Genus Verbi: Aktiv und Passiv

Das Genus verbi ist, wie Tempus, Verbmodus, Verbnumerus und Person, ein Gesichtspunkt, unter dem die Formen von Verben variieren können. Im Verbund bestimmen diese Kategorisierungen die jeweilige Gestalt finiter Verbformen. Das Genus verbi kann bei geeigneten Verben einen von zwei Werten annehmen: Aktiv und Passiv.

Was war hier zu sehen?
Wer den Knaben kennt, wird vielleicht sagen: "Bart hat etwas an eine Wand gesprüht." Wer nicht weiß, wer hier mit der Sprühdose am werken ist, braucht sich dazu nicht zu äußern und kann einfach feststellen: "Hier ist etwas an eine Wand gesprüht worden."

Als geübter Sprachbenutzer greift man ganz selbstverständlich zu solchen Formulierungen, ohne darin etwas Besonderes zu erkennen. Dabei liegt es keineswegs einfach in der Natur der Sache, dass derart verschiedene Darstellungen möglich sind. Anders als im Satz könnte in einem Bild der Knabe nicht ausgeblendet werden, ohne dass damit ein grundsätzlich anderer Sachverhalt dargestellt würde.

Die Sprache erlaubt, Informationen über Sachlagen in einer Weise zu filtern und zu arrangieren, die mit grafischen Mitteln nicht nachzuvollziehen ist. Möglich wird dies, weil sprachliche Darstellungen Sachverhalte nicht einfach widerspiegeln oder - wo solche nicht wirklich gegeben sind - vorspiegeln, sondern sie in Bestandteile auflösen, denen in der optischen Wahrnehmung keine isolierbaren Einheiten entsprechen: in Gegenstände, Eigenschaften und Beziehungen.

Die Auflösung von Sachverhalten in solche Bestandteile dient dazu, mit endlich vielen sprachlichen Mitteln unbegrenzt viele Sachverhalte fassbar zu machen. Zugleich eröffnet sie die Möglichkeit, ein und denselben Sachverhalt in regelhafter Weise verschieden zu erfassen, denn grundsätzlich lässt sich jede Beziehung zwischen Gegenständen auf verschiedene Weisen beschreiben.

Hier kann man feststellen:
"A überragt B", aber ebenso: "B wird von A überragt."

Allerdings findet bei weitem nicht alles, was verschieden zu fassen wäre, auch verschiedenen sprachlichen Ausdruck. Insbesondere sind nur wenige solcher konversen Beziehungen mit verschiedenen lexikalischen Mitteln auszudrücken, etwa kaufen - verkaufen, geben - erhalten.

Realisiert werden nur Konversen, mit denen wichtige Unterschiede bei der Darstellung einer Sachlage zum Ausdruck zu bringen sind. Dies ist freilich weniger auf die Konversion selbst zurückzuführen als darauf, dass sie systematisch mit der Möglichkeit verbunden ist, ein wesentliches Element von Sachlagen bestimmter Art verschieden zu berücksichtigen.

Überall im Land wird spontan demonstriert.
(40 Tage im Herbst, SWR1 1999)

Wer sich so äußert, erspart sich auszuführen, wer da demonstriert hat. Und selbst wenn man sich dies nicht ganz ersparen will, gelingt es doch, dieser Teilinformation ihr besonderes Gewicht zu nehmen, sie gewissermaßen zu marginalisieren:

Überall im Land wird von der Bevölkerung spontan demonstriert.

Dem systematischen Charakter des Bedeutungsverhältnisses zwischen solchen Verben und ihren Konversen entspricht, dass die Konversion in weitaus den meisten Fällen nicht paarweise durch im Übrigen eigenständige Verben erreicht wird, sondern über Periphrasen, in denen das Partizip II eines Verbs zusammen mit einem Hilfsverb eingesetzt wird.

Das Bauamt erteilt dem Antragsteller die Genehmigung, von der im Bebauungsplan vorgesehenen Dachneigung abzuweichen.
Dem Antragsteller wird {vom Bauamt} die Genehmigung erteilt, von der im Bebauungsplan vorgesehenen Dachneigung abzuweichen.
Die Genehmigung, von der im Bebauungsplan vorgesehenen Dachneigung abzuweichen, ist dem Antragsteller {vom Bauamt} erteilt.
Der Antragsteller bekommt {vom Bauamt} die Genehmigung erteilt, von der im Bebauungsplan vorgesehenen Dachneigung abzuweichen.

Verbformen, die mit einem dieser Hilfsverben und dem Partizip II eines Verbs zu bilden sind, gelten als Passiv-Formen, alle anderen Verbformen als Aktiv-Formen.

