Unter den Kasus des Deutschen werden dem Genitiv wohl die meisten sprachkritischen Bemerkungen gewidmet. Das ist erklärlich, werden doch an kaum einer Stelle in der nominalen Flexion Verschiebungen so offenkundig sichtbar. Gerade beim Genitiv gibt es Veränderungen, die für grammatische Erscheinungen vergleichsweise schnell vonstattengehen, und die recht grundlegende Regularitäten betreffen. So wird man nicht nur die Einschätzung der zitierten – nicht unbedeutenden – Grammatik vom Ende des ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr teilen, sondern einfach für nicht mehr zutreffend halten.
(1) | Der Genitiv des männlichen und sächlichen Geschlechts hat im Singular bei manchen Schriftstellern und in der gewöhnlichen Umgangssprache auch die Endung en und wird des Wohllauts wegen besonders dann so gebildet, wenn der Genitiv des Substantivs auch auf es ausgeht: z.B. guten Weines, frohen Muthes; "Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare drehen" (Schiller), "So höre nicht die Stimmen guten Raths" (Goethe). So sagt man allgemein: männlichen Geschlechts, weiblichen Geschlechts etc., großen Theils, größten Theils, oder gewöhnlicher zusammengesetzt: großentheils, größtentheils (wie jedenfalls, allenfalls st. jedes Falls ec.). Die Endung es ist aber die einzig regelmäßige, da das Adjektiv hier in allen übrigen Fällen die Endungen des bestimmten Artikels annimmt […] Richtig heißt es also: gutes Weines, frohes Muthes, reines Herzens; voll süßes Weines (Luther); ewiger Quell ewiges Heils (Klopstock); "Gesund und frohes Muthes / Genießen wir des Gutes, / Das uns der Himmelvater schenkt" (Voß); so wie man allgemein sagt: trockenes Fußes, stehendes Fußes, gutes Muthes, heutiges Tages, gerades Weges u. dgl. m. (Heyse 1838). |
Ganz offenkundig sind die in diesem Zitat als einzig regelmäßig ausgewiesenen Formen in diesem Kongruenzfeld links vom lexikalischen Kopf einer Nominalphrase einerseits genau das: das Adjektiv nimmt in diesem Fall all die Kategorisierungen in der starken Flexionsendung auf, die bis dahin nicht realisiert waren, d.h. in Sonderheit die von Genus und Kasus (vgl. Eichinger/Plewnia 2006; Eichinger 2007, S. 153ff.). In unserem Fall wären das die Kategorien "Non-Femininum" und "Genitiv".1 Sie sind mit diesem Auftreten im Sinne der Monoflexion abgearbeitet. Im Genitiv der starken "Non-Feminina", d.h. Maskulina und Neutra ist das nicht der Fall.2 Das ist deswegen besonders auffällig, weil mit dem Flexiv {(e]s} die besonders schwere und starke Markierung doppelt auftritt.3 Durch die Wahl der hochmarkierten Form ist der Genitiv im Rahmen der "non-femininen Normaldeklination" als besonders kennzeichnungsbedürftig ausgezeichnet (s. Wiese 2006, S. 26), allerdings scheint seine Doppelmarkierung uns heute im Vergleich zu dem obigen Zitat als eher redundant, ja als falsch. Wenn man möchte, würde man eher eine Veränderung wie beim Dativ mit Konsolidierung der starken Dativ-Endung beim Adjektiv und allmählichem Wegfall des {-e}-Flexivs erwarten.4 Aber offenkundig handelt es sich um einen anderen Prozess, dessen Anstoß und Ziel genau darin liegen, dass der Genitiv über die gesamten Paradigmenteile hin gesehen durch eine Mischung aus Über- und Unterdifferenziertheit gekennzeichnet ist.
In dem obigen Zitat wird lediglich aufgegriffen, dass die Adjektivflexion im Überdifferenzierungsfall abgeschwächt werde, es wird nicht darauf hingewiesen, dass es eigentlich das Genitiv-Flexiv am Substantiv ist, das die systemstörende Redundanz erzeugt. Im paradigmatischen Kontext dieser (starken) Non-Feminina ist das aber ganz klar:
(2) | Non-Feminina |
Maskulina | Neutra | Ohne Art./Adj. | |
Nom | Der hohe Baum - guter Wein / ein hoher Baum | das alte Haus gutes Bier / ein altes Haus | Wein / Bier |
Gen | Des / eines guten
Weines hohen Baumes | des / eines guten
Biers alten Hauses | [von] + dat |
Dat | Dem / einem gutem Wein hohen Baum | dem / einem gutem Bier alten Haus | Wein / Bier |
Akk | Dem / einen guten Wein hohen Baum | das / ein gutes Bier altes Haus | Wein / Bier |
Dieser Überdifferenzierung entspricht eine Unterdifferenziertheit bei den Feminina, hier ist mit dem {-er} ein weniger starkes Element "mittlerer Schwere" beteiligt, das den zweiten von zwei morphologisch gekennzeichneten Kasustypen signalisiert, wobei der erste auch im Fall der pronominalen Flexion durch das minimalste Merkmal lediglich als flektiert gekennzeichnet wird.
