Titel und Funktions- oder Positionsbezeichnungen wurden in der Vergangenheit häufig als geschlechtsneutral angesehen – sie galten für beide Geschlechter, männlich und weiblich (vgl. Genus und Sexus). Vor dem Hintergrund der Diskussion über geschlechtssensible Ansprache rückt aber zunehmend die Frage der Kongruenz in den Mittelpunkt der Betrachtung. Kongruenz bedeutet hier die Übereinstimmung bestimmter Einheiten; es geht also darum, den Bezugsausdruck und das Bezeichnete in Übereinstimmung zu bringen. Kongruenz kann in sprachwissenschaftlichen Zusammenhängen die grammatische Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung meinen oder auch die semantische — etwa wenn auf ein grammatisches Neutrum wie Mädchen mit Hilfe femininer Bezugswörter (sie) referiert wird.
Bei Anreden und Titeln wird in der Regel auf individuelle, bekannte Personen Bezug genommen, man kennt dann ggf. auch das biologische Geschlecht der bezeichneten Person. Daher kommen hier häufig sexusbezogene Ausdrücke zum Einsatz, um Kongruenz im Genus zu erreichen: Frau Lehrerin, Frau Ministerin, Frau Pfarrerin. Diese Möglichkeit bietet unser Sprachsystem, indem mit Hilfe des Wortbildungssuffixes -in aus maskulinen Personenbezeichnungen auf "-er" feminine Bezeichnungen abgeleitet werden können.
Wurde früher auch beim Bezug auf weibliche Personen oft die maskuline Anredeform verwendet (Frau Anwalt Winter), ist dies heute weniger üblich. Beides ist möglich, beides bietet das System der deutschen Sprache an. Unterschiede sind je nach Kontext festzustellen: Bei Amts- und Berufsbezeichnungen scheint die feminine Form dominant (Frau Bundeskanzlerin, Frau Lehrerin), beim Titel (oft gefolgt von einem Eigennamen) schwankt der Gebrauch eher: Frau Professorin Schneider / Frau Professor Schneider. (Was heute nicht mehr üblich ist: Bezeichnungen wie Frau Professor, Frau Pfarrer als Anrede für die Ehefrau eines Professors, Pfarrers zu verwenden.) Insgesamt lassen sich Abstufungen ausmachen: Bei Frau Doktorin etwa ist die feminine Form bislang relativ weniger gebräuchlich als bei Frau Professorin oder bei Frau Bundeskanzlerin.
Als die Gesellschaft für deutsche Sprache 2005 Bundeskanzlerin zum Wort des Jahres wählte, begründete sie diese Wahl so: „Die feminine Endung -in an Berufs- und Personenbezeichnungen ist nicht neu – dennoch wäre noch vor wenigen Jahrzehnten auch eine Frau an der Spitze der Regierung als Bundeskanzler bezeichnet worden. Spätestens seit Beginn des Wahlkampfs für die vorgezogenen Neuwahlen zum Deutschen Bundestag etablierte sich mit der Kanzlerkandidatin Angela Merkel auch die Bezeichnung Bundeskanzlerin.“ Und diese Bezeichnung hat sich in der Folge auch in der Anrede durchgesetzt. Dies zeigt den Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen auf Sprache und Schreibung.
Im gemessenen Sprachgebrauch überwiegt auch 2024 noch Frau Professor. Sowohl Korpusrecherchen als auch flankierende Suchen im Internet (vgl. Wie kommt man zu empirischen Aussagen?) finden deutlich mehr Belege für Frau Professor als für Frau Professorin. Auch andere Verbindungen sind in der movierten Form seltener als in der generischen Normalform, so etwa Frau Direktorin gegenüber Frau Direktor oder Frau Doktorin gegenüber Frau Doktor. Bestimmte Verbindungen mit movierten Formen haben sich dagegen offenbar etabliert, besonders bei Amtsträgerinnen wie bei Frau Bundeskanzlerin gegenüber Frau Bundeskanzler, Frau Ministerin gegenüber Frau Minister, aber auch bei dem allgemeinsprachlich gängigen Frau Lehrerin gegenüber Frau Lehrer. Regionale Präferenzen oder Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sind davon unbenommen. Ergänzende Informationen sind in Heft 2/2021 des IDS-Sprachreports zu finden.
All diese Beispiele belegen den Einfluss soziokultureller Veränderungen auf Sprach- und Schreibwandel, was sich an der sich derzeit andeutenden Entwicklung bei den Benennungen Frau Pfarrer bzw. Frau Pfarrerin hin zur movierten Form zeigt (siehe Verlaufsgrafik unten). Am schnellsten vollziehen sich solche sprachlichen Innovationen üblicherweise zunächst bei informell Schreibenden, etwas verzögert in Texten professionell Schreibender. Siehe dazu die nachfolgende Tabelle mit ausgewählten Ergebnissen von Recherchen im Orthografischen Kernkorpus (OKK) und in DeReKo (letzteres enthält seit einigen Jahren neben mehrheitlich redigierten Presse- und Prosatexten auch umfangreiche Internet-Belege aus Wikipedia, Youtube etc.).
OKK | DeReKo | |
Frau Professor | 2.189 | 7.107 |
Frau Professorin | 301 | 1.135 |
Frau Direktor | 724 | 1.586 |
Frau Direktorin | 195 | 450 |
Frau Doktor | 4.221 | 11.958 |
Frau Doktorin | 51 | 130 |
Frau Minister | 1.663 | 4.969 |
Frau Ministerin | 2.644 | 51.805 |
Frau Pfarrer | 654 | 1.285 |
Frau Pfarrerin | 333 | 1.441 |
Frau Lehrer | 173 | 340 |
Frau Lehrerin | 704 | 1.692 |
Frau Bundeskanzler | 162 | 239 |
Frau Bundeskanzlerin | 1.926 | 3.758 |