Eine nette Anruferin wollte einmal von uns Fachleuten wissen, was eigentlich eine Charter-Stellung ist. Sie kenne zwar beide Wörter (chartern und Stellung), aber es mache für sie keinen rechten Sinn.
Zuerst haben wir uns andere Zusammensetzungen mit chartern vergegenwärtigt, etwa Charterflüge und Chartermaschine. Aber die optimale Charterlösung für das Verständnisproblem haben wir dabei nicht gefunden:
Und dann ist uns auf einmal aufgegangen, dass man die Zusammensetzung auch ganz anders zerlegen kann, nämlich in Chart und Erstellung. Bei der Charterstellung geht es um die Erstellung von Charts, das heißt: von Diagrammen, zum Beispiel für Bestenlisten oder Börsenkurse. Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, hat sich der Journalist des Hamburger Abendblatts wohl entschieden, einen klärenden Bindestrich einzufügen: Eine Charter-Lösung ist sichtbar keine Chart-Erlösung.
Sehen wir uns zunächst an, wie die Missverständnisse aussehen. Zum Beispiel habe ich beim Romanlesen — unser Problem ist nämlich eine Frage des Lesens, nichts des Hörens — einmal Weh-rufer statt Wehr-ufer hineingelesen: Da ging ein unglücklicher Mensch zum Wehrufer. Allerdings machen einem die meisten Kontexte sofort klar, dass man sich gerade wohl verlesen hat. Im folgenden Kontext müsste es jedenfalls sehr surreal zugehen, wollte man Wachs-tube rausverstehen:
Wir haben es hier überall mit nominalen Zusammensetzungen (Komposita) zu tun. Die meisten nominalen Zusammensetzungen sind binär strukturiert, d.h. sie sind so aufgebaut, dass sie in jeweils zwei Einheiten unterteilt werden können (lat. binarius 'zwei enthaltend, zweistellig, zweiwertig').
Bekannt ist das vor allem unter dem Stichwort Blumento-Pferde. Erwachsene halten damit gerne kleinere Kinder zum Narren — womit sie spielerisch lernen, wie wir Zusammensetzungen bilden und wie wir sie verstehen. Zum bewussten Spiel mit Wortgrenzen siehe Donalies 2001.
Da gibt es einerseits morphologische und andererseits semantische Möglichkeiten. Morphologische betreffen die äußere Gestalt der Zusammensetzung (zu griech. morfē 'Form, Gestalt'); semantische betreffen den Gehalt, die Bedeutung der Zusammensetzung (griech. sema 'Zeichen', semantikos 'das Zeichen betreffend, bezeichnend, bedeutend').
Linguisten gehen auch bei der Zerlegung von Zusammensetzungen sehr gerne ins Detail. Wie etwa Rickheit 1992: 37f entwickelt, gibt es rein rechnerisch zahlreiche Möglichkeiten der morphologischen Zerlegung. Rickheit sieht für die Zusammensetzung Straßenbahnfahrer folgende Möglichkeiten:
"Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, welche dieser Segmentierungen nun die richtige ist, ob es vielleicht sogar alle auf irgendeine Art sind oder ob es Präferenzen für mehrere akzeptable Lösungen gibt, während andere unakzeptabel sind, weil sie zu Inkonsistenzen in der Strukturbeschreibung führen. Wie immer die Antwort ausfällt, man wird nicht umhin können, die einschlägigen morphologischen Kenntnisse um eine gewisse semantische Theoriebildung zu erweitern, wenn man das gegebene Beispielwort im Hinblick auf seine interne Struktur untersuchen will." (Rickheit 1992: 38).
Schauen wir uns also an, was die semantische Analyse zu bieten hat:
Als semantisch sinnvoll ergeben sich bei den meisten Zusammensetzungen binäre Strukturen. So ist es in Rickheits Beispiel am plausibelsten, in Straßenbahn und Fahrer zu zerlegen, weil Straßenbahnfahrer den Fahrer einer Straßenbahn bezeichnet. Mitunter sind bei der Zerlegung jedoch die Grenzen nicht immer eindeutig zu bestimmen: So kann zum Beispiel Marzipanapfeltorte sowohl zerlegt werden in Marzipanapfel-Torte 'Torte mit einem Marzipanapfel' oder in Marzipan-Apfeltorte 'Apfeltorte mit Marzipan'.
Die Bestandteile von Zusammensetzungen beziehen sich semantisch vage aufeinander; wir können einer Zusammensetzung nur ansehen, dass das, was der eine Bestandteil bezeichnet, irgendetwas mit dem zu tun hat, was der andere bezeichnet.
Siehe weiterführend: Wortbildung - Sinn aus dem Chaos.