Sein-Passiv
(Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum)
Das Haar ist implantiert, also Haar für Haar einzeln ...
(Ben Becker, SWR Leute 1996)
... mit Gesprächen allein ist den Süchtigen aber nicht geholfen.
(Spiegel 5.11.1990, 120)
Es sei darauf hingewiesen, daß diese Fragestellung viel älter ist und zumindest seit dem Aufkommen des Christentums diskutiert wird.
(Berliner Zeitung 14.4.1999, 15)
Das sein-Passiv und das werden-Passiv haben gemeinsam, dass es jeweils eine Form mit Subjekt gibt wie in den beiden ersten Beispielen und eine subjektlose Form wie in den beiden letzten Beispielen.
Die Art der semantischen Beziehung zwischen einer Formulierung im sein-Passiv und einer Formulierung im werden-Passiv lässt sich näher bestimmen, wenn man transformative und nicht-transformative Verben bzw. Verbgruppen in den beiden Passivformen unterscheidet.
Neben der Transformativität scheint auch Telizität beim sein-Passiv eine Rolle zu spielen. Explizit telische Verbgruppen werden im sein-Passiv relativ häufig gebraucht:
(Rhein-Neckar-Zeitung 9.7.1990, 1)
Es ist vollbracht!
Die Zustandsform kann auch bei ansonsten nicht-telischen oder nicht eindeutig telischen Verben Telizität bewirken:
Seit drei Tagen war er entdeckt.
Nicht alle nicht-telischen Verben haben diese Disposition zur Telizität in den Zustandsformen. Disposition zur Telizität kann wie generelle Telizität herangezogen werden, wenn auf die Restriktionen bei subjektlosem Passiv eingegangen wird.
Hinzu kommen diese Einschränkungen:
1. Verben, deren Perfektformen mit haben gebildet werden
Verben, deren Perfektformen mit haben gebildet werden, können sein-Passivformen bilden, sofern sie auch die Bildung eines werden-Passivs erlauben und in ihrer lexikalischen Grundausstattung neben dem Subjekt über mindestens ein weiteres Komplement verfügen.
Den hochgesteckten Erwartungen ist Genüge getan.
Jedoch kann trotz In der Schule wird nicht gelacht nicht gebildet werden *In der Schule ist nicht gelacht, denn bei in der Schule handelt es sich nicht um ein Komplement.
2. Verben, deren Perfektformen mit sein gebildet werden
Verben, deren Perfektformen mit sein gebildet werden, können sein-Passivformen bilden, sofern sie auch die Bildung eines werden-Passivs erlauben und in ihrer lexikalischen Grundausstattung ein nicht-personales Kakk vorgesehen ist.
Jedoch wird nicht gebildet *Auf den Berg ist bereits gestiegen, als Reinhold eine Erstbesteigung versucht.
3. Verben, die Aktivitäten kurzer Dauer bezeichnen
Verben, die Aktivitäten kurzer Dauer bezeichnen, sogenannte punktuelle Verben, lassen kein sein-Passiv zu, sofern keine Disposition zur Telizität vorliegt. Hierher gehören grüßen, ohrfeigen, erblicken, umarmen, sehen, hören. Eine Disposition zur Telizität haben zum Beispiel finden, entdecken, erkennen. Mit der Telizität der Zustandsform ist hier ein weiterer Faktor verknüpft:
Zustände, wie sie mit Er war entdeckt/ gefunden/ erkannt beschrieben werden, sind in der Regel für die Beteiligten wichtiger als flüchtige, nicht-telische punktuelle Ereignisse. Dies mag auch bei den relativ häufigen Verwendungen des sein-Passivs in Verbindung mit institutionellen oder bürokratischen Akten eine Rolle spielen.
(Eugen Gerstenmaier, 7. 11. 1961, Deutscher Bundestag)
Sie sind vorgemerkt/ als Wehrdienstverweigerer anerkannt.
Das Kind ist getauft.
4. Verben, die kognitive oder emotionale Beziehungen zwischen Menschen und Gegenständen ausdrücken sowie nicht-transformative Handlungsverben
Verben, die kognitive oder emotionale Beziehungen zwischen Menschen und Gegenständen ausdrücken sowie nicht-transformative Handlungsverben wie führen, beachten, beobachten, suchen, fördern, pflegen usw. lassen ein sein-Passiv oft nur in bestimmten Verwendungsweisen oder idiomatisierten Verbindungen zu.
? Sie ist von uns geachtet/ gefürchtet/ umschwärmt/ geliebt/ gehasst.
Sie ist hier nur geduldet.
Sie ist hier gern gesehen.
Das Hotel ist gut geführt.
Auch der Relevanzaspekt kann hier wieder geltend gemacht werden.
(Spiegel 12.4.1993, 149)
Siehe vertiefend
Allgemeine sein-Konverse und nicht-konverse Zustandsformen