(3) | Feminina |
Femininum | Ohne Art./Adj. | |
Nom | die / eine schöne Blume gute Suppe | Suppe |
Gen | der / einer schönen Blume guter Supe | [von] + dat |
Dat | der / einer schönen Blume guter Suppe | Suppe |
Akk | die / eine schöne Blume gute Suppe | Suppe |
Komplexer sind die Verhältnisse bei den Pluralen, wobei hier das Fehlen eines indefiniten Artikels im Plural den Blick auf weitere paradigmatische Optionen öffnet.
(4) | Pluralia |
Plural definit | Plural indefinit | Ohne Art./Adj. | |
Nom | die hohen Bäume / alten Häuser / schönen Blumen | hohe Bäume / alte Häuser / schöne Blumen | Bäume / Häuser / Blumen |
Gen | der hohen Bäume / alten Häuser / schönen Blumen | hoher Bäume / alter Häuser / schöner Blumen | [von] + dat |
Dat | den hohen Bäumen / alten Häusern / schönen Blumen | hohen Bäumen / alten Häusern / schönen Blumen | Bäumen / Häusern / Blumen |
Akk | die hohen Bäume / alten Häuser / schönen Blumen | hohe Bäume / alte Häuser / schöne Blumen | Bäume / Häuser / Blumen |
Es ist offenkundig, dass bei den genusmarkierten Flexionen die Genitivformen jeweils auffällig sind, beim Plural geht es, was die Markiertheitsabstufung der Flexive betrifft, mit dem {n} um eine Erweiterung des Systems der Feminina. Die /m/- und /s/-haltigen Flexive kommen nur bei den Non-Feminina vor. Dazu passt dann systematisch die Differenzierungsfunktion von /r/ und /n/ beim Dativ von Femininum und Plural.5 Auf den ersten Blick sichtbar ist auch, dass bei indefiniten Verwendungen ohne Adjektiv, einer zentralen Stelle für die Texteinführung von Klassennamen im Plural und Massennomina,6 entsprechende flexivische Optionen nicht (mehr) zur Verfügung stehen.7 Das hat – zumindest im Singular – mit den Veränderungen in dem Bereich zu tun, den man "partitiven" Genitiv nennt. Man sieht das exemplarisch an dem folgenden Ausschnitt aus einer der von den Brüdern Grimm gesammelten Sagen:
(5) | "So bitte ich", sagte der Herzog, "die Braut um einen Trunk Weins,
mein Herz ist mir ganz matt." Da lief einer von den Leuten hinauf zur Fürstin und hinterbrachte,
daß ein fremder Gast, dem ein Löwe mitfolge, um einen Trunk Wein bitten lasse. Die
Herzogin verwunderte sich, füllte ihm ein Geschirr mit Wein und sandte es dem Pilgrim. "Wer magst
du wohl sein", sprach der Diener, "daß du von diesem edlen Wein zu trinken begehrst,
den man allein der Herzogin einschenkt?" [(1818), In: Deutsche Sagen, gesammelt von Jacob und Wilhelm Grimm. - o.O., 1891 (S. 501)] |
Selbst in "adjektivgestützten" Verwendungen scheint allmählich eine gewisse stilistische Markiertheit hineinzuspielen.
(6) | Die gesundheitsbewussten Gäste konnten anhand eines beispielhaften Tagesplans
mitverfolgen, wie man unter Verwendung jahreszeitgerechten Obsts und Gemüses ganz
leicht und schmackhaft sogar mehr als die geforderte Menge von 450 bis 600 Gramm pro Tag zu sich
nehmen kann. [Rhein-Zeitung, 23.03.2004] |
(7) | Außerdem lernen sie vieles über den Anbau und die Verwendung von Obst und
Gemüse. [Mannheimer Morgen, 05.09.2003] |
Im Prinzip haben wir damit ein Kasussystem, das bei den pronominalen Formen in drei von vier Positionen eine morphologisch identische Kodierung für Nominativ und Akkusativ kennt. Gemäß einer einheitlichen Kodierung für die zusammengefallene Kasusform lassen sich die Gruppe Non-Feminina und Plural auf der einen und das Neutrum auf der anderen Seite einander gegenüberstellen. Sie zeigen zudem die Extreme der Stärke der Markierung: {-e} vs- {-s}. In dieser Hinsicht steht das Maskulinum mit seinen beiden unterschiedlichen Markierungen für Nominativ und Akkusativ dazwischen:
(8) | Rectus |
Nom = akk "schwaches" Flexiv | Nom = akk "starkes" Flexiv | Nom ≠ akk "mittlere" Flexive |
{e} Blume + Blumen/Häuser/Bäume | {s} Haus | Nom: {r} Baum |
Akk: {n} Baum |
In allen Fällen findet sich bei der starken Flexion eine mittlere Kodierung für den Dativ – schwächste beim Plural –, wobei die Korrelationen der Gruppen verschoben erscheinen. Hier bilden die Nicht-Feminina eine Gruppe mit einer deutlichen Differenz, der Plural steht mit seiner "schwachen" Endung dazwischen. Dabei ergibt sich als zusätzliche Korrelation, dass Plural und Non-Feminina zudem eine zweite Markierung in einem dem Substantiv angehängten Flexiv zeigen.
