Sein-Passiv und werden-Passiv bei transformativen und nicht-transformativen Verben
Bei transformativen Verben bezeichnet das sein-Passiv den Zustand, der sich infolge eines resultativen Ereignisses ergibt. Ereignis und Zustand können dabei nicht gleichzeitig der Fall sein. Vom Bestehen des Zustandes kann jedoch darauf geschlossen werden, dass das Ereignis vorangegangen ist. Das sein-Passiv bringt eine zeitliche Tiefendifferenzierung ins Spiel, die sonst innerhalb einer Konstruktion nicht erreicht werden kann. Bei der Korrelation von Ereignis und daraus resultierendem Zustand ist zu beachten, dass ereignisbezogene Adverbialia in der Formulierung des Resultatszustandes nicht mehr verwendet werden können:
versus
Umgekehrt sind zustandsbezogene Temporaladverbialia nicht auf das vorausgehende Ereignis hochzurechnen. So kann etwa von:
nicht darauf geschlossen werden, dass gilt:
sondern nur, dass gilt:
Bei Verben, die nicht transformativ sind, bezeichnet das sein-Passiv einen Zustand, der mit dem nicht-resultativen Ereignis oder dem im werden-Passiv formulierten Zustand koexistent ist. Die entsprechenden Propositionen treffen unter denselben Bedingungen zu. Der Sachverhalt wird jedoch - in subtiler, oft zu vernachlässigender Weise - jeweils verschieden interpretiert.
Bezeichnet bereits das werden-Passiv einen Zustand wie etwa in:
lässt sich auch mit viel Fantasie schwerlich ein Bedeutungsunterschied zum entsprechenden sein-Passiv:
bestimmen. Sofern hier überhaupt von Unterschieden in den Verwendungsbedingungen die Rede sein kann, handelt es sich um Nuancen zwischen Textsorten: Während die Formulierung mit sein-Passiv typischerweise in einem eher nüchternen Bericht zu erwarten ist, finden sich entsprechende Formulierungen mit werden-Passiv typischerweise in Bild- und Landschaftsbeschreibungen, die, was sich als optischer Eindruck auf einen Blick erschließen würde, gleichsam schrittweise - und insofern als Beschreibung dynamisch - zur Kenntnis bringen.
Zustands-Propositionen, denen jeweils nicht-resultative Vorgangs- oder Aktivitätspropositionen entsprechen, liegen etwa hier vor:
[Lehrheuer,W.*, Schweiß- und Lötverfahren...; Kerntechnik...: H.4, S.157f.]
[Spiegel 1993, Das Volk, die Wut, die Gewalt, S. 30 ]
Eine wichtige Rolle spielen beim sein-Passiv oder allgemein bei der sein-Konverse Zustandsbezeichnungen mit nicht-personalem Kprp, die Verben mit transformativ-agentiver/kausativer und nicht-transformativ - nicht-agentiver/nicht-kausativer Lesart enthalten.
In transformativer Lesart handelt es sich meist um lokale Relationsverben:
Bei transformativ-agentiver Lesart:
Man hatte die Zimmer durch eine Tür miteinander verbunden.
Bei nicht-transformativ - nicht-agentiver Lesart:
Die Zimmer verband eine Tür miteinander.
Diese Zweideutigkeit findet sich systematisch bei Handlungsverben mit zusätzlichem Ereignisbeteiligten (Instrument, Mittel). Zu nennen sind Verben wie verbinden, trennen, teilen, schneiden, bedecken, beschweren, verschließen, beleuchten:
[Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 58219]
[Theodor Storm: Pole Poppenspäler, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 92764]
[Franz Kafka: Prosa aus dem Nachlaß, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 56793 ]
Häufig schließt der Kontext die transformativ-agentive Lesart jedoch aus, wenn etwa das Kprp Naturgegebenheiten benennt, die ja nicht auf handelndes Eingreifen zurückzuführen sind:
Bei einigen Verben kann zusätzlich zur transformativ-agentiven noch eine transformativ-kausative Lesart unterschieden werden: In der agentiven Lesart kann neben dem Handelnden noch ein Mittel oder Instrument genannt werden, in der rein kausativen Lesart nicht. In diesem Fall stehen sich also drei Konstellationen gegenüber:
transformativ-agentiv | Sie bedeckte den Topf mit einem großen Tuch. |
transformativ-kausativ | Während ich zum Fenster hinaussah, bedeckte allmählich Schnee den ganzen Garten. |
nicht-transformativ nicht-agentiv | In diesem Winter bedeckte Schnee ganz Europa. |
Bei den genannten Verben ist neben sein-Passiv auch werden-Passiv möglich:
[Johann Wolfgang v. Goethe: West-östlicher Divan, Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 20860]
Während jedoch die systematische Ambiguität bei den sein-Formen auch erhalten bleibt, wenn kein Kprp vorhanden ist, werden die werden-Formen dann immer transformativ-agentiv interpretiert:
kann zurückgehen auf einen transformativ-agentiven Aktivsatz oder einen nicht-transformativ - nicht-agentiven Aktivsatz, während
nur dem Aktivsatz
entsprechen kann.