Die Bezeichnungen der beiden im Deutschen verfügbaren Genera verbi als Aktiv und Passiv scheint deren Funktionen bei der sprachlichen Erfassung von Sachverhalten auf den Punkt zu bringen: aktiv aus der Sicht von Handelnden, passiv aus der Sicht jener, die von deren Aktionen betroffen sind.
Tatsächlich ist bei Verwendung von Aktivformen die Position des Subjekts häufig mit Ausdrücken besetzt, die Personen oder Institutionen bezeichnen, die im Sinn des Verbs aktiv werden, während bei Passivformen in dieser Position häufig Bezeichnungen für Personen oder allgemein Gegenstände stehen, die passiv dem Geschehen ausgesetzt sind. Wörtlich nehmen sollte man diese Bezeichnungen freilich nicht, weil sie dann mehr verwirren als erklären.

Verwirrend ist die Bezeichnung besonders bei Formen, die hier als subjektloses werden-Passiv bezeichnet werden. Hier ist ein Komplement, mit dem vom Geschehen Betroffene oder Betroffenes anzugeben wäre, gar nicht erst vorhanden.

Schon beim zweiten Stück singt der Saal mit, und in den Ecken wird getanzt.
(Berliner Zeitung 14.11.1997, 20)
Da wird gewaltig getrommelt und Flöte gespielt, vor allem aber glitzern die Uniformen.
(Berliner Zeitung 22.5.1998, 8)

Hinsichtlich Verbmodus, Numerus und Person verhalten sich Passivformen nicht anders als Aktivformen. Auch in den Tempusformen stimmen Aktiv und Passiv weitestgehend überein. Nur die beiden Formen des werden-Passivs zeigen bei der Bildung der komplexen Tempusformen Futurperfekt, Präsensperfekt, Präteritumperfekt eine Abweichung des Passiv-Hilfsverbs gegenüber der Formbildung bei dem entsprechenden Kopulaverb.

Der Film ist ausgesprochen lang geworden.
Der Film ist zu stark belichtet worden.

Die Besonderheiten der Genera verbi lassen sich am besten erfassen, wenn man sie im Kontrast beschreibt, denn, für sich betrachtet, ist jede Form, wie sie nun eben ist. Erst im Kontrast zeigt sich etwa, dass einem Komplement in der Aktivform ein anderes in der Passivform entspricht oder dort keine Entsprechung hat.

Aktiv und Passiv im Kontrast zu betrachten bedeutet nicht, eine Form als grundlegend zu betrachten und die andere aus ihr herzuleiten. Die Dynamik, die viele Beschreibungen der Beziehung zwischen beiden Genera verbi ins Spiel bringen - Das Akkusativkomplement wird zum Subjekt oder in einem ersten Schritt wird das Subjekt zum 'chômeur' - ist allein der Theorie geschuldet.

Zwar spricht einiges dafür, dass sprachgeschichtlich die Aktivformen älter sind, doch die historischen Prozesse sind bei der Erfassung der heutigen Verhältnisse nicht länger in Rechnung zu stellen, auch wenn sie im Sinn der Häckelschen These von der Rekapitulation der Phylogenese in der Ontogenese auch beim primären Spracherwerb wirksam werden sollten.

Die Genera verbi Aktiv und Passiv bilden ein ungleiches Paar

  • Während jedes Verb im Deutschen über Aktivformen verfügt, finden sich ganze Klassen von Verben, die entweder überhaupt keine Bildung von Passivformen zulassen (etwa gelingen, entstehen, gleichen) oder nur in sehr speziellen Kontexten in solcher Form zu verwenden sind.
  • Das Aktiv ist, wo überhaupt beide Optionen gegeben sind, eindeutig das Standard-Genus. Es stellt Sachlagen so dar, wie sie meist dargestellt werden sollen: mit Angabe aller Komplemente, die in der Valenz des verwendeten Verbs verankert sind, insbesondere mit Angabe dessen, was als Subjekt artikuliert wird und im Passiv ungenannt bleibt oder marginalisiert wird. Das Passiv kann entsprechend als markierte Form gelten.
  • Wer über die Aktivformen verfügt, könnte als Sprecher oder Schreiber - prinzipiell - ganz auf entsprechende Passivformen verzichten, ohne gravierende Einschränkungen seiner Kommunikationsmöglichkeiten befürchten zu müssen. Ausschließlich mit Passivformen dagegen dürfte man sehr bald in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

Während es nur ein Aktiv gibt, lassen sich im Passiv gleich drei Formen unterscheiden, von denen zwei auch noch zwei Unterarten aufweisen:

Da Aktiv und Passiv zur Erfassung identischer Sachverhalte eingesetzt werden können, ohne in jeder Hinsicht identische Darstellungen zu geben, sind auch semantische Aspekte der Aktiv-Passiv-Opposition und Aktiv und Passiv im Gebrauch von besonderem Interesse.

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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