(9) | Obliquus |
Fem | Plur | Nonfem |
{r} Blume | {n} Blumen / {n} Häuser{n}/{n} Bäume{n} | {m} Haus / {m} Baum |
An dieses wohl austarierte System – mit der einen "Hilfskonstruktion" des doppelten Dativ Plural – schließt auch die Kodierung starker Genitivendungen an, ist aber in doppelter Weise auffällig. Zunächst einmal fallen hier wie bei dem nom+akk-Nennkasus die Markierungen von Feminina und der Pluralformen zusammen. Die Non-Feminina sind durch die Doppelmarkierung mit dem besonders starken {s}-Affix gekennzeichnet.
(10) | Attributivus |
Fem+pl | Nonfem |
{r} Blume / {r} Bäume/Häuser/Blumen | {s} Haus{es}/ Baum{es} |
Daraus ergibt sich insbesondere für die Femininum-Plural-Gruppe, dass einerseits dieselbe starke Endung als Genitivsignal verwendet wird, dass aber andererseits im Femininum Genitiv und Dativ ununterscheidbar zusammenfallen, was, wie noch zu sehen sein wird, syntaktisch an verschiedenen Stellen zu Verwirrung führt, zum anderen indefinite Genitive ohne Artikel unausdrückbar macht. Hier geht die Genitivflexion durch die Paradigmatik mit der Präposition von unmittelbar in die Grammatik der Junktionen über. Bei den Feminina und den Pluralia mit {-en} führt das in den artikel- und adjektivlosen Verwendungen dazu, dass bei Präpositionen nicht mehr entscheidbar ist, ob es sich um eine Genitiv- oder eine Dativrektion handelt. Bei den Non-Feminina lässt die Brechung der Regeln der Monoflexion – im Hinblick auf die schwache Adjektivendung und die Beibehaltung des Substantivflexivs – und die hohe Auffälligkeit der {s}-Formen den Genitiv als einen Sonderfall erscheinen. Auch hier besteht ein analoges Problem mit den indefiniten adjektivlosen Verwendungen. Prinzipiell kann man sagen: Der Zusammenfall beim Femininum 'gefährdet' die Funktion in der Syntax der Rektion.
Die markierte Doppelsignalisierung mit dem 'salienten' Konsonanten [s] bei den Non-Feminina ist in diesem Kontext auffällig. Das hat Folgen verschiedenster Art.
2.3.1 Grundlegendes
Der Genitiv hat heute und von alters her adnominale und adverbale Verwendungen (vgl. jetzt Nishiwaki 2010), zudem wird er von einer Reihe von Präpositionen regiert.
Adnominal steht er als postnominales und auch – pränominales Attribut.8 Es ist das neutralste und häufigste nominale Attribut. Untergruppen benennen die Reichweite bestimmter Konstruktionstypen, die durch inhärente Relationalität (Typus: genitivus subiectivus/obiectivus), ganz allgemeine Einschränkungen ("Genitiv der Zugehörigkeit") oder herausgehobene semantische Relationen (genitivus explictivus)9 festgelegt sind. Der Genitiv ist in dieser Funktion klassisches Attributivum, ein Element, das aus selbstständigen Substantiven Attribute macht (vgl. Nishiwaki 2010, S. 150f.; Eichinger 1992).
Die historisch zentrale adverbale Verwendung ist die Verwendung als (zweites direktes) Komplement, die adverbiale Verwendung ist weitaus weniger systematisch und weitreichend.10 In den historischen adverbalen Verwendungen kann man den ablativischen und partitiven Kern der Kasusbedeutung noch weiterwirken sehen. Wenn das so ist, lebt er von der Unterscheidbarkeit von Akkusativ und Dativ. Vor allem der letzte Punkt führt zu einer funktionalen Verwirrung. Daher wird entweder zum Akkusativ als dem ersten direkten Komplement hin ausgeglichen, oder es werden junktionale Optionen gewählt, die den ablativischen Charakter deutlich machen ("von") und ebenfalls zum Teil grammatikalisiert sind. In anderen Fällen, in Sonderheit bei Partitivität, wird das über Nominalphrasen mit entsprechenden lexikalischen Köpfen mit Attributen realisiert.
Im Folgenden soll es um die Veränderungen und Schwankungen im verbalen und – kurz
– im präpositionalen Bereich gehen.
2.3.2 Verbale Rektion
Aus den gerade gemachten Bemerkungen lässt sich unmittelbar darauf schließen, dass man im Bereich der Verben mit (prinzipiell) genitivischer Rektion auf eine gewisse Variationsbreite stößt.
Das Genitivkomplement ist ein direktes Objekt, das seine Herkunft aus einem ablativisch-partitiven Umfeld nie ganz verleugnet hat. Die Genitivrektion stellt zweifellos im heutigen Deutsch einen markierten Fall dar. Drei Kontexttypen sind es heutzutage, die offenbar dafür gute Voraussetzungen bieten. Zum ersten gibt es fachliche, präziser gesagt, juristische Kontexte, in denen die Rolle des personellen direkten Objekts so gefüllt wird:
(11) | Christian Ultsch beschuldigt die türkischen Militärs der Kriegshysterie im
Konflikt mit Syrien. [Die Presse, 09.10.1998] |
Zum zweiten gibt es eine stilistisch überneutral wirkende Verwendung einer Reihe, vor allem reflexiver Verben:
(12) | Der waschechte englische Adelige rühmte sich bester Kontakte zu Politik und
Wirtschaft. [Nürnberger Nachrichten, 09.03.2007] |
Zum dritten gibt es konstruktionsmäßig in kollokative Zusammenhänge eingebettete Verwendungen des Genitivs in Objektfunktion, wobei bei den Verben wie den Objekten eine paradigmatische Beschränkung erkennbar ist:
(13) | Kratochvil lächelte gelöst, setzte sich in die Mitte des Tisches […] und
harrte der Dinge, die da kommen würden. [St. Galler Tagblatt, 09.02.2001] |
Von welcher Art dann die vorfindliche Variation ist, deutet sich an, wenn man eine Reihe semantisch als typisch geltender Genitivverben betrachtet.
