Es gibt zwei Sorten von Menschen,
die einen glauben an das
Prinzip der Binarität,
die andern nicht.
Wörter sind entweder simplizisch oder komplex:
Wer möchte, kann zwischen komplexen Wörtern mit und komplexen Wörtern ohne Wortbildungsaffix unterscheiden: Komplexe Wörter wie Schächtelchen, bei deren Aufbau unmittelbar ein Wortbildungsaffix beteiligt ist, heißen explizite Derivate; komplexe Wörter wie Hutschachtel, bei deren Aufbau unmittelbar kein Wortbildungsaffix beteiligt ist, heißen Komposita. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, weil sich die Einheiten von Komposita und expliziten Derivaten unterscheiden: Im Gegensatz etwa zu Wörtern sind Wortbildungsaffixe nämlich Einheiten, die nicht frei in Texten vorkommen können (ich habe gestern ein *-chen gesehen).
Weitere sinnhaltige Einheiten komplexer Wörter sind
Im Normalfall lassen sich komplexe Wörter in zwei Teile teilen; es gilt das Prinzip der Binarität: Teilen lassen sich
Hutschachtel in
Hut +
Schachtel
Hutschachtelfabrikant in Hutschachtel
+ Fabrikant
Hutschachtelfabrikantentochter in
Hutschachtelfabrikant +
Tochter
Hutschachtelfabrikantentochterhut in
Hutschachtelfabrikantentochter + Hut
Die beiden Einheiten sind hierarchisch angeordnet:
Im Deutschen ist immer die letzte, die rechte Einheit syntaktisch dominant. Immer die rechte Einheit legt die grammatischen Merkmale des gesamten Wortes fest, etwa die Wortart oder das Genus. So ist Hutschachtel wegen Schachtel ein feminines Nomen, Schächtelchen ist wegen -chen ein neutrales Nomen. Syntaktisch Bezug genommen werden darf eigentlich nur auf die rechte Einheit; Erich Kästners saure Gurkenfabrik ist ein Witz wider die Regel. Vgl. dazu auch Die Bezugnahme auf Ersteinheiten von Komposita.
Auch die Bedeutung eines komplexen Wortes wird im Normalfall von der rechten Einheit
festgelegt:
Hutschachtel bezeichnet eine
Schachtel
Hutschachtelfabrikant bezeichnet einen
Fabrikanten
Hutschachtelfabrikantentochter bezeichnet eine
Tochter
Hutschachtelfabrikantentochterhut bezeichnet einen Hut
In anderen Sprachen ist das mitunter anders: So bezeichnet frz. cigarette-filtre keinen Zigarettenfilter, sondern eine Filterzigarette; wegen la cigarette ist cigarette-filtre ein feminines Nomen; die dominante Einheit ist hier die erste, die linke.
Komposita dieses Typs bestehen aus einer semantisch übergeordneten Einheit, dem Grundwort, z.B. Schachtel in Hutschachtel, und einem semantisch untergeordneten Bestimmungswort, z.B. Hut in Hutschachtel. Solche Komposita funktionieren immer nach dem Muster 'ein x, und zwar....', z.B. 'eine Schachtel, und zwar eine für einen Hut', 'ein Fabrikant, und zwar einer für Hutschachteln'. Auch die Einheiten expliziter Derivate beziehen sich meist so aufeinander. Allerdings gilt hier nicht regelmäßig die Rechtsköpfigkeitsregel: So dominiert in Kindchen das Wort Kind die Bedeutung, denn ein Kindchen ist ein Kind, und zwar ein kleines, ein niedliches. Vgl. Das determinierende Wortbildungsaffix und Das determinierte Wortbildungsaffix.
Die Art der Verzweigung eines komplexen Wortes wird vor allem nach Bedeutungskriterien ermittelt: Komplexe Wörter sind meist linksverzweigt, z.B. Hutschachtelfabrikantentochterhut oder Tüllgardinenstange, seltener rechtsverzweigt, z.B. Metallgardinenstange, am seltensten beidseitig verzweigt, z.B. Edelmarzipankonditortorte. Vgl. Die Kompositastruktur im Baumdiagramm.
Komplexe Wörter, die nicht dem Prinzip der Binarität unterliegen, sind die sogenannten Kopulativkomposita. Das sind Komposita, deren Einheiten gleichgeordnet sind, z.B. in ein schwarzweißes Schachbrett,Claras gelb-blau-lilanes Kleid.
Solche Komposita funktionieren nicht nach dem Muster 'ein x, und zwar...'. Schwarzweiß ist ja nicht weiß, und zwar auf schwarze Art, sondern schwarz und weiß.