"Die Würde des Menschen ist unantastbar" — Bedeutung von Adjektiven mit -bar

"Die Würde des Menschen ist unantastbar."
(Art 1.1 des Grundgesetzes für die
Bundesrepublik Deutschland)

Ist die Würde des Menschen wirklich unantastbar? Diese Frage haben sich schon viele Leser des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Nicht alle haben zustimmend darauf geantwortet (vgl. etwa Meinhof 1962 oder Dahl 2010). Es scheint ja auf der Hand zu liegen: Die Würde des Menschen ist antastbar. Das hatte der Nationalsozialismus bis kurz vor der Formulierung des Grundgesetzes nur zu deutlich gezeigt, und auch in der heutigen Welt kann man sich mühelos davon überzeugen. Haben die sogenannten "Väter des Grundgesetzes" also gelogen?

Ein wichtiger Teil dieser Frage kann, unabhängig von aller politischen Brisanz, grammatisch beantwortet werden. Er betrifft die Bedeutung des Suffixes -bar, mit dem Adjektive aus Verben abgeleitet werden können (vgl. Donalies 2008).

Nach der Duden-Grammatik (2009: 755) hat -bar eine "passivisch-modale" Hauptbedeutung: Adjektive auf -bar geben an, was mit einer Sache getan werden kann. Essbare Pilze zum Beispiel sind Pilze, die gegessen werden können; ein antastbares Geldvermögen ist ein Geldvermögen, das angetastet werden kann. Der modale Sinn von -bar weist also – ebenso wie das Modalverb können – auf eine Möglichkeit hin.

Von den meisten Interpreten werden die "Väter des Grundgesetzes" allerdings nicht so verstanden, dass sie behaupten wollten, es sei unmöglich, die Menschenwürde anzutasten, sondern so, dass sie das Antasten der Menschenwürde verbieten wollten. Sie wollten keine Tatsachenbeschreibung geben, sondern eine Norm setzen. Haben sie sich dann korrekt ausgedrückt, indem sie das Suffix -bar verwendeten?

Möglichkeit kann in verschiedenen Bezugssystemen bestehen. Semantiker wie John Lyons (1977, S. 791ff.) und Angelika Kratzer (1991) unterscheiden zwischen faktischer Möglichkeit, Denkmöglichkeit und ethischer Möglichkeit. Vergleichen wir die folgenden Beispiele:

(1) Otto kann das Grundgesetz nicht lesen. Er ist Analphabet.
(2) Otto kann das Grundgesetz missverstanden haben. Er ist doch Analphabet.
(3) Sie können Otto nicht so abstrafen. Er ist doch Analphabet.

Wer (1) äußert, bezieht sich auf eine faktische Möglichkeit, in diesem Fall eine Fähigkeit, die der besprochenen Person fehlt (zu verschiedenen Arten faktischer Möglichkeit vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1888ff.). Mit (2) wird eine Vermutung geäußert. Angesichts dessen, was der Sprecher weiß, ist es möglich zu glauben, dass sie zutrifft. In solchen Fällen spricht man von epistemischer Möglichkeit (Denkmöglichkeit). (3) bezieht sich auf eine ethische Möglichkeit, auf eine Norm. Angesichts dessen, was im betreffenden Kulturkreis als akzeptables Verhalten gilt, betrachtet es der Sprecher als ethisch unmöglich (unzulässig), dass der Adressat sich auf die beschriebene Weise verhält.

Das Modalverb können kann eine Möglichkeit in jedem der drei Bezugssysteme anzeigen: faktische Möglichkeit, epistemische Möglichkeit und ethische Möglichkeit. Wie es in einem konkreten Satz zu verstehen ist, muss danach entschieden werden, welche Lesart im Kontext Sinn ergibt.

Als Anzeiger für epistemische Möglichkeit kann anstelle von können auch gut vielleicht verwendet werden. Als Anzeiger für ethische Möglichkeit ist in der Schriftsprache dürfen gebräuchlicher als können:

(4) Vielleicht hat Otto das Grundgesetz missverstanden. Er ist doch Analphabet.
(5) Sie dürfen Otto nicht so abstrafen. Er ist doch Analphabet.

Auch das Suffix -bar kann faktische, epistemische oder ethische Möglichkeit anzeigen.

  • Faktische Möglichkeit: genießbar, lesbar, abwaschbar usw.

Eine Frucht ist genießbar ('kann genossen werden'), wenn faktische Bedingungen vorliegen, die damit kompatibel sind, sie zu verzehren, insbesondere wenn sie ungiftig ist. Das Grundgesetz ist für Otto lesbar ('kann von Otto gelesen werden'), wenn die dafür notwendigen faktischen Bedingungen erfüllt sind, unter anderem die, dass Otto das Lesen beherrscht.

  • Epistemische Möglichkeit: denkbar, vorstellbar, vermutbar, annehmbar u.a.

Denkbar ist alles, was in Gedanken Platz findet. Dazu gehören auch Aussagen, z.B. die, dass Otto das Grundgesetz missverstanden hat. Aussagen bzw. ihre Wahrheit sind denkbar ('können gedacht werden'), wenn die verfügbaren Informationen es erlauben, sie für wahr zu halten.

  • Ethische Möglichkeit: jagdbar, anfechtbar, unentschuldbar u.a.

Jagdbares Wild ist Wild, das nach den gesetzlichen Vorschriften gejagt werden darf. Schulnoten sind anfechtbar, wenn Vorschriften es erlauben, sie anzufechten. Ein unentschuldbarer Fehltritt ist ein Fehltritt, der nach den ethischen Vorstellungen des Sprechers nicht entschuldigt werden darf.

