
nicht jedoch das Joghurt selbst.
[Salzburger Nachrichten, 30.01.1993]
Besonders knifflig ist das Wort Joghurt. In Österreich heißt es das Joghurt, aber die Wiener scheren aus und sagen die Joghurt.
[Wiener Zeitung, 22.10.2014, S. 29]
Aus: Variantengrammatik des Standarddeutschen (2018). http://mediawiki.ids-mannheim.de/VarGra/index.php/Joghurt.
Sind Varianten etabliert, sind sie vielen bewusst und werden immer mal wieder thematisiert:
Im Werbe-TV wurde deutsches Joghurt beworben, und zwar, wie beim Nachbarn
üblich, in maskuliner Form: der Joghurt. Nun ist aber in Österreich Joghurt allerweil
sächlich, und so wurde uns der angepriesene Becher fremder, als er war. Es empfiehlt sich,
deutsche Werbesprüche nicht unbesehen nach Österreich zu tragen und einen Gelehrten
einzusetzen, der - um ein neues Wort zu kreieren - diese Texte ausdeutscht.
[Neue
Kronen-Zeitung, 14.08.1996]
Vom Schnellimbiss, wo der rote Alleswürzer seit
Generationen in Plastikflaschen mit weißem Deckel sein Dasein fristet, bis hin zum
Edel-Restaurant, in dem er sich ganz fein im Glasschälchen präsentiert - der oder das
Ketchup fehlt auf fast keinem Tisch.
[Mannheimer
Morgen, 25.08.2001]
Der (oder das) Zölibat existiert in verschiedenen religiösen
Traditionen, so z.B. im alten Judentum und bei den Essenern sowie bei Mönchen und Nonnen im
Buddhismus und Hinduismus.
[http://www.heiligenlexikon.de/Glossar/Zoelibat.htm,
17.10.2006]