Haben Wörter eine eigentliche, eine richtige Bedeutung? Dass zum Beispiel Regenwürmer mit Regen zu tun haben, das weiß schließlich jedes Kind. Und natürlich beruht der Witz von Heinz Ehrhardts Gedicht genau darauf. Aber können wir uns über die eigentliche, die irgendwie richtigere Bedeutung von Regenwurm wirklich ganz sicher sein? Das fragt sich zum Beispiel auch der Autor des folgenden Wikipedia-Eintrags:
Treffender sollte der Regenwurm also Erdwurm heißen? So wie der Steppenlöwe Steppenlöwe oder die Hausmaus Hausmaus? Da wäre dann auch gleich eine Ordnung, ein Muster: Tiere heißen nach ihrem typischen Aufenthaltsort. Der Turmfalke, der Berggorilla, der Flachlandgorilla, der Buschhase, die Wasserratte usw. usw. Manche Tiere heißen nun allerdings auch nach dem, was sie typischerweise fressen: der Ameisenbär zum Beispiel oder der Mäusebussard. Da könnte ein Regenwurm ja ein Wurm sein, der sich von Regen ernährt. Und was ist ein Rattenigel? Ernährt der sich von Ratten? Und wird an Leib und Leben von der Igelratte bedroht? Vielleicht sieht der Rattenigel ja auch aus wie eine Ratte und die Igelratte wie ein Igel? Manche Tiere heißen nämlich auch so, wie sie aussehen: So erinnert uns der Hirschkäfer an einen Hirsch und der Mönchsaffe an einen Mönch. Da könnte ein Regenwurm also auch regengrau sein und ein Erdwurm erdbraun.
So viel Ungewissheit stört offenbar den einen oder anderen. Der Stilkritiker Wolf Schneider [1987, 20] bemängelt "die Einladung der deutschen Grammatik, Hauptwörter zusammenzuleimen": "Gefährlich sind Zusammensetzungen oft, logisch sind sie selten, eindeutig sind sie nie". Seine Abneigung gegen Zusammensetzungen, auch Komposita genannt, erläutert er an Kaffeemühle, die er so hinterfragt: "Die Kaffeemühle mahlt Kaffee; was mahlt die Windmühle?" Das ist ganz lustig ausgedacht; aber mit der Sprachrealität hat es wenig zu tun. Es geht nämlich doch logisch und eindeutig zu. Und das kommt so:
Wörter bedeuten. "Wenn ein Wort bedeutet, dann bedeutet es Inhalten, sich im Aussagezusammenhang einzustellen. Bedeuten ist die Funktion der Wortkörper, Inhalte herbeizurufen; bedeuten ist eine Winkfunktion, ein Appell" [Schumacher 1997, 100]. Vor allem aber: "Wörter gibt 'es' nicht einfach, sie werden verwendet" (ebd.). Kommunikation besteht nicht darin, dass uns obskure Wörter jäh zugerufen werden. Vielmehr ergeben sich Bedeutungen aus der Verwendung, aus dem Gebrauch. Sie sind "lange Geschichten. Denn der Gebrauch eines Wortes in der Sprache ist eine sehr lange Geschichte" [Heringer 2004, 36].
Auch Komposita sind Wörter und bedeuten. Ihre Bedeutung erschließt sich uns aus dem Zusammenspiel ihrer Bestandteile. Allerdings sehen wir den Komposita selbst nicht an, wie die Bestandteile zusammen spielen; sie stehen einfach nur so hintereinander herum. Immerhin erkennen wir an der Stellung der Bestandteile, was die Hauptsache eines nominalen Kompositums ist:
Aber was?
Um das Zusammenspiel der Bestandteile zu durchschauen, orientieren wir uns am Kontext oder aktivieren unser Weltwissen: Mandeln sind übliche Zutaten von Torten; da wird eine Mandeltorte sicher eine Torte mit Mandeln sein. Dagegen ist in unserem Kulturkreis der Verzehr von Herren, Hunden und Affen eher unüblich. Deshalb wird eine Herrentorte keine Torte mit Herren sein, sondern für Herren bestimmt, so wie der Hundekuchen für Hunde und das Affenbrot für Affen bestimmt ist. Natürlich kann uns der Kontext eines Besseren belehren:
Wenn das nicht logisch und eindeutig ist....
"Die Vagheit der Bedeutung wird oft kritisch als Unzulänglichkeit der Sprache gebrandmarkt. Aber die Vagheit ist eine der Stärken unserer Sprache: Vagheit ist eine notwendige Konsequenz der Bedeutungsgenese. Vagheit ist Grundlage für die flexible Zuschreibung von Sinn. Vagheit ist die Basis dafür, dass Neues gesagt werden kann. Vagheit ist Voraussetzung für die Adaptation und den Wandel der Sprache" [Heringer 2004, 43].
Für Hörer konkretisieren sich Bedeutungen jeweils aktuell aus dem Kontext und aus dem Wissen über die Welt. Gelegentlich kann das auch mal schiefgehen, vgl. Was ist Charter-Stellung? — Zerlegung von Zusammensetzungen: Das Blumento-Pferde-Problem.