Einige der genannten bar-Bildungen sind in ihrer Bedeutung eindeutig auf faktische, epistemische oder ethische Möglichkeit festgelegt. Wer etwa das Adjektiv jagdbar im Sinne einer faktischen Möglichkeit verwendet – ein Tier, das sich so langsam fortbewegt wie ein Igel, kann man nicht jagen; deshalb sind Igel nicht jagdbar –, der gebraucht es falsch. Die meisten bar-Bildungen erlauben jedoch mehrere Lesarten:

(6) Die Menge an Öl, die ins Meer gelaufen ist, ist unvorstellbar.
(7) Dass niemand etwas bemerkt hat, ist unvorstellbar.
(8) Eine Wiedereinführung der Todesstrafe ist unvorstellbar.

Unvorstellbar ('kann nicht vorgestellt werden') ist in (6) bevorzugt im Sinne einer faktischen Unmöglichkeit zu verstehen: Menschliche Vorstellungskräfte reichen nicht aus, um die Ölmenge zu erfassen. In (7) liegt epistemische Unmöglichkeit näher: Die verfügbaren Informationen schließen es aus, dass die beschriebene Annahme zutrifft. (8) deutet eher auf ethische Unmöglichkeit hin: Der Sprecher betrachtet die Wiedereinführung der Todesstrafe als inkompatibel mit allgemein anerkannten Normen.

Insgesamt ist faktische Möglichkeit die typischste Lesart für bar-Bildungen. Sie kommt in der großen Mehrzahl aller Fälle in Frage. Ob epistemische oder ethische Möglichkeit sinnvolle Lesarten sind, hängt unter anderem von der verbalen Basis ab, an die -bar angehängt ist. Epistemische Möglichkeit liegt vor allem bei Verben mit epistemischer Bedeutung ("Verben des Denkens und Glaubens") nahe, ethische Möglichkeit bei Verben, die normativ geregelte Sachverhalte (wie das Jagen von Wild oder das Antasten von Würde) beschreiben.

Sind im konkreten Fall mehrere Interpretationen möglich, so muss wiederum nach der Sinnhaftigkeit im Kontext entschieden werden, welche Lesart zu wählen ist. Unter anderem muss gefragt werden, welche Mitteilungsabsichten man dem Sprecher vernünftigerweise unterstellen kann. Den "Vätern des Grundgesetzes" kann kaum unterstellt werden, sie hätten behaupten wollen, es sei faktisch unmöglich, die Menschenwürde anzutasten. Eine solche Lesart scheidet demnach aus. Auch eine epistemische Lesart bietet sich nicht an, da antasten kein epistemisches Verb ist. Plausibel ist dagegen die Annahme, mit der Formulierung solle eine ethische Norm gesetzt, nämlich das Antasten der Menschenwürde verboten werden.

Das Suffix -bar kann grammatisch korrekt für diesen Zweck verwendet werden. Allerdings bleibt die Formulierung dann unpersönlich, modal mehrdeutig und damit stark auslegungsbedürftig. Manch einer hätte sich im Grundgesetz wohl eine eindeutigere Formulierung gewünscht, etwa: "Die Würde des Menschen darf unter keinen Umständen und von niemandem angetastet werden." Auch in dieser Version bliebe noch definitionsbedürftig, was eigentlich genau mit Würde, was mit dem Antasten einer Würde und wer mit dem generischen Ausdruck der Mensch erfasst ist. Diese Fragen gehen über den grammatischen Horizont aber weit hinaus.

Übrigens: Das Suffix -bar kann nicht nur eine Möglichkeit, sondern gelegentlich auch eine Notwendigkeit anzeigen, etwa in zahlbar (vgl. Kratzer 1981, S. 40). Eine Rechnung, die bis zum Monatsende zahlbar ist, muss in diesem Zeitraum bezahlt werden. Wer glaubt, die Zahlung bis zum Monatsende werde damit lediglich als möglich beschrieben, sitzt einem Missverständnis auf, das unerfreuliche Folgen haben kann.

Auch einige andere Modalausdrücke außer -bar zeigen eine gewisse Flexibilität zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit, etwa der Imperativ. Mit einem Satz wie geh nach Hause signalisiert man eine Aufforderung (ethische Notwendigkeit). Sagt man aber geh ruhig nach Hause, so wird der Imperativ zum Ausdruck einer Erlaubnis (ethische Möglichkeit) abgeschwächt. Ein anderes Beispiel ist das Verb lassen, das zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit gänzlich unbestimmt zu sein scheint. So kann Otto lässt sich die Haare schneiden bedeuten 'er erlaubt (lässt zu), dass ihm die Haare geschnitten werden' (ethische Möglichkeit), aber auch 'er sorgt dafür (veranlasst), dass ihm die Haare geschnitten werden' (Aufforderung: ethische Notwendigkeit).

Der Satz Die Würde des Menschen ist unantastbar kann allerdings nicht so verstanden werden, dass das Antasten der Würde nicht notwendig, also freigestellt ist. So weit sind die "Väter des Grundgesetzes" mit der Mehrdeutigkeit glücklicherweise nicht gegangen.

Dieser Beitrag findet sich auch in der Festschrift für Bruno Strecker, den Erfinder der "Grammatik in Fragen und Antworten", über den IDS-Buchshop sowie den IDS-Publikationsserver.

Hardarik Blühdorn (2012): "Die Würde des Menschen ist unantastbar" — Bedeutung von Adjektiven mit -bar. In: Marek Konopka / Roman Schneider: Grammatische Stolpersteine digital — Festschrift für Bruno Strecker zum 65. Geburtstag. Mannheim: Institut für deutsche Sprache. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:mh39-14603

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Hardarik Blühdorn
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