So stellt sich bei dem Verb gedenken durchaus die Erwartung genitivischer Rektion ein, vor allem, wenn es feierlich zugeht. Dem entsprechen auch die folgenden Belege aus (demselben) durchaus feierlichen Kontext:
(14) | Das Dorf im Appenzeller Vorderland gedenkt aus diesem Anlass der drei Grundsätze
Dunants. [St. Galler Tagblatt, 09.01.2010] |
(15) | Die Stadt gedenkt ihres Ehrenbürgers Hermann Kesten. [Nürnberger Nachrichten, 20.01.2010] |
(16) | In Heiden selber indessen gedenkt man Dunants an jedem Todestag. [St. Galler Tagblatt, 09.01.2010] |
Aber wiederum im selben Kontext, allerdings in etwas unübersichtlicheren Konstruktionen findet sich dann an der Objektsstelle ein Dativ, der auch inhaltlich ("commodi") nicht so fern zu liegen scheint:
(17) | Es sind die Grundsätze des Roten Kreuzes […], die heuer in Heiden
gefeiert, denen heuer in Heiden gedenkt werden soll. [St. Galler Tagblatt, 04.01.2010] |
(18) | Am Tag der Bestattung gedenkt man mit einer gemeinsamen Schweigeminute und einem
kurzen Gebet dem Verstorbenen. [St. Galler Tagblatt, 08.03.2010] |
Dabei scheint es in Einklang mit den Erwartungen an den Dativ so zu sein, dass uns das im Fall von Personenbezeichnungen als Objekt am naheliegendsten ist.
(19) | Die Partei Die Linke gedenkt den ermordeten Sozialisten Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht. [Braunschweiger Zeitung, 04.01.2010] |
(20) | Star-Fotograf gedenkt Star-Choreografin Pina Bausch. [Hamburger Morgenpost, 26.03.2010] |
(21) | In dieser Maiandacht gedenkt die Gemeinde besonders allen, die in Viernheim
Heimat gefunden haben. [Mannheimer Morgen, 12.05.2010] |
(22) | Kameradschaftsbund gedenkt dem Frieden. [Niederösterreichische Nachrichten, 28.04.2010] |
So ist (19) vergleichsweise wenig aufregend, wenn auch vielleicht etwas "unfeierlich", (20) repräsentiert einen komplexen Fall. Die kondensierte appositionelle Fügung mit dem Titel Star-Choreographin macht die Sache schwierig. Man würde bei dem Namen allein, das ebenso deutliche wie eigennamentypische {-s} erwarten: Pina Bauschs. So bleibt der Kasus morphologisch nun eigentlich unklar, nur Genitiv kann es nicht sein. Bei (21) konfligieren etwas der doch feierliche Ton und die Dativ-Verwendung bei einem formalen Wort wie dem Quantor all. Letztlich sieht man in (22), dass die Kombination des starken Dativ-Merkmals {-m} mit einem Abstraktum die Anforderungen an eine solche Konstruktion kaum erfüllt.
Dass es sich nicht zuletzt um eine Frage von Konstruktionen handelt, kann man an Belegen zu dem Verb bedürfen gut zeigen, das bedarf, möchte man sagen, keiner weiteren Erläuterung. Tatsächlich sind Fügungen, die paradigmatische Optionen in der Füllung annähernd fester Muster sind, die hauptsächliche Domäne des Genitivs bei diesem Verb.
(23) | Da es keiner grossen Erklärungen mehr bedurfte. [St. Galler Tagblatt, 02.03.2010] |
Erkennbar ist zudem, wie sich hier Formulierungsroutinen überlagern, was dann zu hyperkorrekten oder sonstwie schwer im Zaum zu haltenden Konstruktionen führt:
(24) | Ehe die Bürstädter […] den 1:0-Erfolg […] feierten, bedurfte es
eines hartes Stücks Arbeit. [Mannheimer Morgen, 15.03.2010] |
(25) | bedurfte es aber gegen die bis dato ebenfalls noch ungeschlagenen Gäste deutlich
mehr Mühe. [Braunschweiger Zeitung, 09.02.2010] |
Hier sieht man schon die beginnende Interferenz mit den Gebrauchsweisen des semantisch naheliegenden "alltäglichere" Verbs brauchen.
Der oben genannten systematischen Lücke bei indefiniten Substantiven im Plural ist die folgende Konstruktion zu danken, die man auf jeden Fall als "akkusativvermeidend" und formal als erzwungenen Dativ interpretieren kann:
(27) | In der Gemüsezentrale Rheintal bedurfte es Sondereinsätzen der Beschäftigten.
