Wortbildung - Sinn aus dem Chaos
Wortbildungsprodukte werden hier bewusst semantisch vage beschrieben. Vgl. Wortbildungsbedeutung.
Wortbildungsbedeutung ist nach traditionellem Verständnis das, was über die Bedeutung der Einheiten eines Wortbildungsproduktes hinausgeht. Die Bedeutung eines Wortbildungsproduktes wird danach nicht aus einer reinen Aneinanderreihung der Bedeutungen ihrer Einheiten ermittelt, sondern aus der Relation zwischen den Einheiten. Diese Sichtweise jedoch ist problematisch.
Zum einen, weil sie nur zutrifft auf Komposita und explizite Derivate, bei denen eine Relation zwischen den beiden unmittelbar segmentierbaren Einheiten besteht, aber nicht auf Konvertate und implizite Derivate, die ja nicht binär strukturiert sind.
Zum anderen geht "die gängige Behandlung davon aus, in einem Kompositum AB bestehe zwischen A und B eine syntagmatische Relation [...], Bedeutungsanalyse der Komposita bestehe in der Ermittlung der Relation. Da ist aber nichts, kein Zeichen für diese Relation. [...] Und war es nicht ein gutes altes strukturalistisches Prinzip: Wo kein Ausdruck, auch keine Bedeutung" (Heringer 1984, 3). Bei Komposita kann zwar die Reihenfolge der Einheiten Aufschluss geben, "entweder A vor B oder B vor A, aber: Das ist alles." (ebd.). Bei anderen Wortbildungsprodukten ist nicht mal eine Reihenfolge auswertbar.
Wortbildungen lassen sich folglich nur interpretieren, wenn weitere Kriterien herangezogen werden.
Kriterien zur Interpretation von Wortbildungen
Um Wortbildungen zur interpretieren, stehen Hörerlesern verschiedene Arten von Wissen zur Verfügung. Vgl. dazu vor allem Heringer 1984.
Wissen aus dem unmittelbaren verbalen Kontext |
Situationelles Wissen |
Episodisches Wissen |
Generisches oder Weltwissen |
- Wissen aus dem unmittelbaren verbalen Kontext: Besonders okkasionelle Bildungen sind oft nur aus dem Kontext
erklärbar. So kann ein isoliert kaum verständliches Konvertat wie
baumen gedeutet werden aus einem unmittelbaren Kontext, der etwa
besagt, dass es um einen Herrn Baum geht, der in charakteristischer Weise spricht und
dessen Sprechweise von Frau Müller imitiert wird: Frau Müller baumte mal wieder. Derart vom Kontext erklärt, wird das Konvertat mit ähnlichen Bildungen
identifiziert; es kann gelesen werden wie andere aus Eigennamen abgeleitete Verben, etwa
in
Schon Martin Heidegger untersagte, dass in seinen Seminaren geheideggert würde. Man solle auch nicht poppern, benjaminisieren, adornölen und blumbergern - kurz: seinen Lehrern nicht in den Sprachstapfen folgen.
(Süddeutsche Zeitung 3./4.12.1994, 25) - Situationelles Wissen: Auch aus der aktuellen Situation, die ein Gespräch umgibt, also aus dem, was Sprecher und Hörer gerade miteinander erleben, was sie aktuell wahrnehmen, kann auf die Bedeutung des Wortbildungsproduktes geschlossen werden. So kann Fischfrau aus der direkten Anschauung des Sprechers und des Hörers heraus interpretiert werden als 'Frau, die wie ein Fisch aussieht'.
- Episodisches Wissen: Die Bedeutung eines Wortbildungsproduktes kann nicht nur aus einer aktuellen Situation, sondern auch aus einer früheren Episode erkannt werden. So ist ein Kompositum wie Bauernschnecke (Stern/ Stern 1928) zu verstehen aus dem gemeinsamen Wissen des sprechenden Kindes und der hörenden Mutter über eine Episode vom Vortag, in der das Kind beim Spielen mit Bauernjungen eine Schnecke entdeckt hatte.
- Generisches oder Weltwissen: Schließlich wird die Bedeutung eines Wortbildungsproduktes aus den dauerhaften Kenntnissen über die Welt ermittelt. So hilft die Kenntnis über kulturelle Gepflogenheiten, Bildungen wie Mandeltorte versus Herrentorte, Kirschkuchen versus Hundekuchen oder Kalbsschnitzel versus Jägerschnitzel zu verstehen: Eine Mandeltorte ist eine Torte aus Mandeln, dagegen ist im deutschen Kulturraum eine Herrentorte wahrscheinlich keine Torte aus Herren.