Genus und Sexus

Dieser Artikel stammt aus dem Jahr 2004, spiegelt teilweise einen veralteten Forschungsstand zum Thema wider und thematisiert nicht umfassend die Positionen des gegenwärtigen Diskurses. Ergänzende und aktuelle Informationen sind in Heft 2/2021 des IDS-Sprachreports zu finden. Der nachfolgende Text wird momentan aktualisiert. Zwischenzeitlich waren einzelne Abschnitte durch die Überarbeitung nicht sichtbar, diesen Umstand bitten wir zu entschuldigen.



Ein männlicher Briefmark erlebte
was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin beleckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.

Joachim Ringelnatz

Die Termini, mit denen die Kategorie Genus (lat. genus 'Geschlecht, Gattung, Art') beschrieben wird, spiegeln bereits eine sexualistische Betrachtungsweise (lat. sexus 'Geschlecht des Menschen'): So leitet sich der Terminus Maskulinum her von lat. masculus 'Mann/Männchen', der Terminus Femininum von lat. femina 'Frau/Weibchen', der Terminus Neutrum ist gebildet zu lat. neuter 'keiner von beiden'.

Sexualistische Genustheorien basieren auf der Vorstellung, dass die Grammatik die Geschlechtlichkeit des Menschen widerspiegele. "Ausgangspunkt ist der primitive Mensch, der seine gesamte Umwelt belebt und sie darüberhinaus sexualisiert" sowie "das geringe Interesse am Genus neutrum" (Weber 2001, 24f).

Korrespondenzregel versus sexualistische Genusregel

Üblicherweise besteht formale Korrespondenz zwischen einem Nomen und den korrespondierenden anaphorischen Einheiten.

Das Mädchen ist erst zwei Jahre alt, aber es kann schon seinen Namen schreiben.

Bei Nomina mit einem Genus, das nicht dem Sexus des Bezeichneten entspricht, wird mitunter entgegen dieser Regel eine dem Sexus entsprechende Form gewählt.

Das Mädchen ist erst zwei Jahre alt, aber sie kann schon ihren Namen schreiben.

Sexualistische Argumente - Pro und Contra

"Die Theorie Jakob Grimms, das grammatische Geschlecht sei eine metaphorische Ausdehnung des natürlichen Geschlechts auf alle Gegenstände, wird heute nicht mehr ernsthaft vertreten" (Hoberg 2004; so auch Weber 2001, 113). Dennoch sind sexualistisch argumentierende Theorien nach wie vor anzutreffen, so "Brinkmann (1962) über deutsche Verbalabstrakta: 'Das Tun, das die Feminina nennen, ist anderer Art als bei den Maskulina. Bei diesen herrscht die Gewaltätigkeit (Schlag, Biss, Schnitt, Stich, Riss usw.) [...] und der Streit (Zank, Zorn, Spott, Verdruss) [...] Unter den Feminina aber, die menschliche Handlungen objektivieren, treffen wir eine Gruppe, die kund tut, wie sich der Mensch dem anderen zuwendet; es sind Substantive der Kommunikation; Bitte, Frage, Hilfe, Pflege, Lehre, Sprache'" (Wegera 1997, 14). Und nach wie vor sind sexualistische Theorien leicht zu widerlegen: Denn ist, um bei den Verbalabstrakta zu bleiben, der feste Halt, der Rat, der Vortrag, der Besuch nicht ausgesprochen kommunikativ und empathisch und ist die Hetze, die Lüge, die Vernichtung, die Enthauptung nicht ausgesprochen gewalttätig?

Eine ebenfalls typisch sexualistisch motivierte, anthromorphische Genustheorie vertreten auch Köpcke/ Zubin 1996, wenn sie die Regel aufstellen, dass im "ethnozoologischen Kontinuum" vom Menschen zum Weichtier das Maskulinum "Menschenähnlichkeit" ausdrücke, daher der Schimpanse, während das Femininum "Distanz zum Menschen" signalisiere, daher die Schnecke. Siehe dazu Hoberg 2004. Gegen diese Theorie sprechen der Quastenflosser, der Piranha, der Gecko, der Borkenkäfer, der Zitronenfalter einerseits, andererseit die Ziege, die Ratte, die Kuh, vor allem die malediktisch blöde.

Selbst Bezeichnungen für Lebewesen sind also keineswegs sexusorientiert. "Oder glaubt einer, alle Igel seien männlich und alle Fliegen weiblich? Wir wissen schon Bescheid, aber es interessiert uns eben nicht" (Heringer 1995, 208). Und auch, wo es uns interessiert, "gibt es Ausnahmen [...], ja sogar paradoxe Genusvergaben: der Weisel (Bienenkönigin), die Drohne (männliche Biene)" (Wegera 1997, 13).

Nicht mal bei den Bezeichnungen für Menschen stimmen Genus und Sexus durchgängig überein, denn die meisten maskulinen Bezeichnungen für Menschen gelten traditionell sowohl für männliche als auch für weibliche Personen.

Von den Lehrern unserer Schule sind über 50% Frauen.

Zudem können feminine Bezeichnungen mitunter vorrangig männliche Personen meinen und maskuline oder neutrale Bezeichnungen können ausschließlich weibliche Personen meinen. Siehe dazu Generische Genera.

die Wache
die Ordonanz
die Tunte
der Blaustrumpf
der Backfisch
das Fräulein
das Mädchen
das Weib
das Mensch

Offenbar ist also weniger das Genus als die Movierung Hauptmittel sexusbewusster Referenz. So wird mit die Studentin explizit ein weiblicher Student bezeichnet, mit der Hexerich explizit eine männliche Hexe (siehe Donalies 2001). Besonders deutlich wird die spezifische Funktion der Movierung, wenn aus einer femininen Bezeichnung wie die Ratte eine Bezeichnung wie die Rättin moviert wird, die explizit etwas biologisch Weibliches ausdrückt. Siehe dazu Genus und Movierung.

Literatur in Auswahl

Thurmair 2006.

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Autor(en)
Elke Donalies
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