[St. Galler Tagblatt, 30.03.2010] |
Ziemlich endgültig bei brauchen sind wir in dem folgenden Beleg angekommen:
(28) | Dafür bedurfte es auf handwerklich-musikalischer Ebene zuallererst höchste
Präzision bei der Entfaltung des polyphonen, oft überbordend wirkenden Motivmaterials.
[Nürnberger Zeitung, 22.01.2010] |
Ein ähnliches und vielleicht noch konstruktionsgebundeneres Bild zeigt harren: In der überwiegenden Anzahl der Belege harrt man der Dinge, die da kommen. Die alltägliche Nachbarschaft liegt hier beim Verb warten. Paradigmatische Varianten der angesprochenen Konstruktion liegen in den folgenden Fällen vor, in einer geradezu formalhaft reduzierten Form in (32):
(29) | Hier traf man sich, bei Pizza und Lasagne, und harrte erwartungsvoll
der Dinge, die das Wochenende bringen könnte. [St. Galler Tagblatt, 17.03.2010] |
(30) | Michael Pixis flog einfach nach London, legte eine Box mit zwei seiner
selbstgestalteten T-Shirts vor Madonnas Haustür – und harrte der Dinge. Und
tatsächlich: Knapp zwei Monate später entdeckte der Würzburger Schüler mehrere Fotos im Internet,
auf denen Lourdes, die 13-jährige Tochter der „Queen of Pop“ und Stilikone für junge
Mädchen, mit seinem T-Shirt zu sehen ist. [Mannheimer Morgen, 30.03.2010} |
(31) | Sechs weitere Sprudelliegen laden am Rand des Beckens zur Entspannung ein. Der
Betonsockel ist bereits ausgebildet, die Stutzen für die Luftzufuhr ragen etwa 30 Zentimeter daraus
hervor, harren der Vollendung. [Braunschweiger Zeitung, 15.06.2010] |
(32) | Außerdem harrt die Bushaltestelle ihres Wiederaufbaus.
[Mannheimer Morgen, 05.05.2010] |
(33) | Dort harren sie mit ihren Lehrpersonen geduldig ihres grossen Auftritts.
[St. Galler Tagblatt, 14.06. 2010] |
Manchmal erscheint der Genitiv offenbar als zu feierlich – bzw. zu ironisch –; das führt zu alternativen Konstruktionen. Hier scheint ein anderer Kasus eigentlich keine Option, der einzige Korpusbeleg mit eindeutigem Dativ ist der folgende:11
(34) | Die Fans der Schweizer harren dem Schlusspfiff. [St. Galler Tagblatt, 17.06.2010] |
Vergleichsweise häufig wird allerdings die präpositionale Junktion mit auf gewählt, die harren in die Nähe seines semantischen Äquivalents warten bringt:
(35) | Zum einen harrt ein […] Mini-Musical […] auf seine Uraufführung.
[Mannheimer Morgen, 03.02.2010] |
(36) | Er harrte schon seit aller Herrgottsfrühe auf den von Trier kommenden Dampfzug.
[Rhein-Zeitung, 06.04.2010] |
(37) | So harrten beide auf den Spass. [St. Galler Tagblatt, 25.05.2010] |
Bei diesem Verb ist es erkennbar die Bindung an ein Inventar von Konstruktionen in amtlichem und ironisierendem Zusammenhang, von der die Genitivverwendung aufrechterhalten wird. Objekte kritischer Form, die ein morphologisches Problem erzeugen würden, kommen daher praktisch nicht vor. Im Zweifelsfall richtet man sich nach der unmarkierten Alternative warten.
Für die reflexiven Muster soll noch das Verb sich befleißigen betrachtet werden. Es gibt eine Vielzahl von Belegen leicht gehobener oder ironischer Anmutung des Typs (38), und was das angeht auch (39):
(38) | Die acht Endrundenteilnehmer befleißigten sich einer erfreulich fairen
Spielweise. [Nürnberger Zeitung, 08.01.2010] |
(39) | Das hat mit der Diktion zu tun, deren sich die Philharmoniker befleißigen.
[Salzburger Nachrichten, 31.07.1993] |
Dass hier sowohl die Technik komplexerer Anschlüsse manchmal zu schwankenden Ergebnissen führt, sieht man an den relativen Anschlüssen in (39) und (40) (vgl. dazu Zifonun 2006).
