Das Trübsal oder die Trübsal? – Zum Genus von Nomina mit Suffixen
Komplexe Wörter wie Trübsal können wir in zwei Einheiten unterteilen:
Die eine Einheit ist die Basis
(trüb), die andere das Wortbildungsaffix (-sal).
Wortbildungsaffixe, die wir ans Ende eines Wortes anfügen, werden nach lateinisch suffigere 'anfügen'
Suffix genannt. Suffixe bestimmen immer die
grammatischen Merkmale des gesamten Wortes: -sal ist zum Beispiel ein
nomenbildendes Suffix;
Trübsal ist demnach ein Nomen. Auch das Genus wird vom Suffix festgelegt.
Das Scheusal bläst das Trübsal?
Die viel genutzten Suffixe sind alle genusstabil: Es heißt der
Gänserich, der Täuberich,
die Verantwortung, die
Zerstreuung, die Zartheit,
die Klugheit, das Lämmlein
und das letzte Stündlein. Normalerweise kann man also aus der
Kenntnis eines komplexen Wortes wie die Zartheit auf das Genus
eines komplexen Wortes wie Assoziiertheit oder
Relaxtheit schließen.
Bei einigen weniger genutzten Suffixen haben sich allerdings verschiedene Genera
ergeben, übrigens nie mehr als zwei und immer ist das Neutrum dabei: So heißt es das
Geheimnis und die Finsternis,
das Bündel und der Krümel.
Ein anschauliches Beispiel für diese sprachhistorisch wildgewachsene Genusinstabilität ist
auch das mal Neutra, mal Feminina bildende Suffix -sal, bei
dem sogar einzelne Bildungen mit beiden Genera in Gebrauch sind:
das Scheusal | die Trübsal |
das
Schicksal | die
Mühsal |
das
Rinnsal | |
das
Wirrsal | die Wirrsal |
das
Drangsal | die Drangsal |
das
Labsal | die Labsal |
Belege für den genusvariablen Gebrauch finden sich zahlreich; der variable Gebrauch ist offenbar weder epochen- noch sprachgebietsbedingt:
Man zerstreute sie im ganzen Ort, die Musiker, Erzähler,
Puppenspieler, Bänkelsänger, Filmvorführer und Würstelbrater, und schuf so ein
Wirrsal aus Tönen und Texten, aus Stimmen und Geräuschen.
[Kleine
Zeitung, 25.07.2000]
Zwischen leuchtenden Handschriften und Münzen und Kelchen und
all den anderen Fragmenten einer großen, aus Geist und Gewalt gemengten Epoche erinnern den
Besucher Arbeiten von Arnulf Rainer, Barnett Newman, Shirin Neshat, Micha Ullman, Kamal
Boullata und vielen anderen an das Wirrsal aus Öl und Blut, Golf- und
Glaubenskriegen, das heute die Welt bedrückt.
[Die Zeit, 3.7.2003]
Aus solcher Wirrsal schickt der argentinische
Regisseur Fernando Solanas ("Sur") seinen Helden auf die alte Suche nach dem wirklichen
Vater, der so fern ist wie trostreich, und "Die Reise" beginnt, die große.
[Taz,
15.7.1993]
Mit einer Filmjournalistin befreundet zu sein ist - wie aus
gewissen erfahrenen Kreisen verlautet - ohnehin eine recht mühselige Angelegenheit. Während
der Berlinale verwandelt sich diese Freundschaft aber in wirkliche Pein, in ein
Drangsal ohne Ende.
[Taz, 22.3.1993]
Seltsamerweise bereitet es den Iren kein Vergnügen, alle paar
Minuten aufzuspringen und Gespräche veröden zu lassen, um draußen vor der Tür hastig und
diskriminiert ihr Quantum Tabak wegzuputzen. Vor dieser Drangsal flüchten sie
ins Private.
[Taz, 6.8.2004]
Palermo , Montag , den 16. April 1787 . da wir uns nun selbst
mit einer nahen Abreise aus diesem Paradies bedrohen müssen , so hoffte ich , heute noch im
öffentlichen Garten ein vollkommenes Labsal zu finden , mein Pensum in der "
Odyssee " zu lesen und auf einem Spaziergang nach dem Tale am Fuße des Rosalienbergs den
Plan der " Nausikaa " weiter durchzudenken.
[Goethe: "Italienische Reise",
Hamburger Ausgabe, Band 11, S. 266]
Vor allem sind Hormuths intelligente Texte ein
Labsal für jene Zeitgenossen, die es zu schätzen wissen, dass da einer glänzend
unterhält, ohne die Sprache der Dichter und Denker auf Schritt und Tritt zu
verraten.
[Mannheimer Morgen, 06.10.2001]
Bei jedem Versuch muss der Wille zum Einlochen erkennbar
sein. Nicht zulässig ist es, die Murmel absichtlich vom Klickerloch wegzuspielen, zu lange
mit dem Zeigefinger zu führen sowie "um des schnöden Sieges willen auf die
Labsal eines kühlen Bieres zu verzichten", so ein
Teilnehmer.
[Mannheimer Morgen, 2.9.2004]
Während das Suffix -nis durchaus vital ist und gar nicht
so selten auch okkasionell verwendet wird
...
Mehr als Bedauernis konnte er einer Mutter
leider nicht bieten, deren Sohn gut elf Jahre Mineralogie studierte und jetzt bereits 300
Absagen kassierte.
[Mannheimer Morgen, 10.06.1995]
Für frisch Zugezogene ist Berlin ein Irrgarten. Nun ist es
nicht ungewöhnlich, dass sich Menschen in Großstädten verlaufen - dafür gibt es ja diese
meist zeltartigen Faltpläne. Wenn dem Neuzugang das Verläufnis allerdings
derart einfach gemacht wird, dann liegt es nicht allein am Irrgänger.
[Taz,
14.10.2002]
Mit solchen Widerworten piesackte Gernhardt - "Raddatzong,
Raddatzong" - einen Mann, den er auch später noch des Öfteren genießerisch als "Fritz
'Jrammatikschänder' Raddatz" vorführte, und man darf annehmen, dass Raddatz den
märchenhaften Erfolg des Lyrikers Gernhardt in den Neunzigerjahren mit wachsender
Erbitternis verfolgt hat.
[Taz, 16.12.2002]
... wird mit -el oder -sal nicht mehr wirklich frei
wortgebildet; Gelegenheitsbildungen orientieren sich sprachspielerisch an den wenigen
etablierten Bildungen wie Schicksal:
Es besteht jedoch
ein Unterschied, ob man sich freiwillig in eine Ausstellung begibt oder ob man das
"Stricksal" der gefesselten Kirschblüte auf der Bregenzer Stadtstraße jeden
Tag gezwungenermaßen vor Augen hat.
[Vorarlberger Nachrichten, 15.07.1999]