Es war einmal eine kleine süße Dirne,
die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah,
am allerliebsten aber
ihre Großmutter,
die wußte gar nicht, was sie alles dem Kinde geben
sollte.
Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet,
und
weil ihm das so wohl stand
und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur
das Rotkäppchen.
[Kinder- und Hausmärchen, gesammelt von
Jacob und Wilhelm Grimm 1819, S. 174]
Das Problem: Rotkäppchen hat grammatisch wegen der Endung -chen ein neutrales Geschlecht (das Rotkäppchen wie das Männchen, das Weibchen, das Herzchen), aber biologisch ein weibliches Geschlecht — und auf weibliche Lebewesen verweisen wir grammatisch üblicherweise mit sie, die, ihre usw. Wie heißt es also? Seine Großmutter oder ihre Großmutter?
Der Terminus grammatisches Geschlecht oder Genus (lat. genus 'Geschlecht, Gattung, Art') beruht auf der alten Idee, es gebe einen Zusammenhang von Genus und Sexus, von grammatischem und biologischem Geschlecht (lat. sexus 'biologisches Geschlecht des Menschen'). Vgl. ausführlich: Genus und Sexus. Auch den drei deutschen Genera haben frühere — von der lateinischen Grammatik geprägte — Sprachwissenschaftler sexualistische Termini gegeben:
Dennoch weiß natürlich jedes Kind, dass das Genus, das grammatische Geschlecht, und der Sexus, das biologische Geschlecht, keineswegs immer übereinstimmen: "Oder glaubt einer, alle Igel seien männlich und alle Fliegen weiblich? Wir wissen schon Bescheid, aber es interessiert uns eben nicht" (Heringer 1995, S. 208). Und auch, wo es uns interessiert, "gibt es Ausnahmen [...], ja sogar paradoxe Genusvergaben: der Weisel (Bienenkönigin), die Drohne (männliche Biene)" (Wegera 1997, S. 13).
Üblicherweise verwenden wir das grammatische Geschlecht ungeachtet des Sexus und insofern besteht auch üblicherweise die übliche formale Korrespondenz zwischen einem Nomen und allen auf dieses Nomen bezogenen Einheiten. So wie wir sagen Das Haus ist erst zwei Jahre alt, aber es ist schon ziemlich baufällig sagen wir auch:
Bei Nomina, bei denen uns stört, dass ihr grammatisches Geschlecht nicht dem biologischen Geschlecht des Bezeichneten entspricht, wählen wir aber auch oft eine dem biologischen Geschlecht entsprechende Form:
Naturgemäß fällt uns der Unterschied zwischen Genus und Sexus besonders bei Bezeichnungen für Menschen auf; nur dort wird allenthalben variiert:
Daher sind die Unregelmäßigkeiten beim Reden über Menschen geradezu regelmäßig zu nennen:
Beides ist gebräuchlich und der Gebrauch bestimmt die Regel:
Literatur: Thurmair 2006