(40) | So ganz von der Hand zu weisen ist die Vorsicht nicht, derer sich manche
befleißigen, wenn sie von Reformen hören. [Die Presse, 03.02.1993] |
In (40) ist auf jeden Fall auch durch den Objektsbezug auf Vorsicht die Bedeutung von sich befleißigen eher verallgemeinert, dominant ist die Funktion, die relative Markiertheit der Genitiv-Konstruktion als eine Art Distanzsignal zu nutzen. Andererseits gibt es dann verschiedene Konstruktionsalternativen, die am ehesten zeigen, dass sich befleißigen als ein seltenes Wort im Umfeld analogisch herangezogener Wörter zwischen beflissen, fleißig und geflissentlich einen Platz12 sucht, der seine morphologische Technik an verschiedenen Stellen sucht, wobei eine Junktion mit der Präposition in bzw. dem Pronominaladverb darin in Anbetracht der Verhältnisse in den Belegen offenbar als eine plausible Wahl erachtet wird:
(41) | In Zeiten des Umbruchs seien "Rattenfänger unterwegs, die sich darin befleißigen,
simpel gestrickte Spielmuster in grellen, aber auch sanften und angenehm erscheinenden Farben
anzudienen." [Rhein-Zeitung, 15.07.2005] |
(42) | Annemarie Maldaner, die sich in der Frauengymnastik befleißigte, habe ihrem
Verein selbst in den schweren Kriegsjahren beigestanden. [Rhein Zeitung, 11.05.2010] |
(43) | Die Zeitungen Wiens, gewöhnt, bei der emsigen Suche nach Haaren in der Suppe
ganze Perücken zu finden, sind ein bißchen in Verlegenheit und befleißigen sich, ihren Lesern gute
Tips zu geben, wie man an Eintrittskarten kommen kann. [Mannheimer Morgen, 28.11.1986] |
2.3.3 Präpositionen
Was man seit längerem für Präpositionen wie trotz und wegen diskutiert, ein Nebeneinander von Genitiv- und Dativrektion (mit formellerem Charakter des Genitivs) findet sich inzwischen öfter, gerade auch, weil viele unentscheidbare Fälle auftreten.13 Man kann die verschiedenen Optionen zum Beispiel bei der Präpositon dank leicht aus den Korpora belegen:
(44) | Sind erst einmal alle Widersacher – und dank des Zaubertranks bald
Liebenden – auf der Insel verstreut, geht das rasante Wirr-Warr auch schon los.
[Niederösterreichische Nachrichten, 01.07.2010] |
(45) | Deshalb sei es wichtig, eine Einrichtung zu schaffen, „wo es nicht so
kompliziert ist, sich Rechtsrat zu holen“. Diese gibt es nun dank dem Ludwigshafener
Anwaltsverein. [Mannheimer Morgen, 02.07.2010] |
(46) | Nun geht es auf Reisen und macht dank der Kooperation mit der Akademie auch in
Nürnberg Station. [Nürnberger Zeitung, 01.06. 2010] |
(47) | Nur dank der Reserven der vorigen Jahre konnte die Jubiläumsausgabe gerettet
werden. [St. Galler Tagblatt, 05.07.2010] |
(48) | Deshalb konnte so mancher Besucher schon beim Eintreten in die Galerie dank den
leuchtenden Farben den grauen Alltag vergessen. [Mannheimer Morgen, 17.03.2010] |
In den Korpora des Jahres 2010 finden sich bei dank gut 200 Fälle mit dem Artikel dem, gut 800 mit des, fast 1600 mit der, von denen 10-15% (also ca. 200) auf Genitiv Pluralbelege fallen, den hat lediglich gute 50 Belege. D.h. der große Teil der Fügungen mit dieser Präposition (und bestimmtem Artikel)14 entfällt auf Verwendungen, bei denen keine eindeutige Kasuszuordnung möglich ist. Auch bei der Präposition trotz ist jedenfalls der klare Dativ deutlich in der Minderheit, mit 41 Belegen für nonfeminines dem und 22 für pluralisches den. Da man hier sogar etwa ein Drittel der Belege für der dem Genitiv Plural zuzuordnen hat, stehen ca. 1800 singularische der-Formen ca. 1600 des-Formen gegenüber. Ganz offenkundig gibt es hier einen Sog, ambivalente Formen eher syntaktisch genitivisch zu verstehen.15
Für unsere Zwecke reichen diese Befunde. Aus einer umfangreichen Untersuchung solcher Fälle wurde der Schluss gezogen, dass die Überlagerungen im Femininum geeignet sind, verschiedenartige analogische Ausgleichsprozesse abzufedern (s. di Meola 2009, S. 211).
Es sind nicht nur diese syntaktischen Phänomene, die in gewisser Weise mit den im ersten Teil des zweiten Kapitels geschilderten Verhältnissen der Über- und Unterdifferenzierung zu tun haben, auch innerhalb der Flexionsklassen zeigt der Genitiv auffällige Schwankungen.16
Bekannt sind die Phänomene einer gewissen Variation zwischen einer markierten Variante der starken und schwachen maskulinen Flexion – z.T. mit Bedeutungsunterschieden (Funke/Funken, Glaube/Glauben). So finden sich bei Friede/Frieden die folgenden Formen – mit Angabe der Zahlenverteilung in den 2010er Korpora:
(49) | Der Frieden 24mal, wie in: Ich kenne einen Haushalt, da ist alles
tipp topp. […] Alles in Ordnung, und doch fehlt der Frieden. Die Frau fällt leise, aber mit
giftigen Bemerkungen über ihren Mann her, […] Der Mann sucht schließlich seinen Frieden in
den Armen einer anderen. [Mannheimer Morgen, 10.04.2010] |
(50) | Des Friedens 128mal, wie in: Remagen feiert ein Fest des Friedens.
[Rhein-Zeitung, 07.05.2010] |
(51) | Der Friede 13mal: Der Prophet Jesaja sagt schon, dass der Friede
eine Frucht der Gerechtigkeit ist. Wenn wir Frieden wollen. [Rhein-Zeitung, 15.01.2010] |
(52) | Des Frieden 2mal, in: Außerdem werden 70 Luftballons als Botschafter
des Frieden auf die Reise geschickt. [Niederösterreichische Nachrichten, 09.03.2010] Und: Die Gemeinde hat um des Frieden Willens lange Zeit Geld bezahlt. [Burgenländische Volkszeitung, 06.01.2010] |
Man sieht auf jeden Fall, dass der merkmalhafte {s}-Plural die sonstigen Differenzen überdeckt, wobei der letzte Beleg in (52) – zweifellos eine fehlerhafte Variante von um des lieben Friedens willen – auch als Hinweis auf die starke abhängigkeitsmarkierende Rolle des Elements /s/ gelesen werden kann.
