Sein-Passiv und werden-Passiv bei transformativen und nicht-transformativen Verben

Bei transformativen Verben bezeichnet das sein-Passiv den Zustand, der sich infolge eines resultativen Ereignisses ergibt. Ereignis und Zustand können dabei nicht gleichzeitig der Fall sein. Vom Bestehen des Zustandes kann jedoch darauf geschlossen werden, dass das Ereignis vorangegangen ist. Das sein-Passiv bringt eine zeitliche Tiefendifferenzierung ins Spiel, die sonst innerhalb einer Konstruktion nicht erreicht werden kann. Bei der Korrelation von Ereignis und daraus resultierendem Zustand ist zu beachten, dass ereignisbezogene Adverbialia in der Formulierung des Resultatszustandes nicht mehr verwendet werden können:

Das entlaufene Nashorn ist heute Morgen eingefangen worden.

versus

*Das entlaufene Nashorn ist heute Morgen eingefangen.

Umgekehrt sind zustandsbezogene Temporaladverbialia nicht auf das vorausgehende Ereignis hochzurechnen. So kann etwa von:

Tags darauf waren die Kirschen gestohlen.

nicht darauf geschlossen werden, dass gilt:

Man hatte die Kirschen tags darauf gestohlen.

sondern nur, dass gilt:

Man hatte die Kirschen irgendwann tags darauf oder noch am selben Tag gestohlen, jedenfalls aber vor dem Betrachtzeitintervall für den Zustand.

Bei Verben, die nicht transformativ sind, bezeichnet das sein-Passiv einen Zustand, der mit dem nicht-resultativen Ereignis oder dem im werden-Passiv formulierten Zustand koexistent ist. Die entsprechenden Propositionen treffen unter denselben Bedingungen zu. Der Sachverhalt wird jedoch - in subtiler, oft zu vernachlässigender Weise - jeweils verschieden interpretiert.

Bezeichnet bereits das werden-Passiv einen Zustand wie etwa in:

Das ganze Viertel wird von einer drei Meter hohen Mauer eingeschlossen.

lässt sich auch mit viel Fantasie schwerlich ein Bedeutungsunterschied zum entsprechenden sein-Passiv:

Das ganze Viertel ist von einer drei Meter hohen Mauer eingeschlossen.

bestimmen. Sofern hier überhaupt von Unterschieden in den Verwendungsbedingungen die Rede sein kann, handelt es sich um Nuancen zwischen Textsorten: Während die Formulierung mit sein-Passiv typischerweise in einem eher nüchternen Bericht zu erwarten ist, finden sich entsprechende Formulierungen mit werden-Passiv typischerweise in Bild- und Landschaftsbeschreibungen, die, was sich als optischer Eindruck auf einen Blick erschließen würde, gleichsam schrittweise - und insofern als Beschreibung dynamisch - zur Kenntnis bringen.

Zustands-Propositionen, denen jeweils nicht-resultative Vorgangs- oder Aktivitätspropositionen entsprechen, liegen etwa hier vor:

Um diese Fertigungsaufgaben erfüllen zu können, waren wir gezwungen, die benötigten Einrichtungen anzuschaffen oder selbst zu entwickeln.
[Lehrheuer,W.*, Schweiß- und Lötverfahren...; Kerntechnik...: H.4, S.157f.]
Für uns im Westen, die wir mit unserer BRD-Identität bestens bedient waren, erscheint eine deutsche Gemeinschaftlichkeit überflüssig.
[Spiegel 1993, Das Volk, die Wut, die Gewalt, S. 30 ]

Eine wichtige Rolle spielen beim sein-Passiv oder allgemein bei der sein-Konverse Zustandsbezeichnungen mit nicht-personalem Kprp, die Verben mit transformativ-agentiver/kausativer und nicht-transformativ - nicht-agentiver/nicht-kausativer Lesart enthalten.

In transformativer Lesart handelt es sich meist um lokale Relationsverben:

Die Zimmer waren durch eine Tür miteinander verbunden.

Bei transformativ-agentiver Lesart:

Man hatte die Zimmer durch eine Tür miteinander verbunden.

Bei nicht-transformativ - nicht-agentiver Lesart:

Die Zimmer verband eine Tür miteinander.

Diese Zweideutigkeit findet sich systematisch bei Handlungsverben mit zusätzlichem Ereignisbeteiligten (Instrument, Mittel). Zu nennen sind Verben wie verbinden, trennen, teilen, schneiden, bedecken, beschweren, verschließen, beleuchten:

Er hatte eine dicke Mopsnase, welche durch einen Studentenhieb in zwei Abteilungen geteilt war, zum Denkzeichen einer großen Vornäsigkeit in der Jugend.
[Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 58219]
..., ich schaute nur auf den Vorhang, der von den Lampen des Podiums und der Musikantenpulte feierlich beleuchtet war.
[Theodor Storm: Pole Poppenspäler, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 92764]
Als er aufblickte, biß gerade die Krämerin in ein Stück Kuchen, das mit brauner Marmelade bedeckt war.
[Franz Kafka: Prosa aus dem Nachlaß, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 56793 ]

Häufig schließt der Kontext die transformativ-agentive Lesart jedoch aus, wenn etwa das Kprp Naturgegebenheiten benennt, die ja nicht auf handelndes Eingreifen zurückzuführen sind:

Die Wohnsiedlung ist von der Stadt durch den Fluss getrennt.

Bei einigen Verben kann zusätzlich zur transformativ-agentiven noch eine transformativ-kausative Lesart unterschieden werden: In der agentiven Lesart kann neben dem Handelnden noch ein Mittel oder Instrument genannt werden, in der rein kausativen Lesart nicht. In diesem Fall stehen sich also drei Konstellationen gegenüber:

transformativ-agentivSie bedeckte den Topf mit einem großen Tuch.
transformativ-kausativWährend ich zum Fenster hinaussah, bedeckte allmählich Schnee den ganzen Garten.
nicht-transformativ
nicht-agentiv
In diesem Winter bedeckte Schnee ganz Europa.

Bei den genannten Verben ist neben sein-Passiv auch werden-Passiv möglich:

Sie waren nun schon nah an dem Ziel ihrer Reise, nur stand ihnen das Gebirg entgegen, wodurch das Land Kansan von der Wüste getrennt wird.
[Johann Wolfgang v. Goethe: West-östlicher Divan, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 20860]

Während jedoch die systematische Ambiguität bei den sein-Formen auch erhalten bleibt, wenn kein Kprp vorhanden ist, werden die werden-Formen dann immer transformativ-agentiv interpretiert:

Die Siedlung ist von der Stadt getrennt.

kann zurückgehen auf einen transformativ-agentiven Aktivsatz oder einen nicht-transformativ - nicht-agentiven Aktivsatz, während

Die Siedlung wurde von der Stadt getrennt.

nur dem Aktivsatz

Man trennte die Siedlung von der Stadt.

entsprechen kann.

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