Sind die Zustandsformen mit sein überhaupt Verbformen?
Nicht alles spricht für eine Einordnung der sein-Konstruktionen, insbesondere des sein-Passivs, als periphrastische Verbformen.
Was dagegen spricht:
Manches spricht eher für eine Einordnung als Kopulakonstruktion, wobei das Partizip II dann der Klasse der Adjektive zuzuschlagen und als Kprd einzuordnen wäre:
Indiz 1
Kopulakonstruktion und sein-Zustandsformen sind semantisch vergleichbar. Würde etwa verängstigt analog zu Adjektiven wie traurig, froh als einstelliger Prädikatsausdruck im Sinne von 'in einen Zustand der Angst versetzt' interpretiert, so entstünde in Verbindung mit der Interpretation der Kopula letztlich die gleiche Konstruktionsbedeutung wie für die periphrastische Verbalform.
Indiz 2
Viele Partizipien II haben sich gegenüber der Verbbedeutung verselbständigt (Beispiele (a)) und müssen als lexikalisierte Formen, also als Adjektive, behandelt werden, oder es existieren eine systematische und eine verselbständigte Bedeutung nebeneinander (Beispiele (b)), oder die noch als Partizipialbildungen erkennbaren Adjektive haben kein exaktes verbales Pendant (mehr), sondern sind etwa durch Präfixe oder Kompositionsbestandteile erweitert oder haben einen anderen Valenzrahmen als das Verb (Beispiele (c)):
Verwendung als Adjektiv:
Verwendung als Verbform:
Das Verb anweisen etwa sieht kein Kprp vor:
Jedoch:
Indiz 3
Partizipien II können wie Adjektive auch mit anderen Kopulaverben verbunden werden, etwa bleiben oder wirken:
Indiz 4
Partizipien II können in Verbindung mit sein oder anderen Kopulaverben durch adjektivspezifische Intensitätsausdrücke wie ganz, total, relativ, verhältnismäßig und zu modifiziert werden:
Indiz 5
Partizipien II können in Verbindung mit sein, scheinen, bleiben das Adjektivpräfix un- erhalten.
Was dafür spricht:
Andere Indizien sprechen gegen eine Analyse der Partizipien in den Zustandsformen als Adjektive (und damit für die Einstufung als Verbformen), wobei gerade die Unterschiede zwischen Partizipien und lexikalisierten Adjektivverwendungen aussagekräftig sind:
Indiz 6
Wie in den anderen periphrastischen Formen sind die Partizipien II in Zustandsformen nicht steigerungsfähig. Graduierung wird vielmehr durch das verbspezifische und bei Adjektiven ausgeschlossene mehr erreicht.
versus
Dies gilt auch für die allgemeine sein-Konverse:
Als Adjektive lexikalisierte Partizipien dagegen sind - sofern die semantische Disposition vorhanden ist - steigerungsfähig:
Indiz 7
Das Verb im Zustandspassiv kann wie jede andere Verbform durch Verbgruppen-Adverbialia modifiziert werden:
wie
Diese Modifikation ist bei Adjektiv-Kopula-Prädikatsausdrücken nicht möglich:
Indiz 8
Verbindungen von werden und Partizip II werden als werden-Passiv verstanden, nie, außer in den lexikalisierten Fällen, als Kopulaverb werden + Adjektiv. Entsprechende Koordinationen aus werden-Passiv und Kopulakonstruktion wirken zeugmatisch (= wie zusammengesetzt aus nicht zueinander passenden Teilen). Entsprechendes gilt - wenn auch schwächer - für das sein-Passiv:
Dagegen:
Indiz 9
Partizipien II zu intransitiven haben-Verben können nicht attributiv verwendet werden (Hans ist geholfen - *der geholfene Hans, für Getränke ist gesorgt - *die gesorgten Getränke. Will man auch hier an der Analyse der Zustandsformen als Kopulakonstruktion festhalten, müssten die Partizipien der Klasse der Adkopula zugeordnet werden, nicht den Adjektiven.
Entsprechend finden sich sowohl Zustandsformen mit sein - also vor allem sein-Konversen - als auch Kopulakonstruktionen mit Partizipien II. Das bedeutet, dass sein-Konstruktionen, die eher adjektivische Züge aufweisen, also etwa (ii) bis (v), als Konstruktionen mit dem in ein Adjektiv konvertierten Partizip aufzufassen sind. Dagegen sind sein-Konstruktionen mit verbalen Zügen, also etwa (vi) bis (ix), Zustandsformen des verbalen Paradigmas. Sie enthalten das Partizip vor der Konversion.