Ähnliches gilt beim Lexem Herz:17 ein dominanter {s}-Genitiv, der wie gesagt satzsemantisch fast übertrieben auffällig ist, zudem in merklichem Ausmaß eine endungslose Dativform, die einen gänzlich starken Neutrum-Singular modelliert; wie man sieht, tauchen alle Formen zumindest auch in medizinischen Kontexten auf.
(53) | 136mal Herzens, wie in: handelt es sich meistens um altersbedingte
oder durch Infektionen hervorgerufene Veränderungen der Herzklappen oder des Herzens.
[Braunschweiger Zeitung, 12.06.2010] | |
(54) | 3mal Herzen, wie in: Beim "Magnet-Feld-Imaging" wird das
Biomagnetfeld des Herzen gemessen, um bedrohliche Herzrhythmusstörungen festzustellen.
[Mannheimer Morgen, 19.01.2010] | |
(55) | 33mal dem Herz, wie in: Diese Belastung hat dem Herz nicht gut
getan. [Niederösterreichische Nachrichten, 22.06.2010] | |
(56) | 253mal dem Herzen, wie in: eines der Opfer, das damals dicht neben
dem Herzen […] getroffen worden war. [Rhein-Zeitung, 13.02.2010] |
Dem Plural, und dem Tatbestand, dass Autor als Personenbezeichnung auch semantisch zum Profil der schwachen Maskulina passt, scheinen manche Schwankungen in Genitiv und Dativ bei diesem Wort Rechnung tragen zu wollen:
(57) | 223mal des Autors, wie in: dazu den wohl berühmtesten Kurzprosatext
des Autors, die „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“.
[Braunschweiger Zeitung, 09.06.2010] |
(58) | 6mal des Autoren, wie in: Das liegt auch ganz im Interesse des
Autoren. [Braunschweiger Zeitung, 31.03.2010] |
(59) | 128mal dem Autor, wie in: Die Tagung wird fortgesetzt […] mit
einem Gespräch zwischen dem Autor Wilhelm Genazino, Anne Weber (Frankreich) und Gerrit Bussink
(Niederlande). [Braunschweiger Zeitung, 12.06.2010] |
(60) | 4mal dem Autoren, wie in: Sollte ein Buch zäh anfangen, geben Sie
dem Autoren 50 Seiten lang eine Chance, ehe Sie es weglegen. [Braunschweiger Zeitung, 17.02.2010] |
In anderen Einzelfällen werden allerdings auch Lexeme dieser Klasse und weitere, einer Verdeutlichung durch das {s}-Affix unterzogen:
(61) | Allerdings steckt unter der goldigen Fassade des Löwens ein kleines Schlitzohr,
wie Zoodirektor Heinrich Klein erklärt. [Rhein-Zeitung, 30.03.2004] |
(62) | des nunmehr gediegenen Lebens seines tierischen Heldens vor heimeligem Kaminfeuer
in einer alten Gründerzeitvilla. [Braunschweiger Zeitung, 22.09.2007] |
Gelegentlich greift das darüber hinaus:
(63) | Die Zauberin verkörpert und verbreitet das Böse um des Bösens willen. […]
und der Mensch, um dessen Liebe willen sie diesen Eid brach, hat sie verraten.
[Niederösterreichische Nachrichten, 15.06.2010] |
Gelegentlich gibt es reduzierende Gegenbewegungen, etwa bei Wörtern fremder Struktur ((64), (65)), in festen Formeln ((66), (67)), aber auch an überraschender Stelle ((68)):
(64) | reichte der Kellner eine Farbpalette, auf der die Stärke des Kaffee in
Farbabstufungen […] symbolisiert war. [s.v. Kaffeehaus, Wikipedia, 2005] |
(65) | Als Harry am darauffolgenden Tag gerade erfolgreich der Versuchung des Alkohol
widerstanden hat. [Die Presse, 14.04.1998] |
(66) | in der sie ihr Ordensgelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsam
erneuerten. [Rhein-Zeitung, 29.04.2002] |
(67) | Der häufigste Grund, der dafür genannt wird, ist nicht jener, den Haider seinen
– ob des Hohn und Spotts begeisterten – Delegierten einreden wollte, nämlich
bürgerliche Kraftlosigkeit und Feigheit. [Die Presse, 17.07.1999] |
(68) | 7 x des Warten, wie in: An seinen eigenen Erfahrungen ließ er die gespannten
Zuhörer teilnehmen: An der bangen Zeit des Warten, der Angst vor der Operation und dem Leben
danach. [Braunschweiger Zeitung, 25.02.2009] |
Bekannt ist (s. Rowley 1988), dass das bei fremderen geographischen Namen systematisch zu Variation führt. Zumindest ein Teil der Logik ist hier klar: Man will im endungslosen Fall klarstellen, wie der Name wirklich heißt:
(69) | Die elfköpfige Tanz- und Trommelformation kommt aus der Hauptstadt des Kongo im
Mittelwesten Afrikas. [Rhein-Zeitung, 16.03.1999] |
(70) | Die Äcker im Osten des Kongos sind fruchtbar und könnten leicht einen Grossteil
des Kontinents ernähren. [Die Südostschweiz, 13.06.2005] |
(71) | Doch der Konflikt im unwegsamen Regenwald am Oberlauf des Kongo ist keineswegs
gelöst. [Salzburger Nachrichten, 23.08.1999] |
(72) | Der afrikanische Fluss Luvua ist ein rechter Nebenfluss des Kongos und die
Fortsetzung des Luapulas. [MIBUKS; Anwiha; u.a.: Luvua, In: Wikipedia - URL:http://de.wikipedia.org: Wikipedia, 2005] |
(73) | Der afrikanische Chambeshi (Tschambesi) ist der Quellfluss des Luapula und gehört
zum Stromsystem des Kongos. [MIBUKS; BWBot; u.a.: Chambeshi, In: Wikipedia - URL:http://de.wikipedia.org: Wikipedia, 2005] |
Was mit dieser nicht exhaustiven Aufzählung gezeigt werden soll, ist, dass die starke nonfeminine Genitiv-Flexion einer funktionalen und zum Teil stilistisch oder zu ähnlichen Zwecken funktionalisierbaren Variation unterliegt, die nicht zuletzt am starken Signalcharakter des /s/ liegt, der es einerseits erlaubt, es ggf. an einer Stelle wegzulassen,18 aber auch, seine Auffälligkeit in der einen oder anderen Weise zu nutzen.
Was folgt aus all dem, und warum ziehen wir Folgerungen unter dem Titel der Attribution? Wir haben oben gezeigt, dass der Genitiv als Komplement kaum mehr eine regelhafte unmarkierte Stellung hat. Es hat sich auch in dem Kapitel über die Präpositionen gezeigt, dass hier eine ganz eigene Art von Unterspezifizierung herrscht, wenn es um den Wechsel von Genitiv und Dativ bei der Femininum-Plural-Gruppe geht, so dass im Extrem syntaktische Genitive morphologisch eher als Dative erscheinen. Es wurde oben schon beiläufig auf die attributive Funktion des Genitivs hingewiesen: Sie ist von den Verwendungsbeschränkungen nicht berührt. Man kann daraus schließen, dass der Genitiv funktional gut eingebunden, allerdings kein rechter Kasus mehr ist, als er nur noch partiell in Opposition zu anderen Kasus steht. Das gilt besonders für die attributive Verwendung in der Nominalphrase, wo es gut ist, als abhängiges Element deutlich sichtbar zu sein, wie die {s}-Formen und nicht in Gefahr zu stehen, mit einem Dativ verwechselt zu werden, weil es an dieser Stelle keinen gibt, was für ein Femininum interessant ist.
So kann man die adnominalen femininen "Nichtdative" und die nonfemininen {s}-Genitive als Steuerungselemente in einer von komplexer Schriftsprachlichkeit geprägten Welt verstehen. Ihre Funktion in dieser Hinsicht, aber möglicherweise auch ihre Grenzen, zeigen sich an Belegen wie den folgenden:
(74) | Die Wirkungen der Entscheidung 2004/535 werden bis zum 30. September 2006, jedoch
nicht über den Zeitpunkt des
Außerkrafttretens des genannten Abkommens
hinaus, aufrechterhalten. [http://www.springerlink.com/content/] |
(75) | IN ANERKENNUNG der Bedeutung
grundlegender Rechte und Freiheiten, insbesondere
des Schutzes
der Privatsphäre, und deren Achtung bei der Verhütung und
Bekämpfung des Terrorismus und damit
verbundener Verbrechen sowie sonstiger schwerer Verbrechen
transnationaler Art, einschließlich der
organisierten Kriminalität. [http://eur-lex.europa.eu/] |
Hier sieht man auch gut, dass die Doppelung der {s}-haltigen Formen zudem ein Anfangs- und Endsignal der entsprechenden Phrase liefert.
Die Funktion einer reinen Abhängigkeitssignalisierung durch die /s/-haltige Endung lässt sich in Verbindung bringen mit der Kodierung adverbialer Genitive, die nicht in jedem Fall auf akute Genitive beziehbar sind (eines Nachts), auf entsprechende Formen des sogenannten sächsischen Genitivs (Vaters/Mutters/Annas Haus usw.), auch mit der Grenzfunktion dieses Fugenelements (gerade auch bei derivierten Feminina Typ: Freiheitsliebe), aber auch mit der schwankenden Zuordnung bei appositionsartigen Konstruktionen (Walthers von der Vogelweide / Walther von der Vogelweides; des Direktors Müller / Direktor Müllers).19
Folgern kann man aus dem Ganzen, dass der Genitiv in Verbindung mit präpositionalen Junktoren (von) in der Nominalphrase hinreichende Kasustransparenz schafft: Der Genitiv als Kasus des Objektes hat vor allem in bestimmten "Konstruktionen" eine Chance. Grund dafür ist der Systemwandel im deutschen Flexionssystem, das im Bereich des Genitivs zu einem bemerkenswerten Verhältnis von gleichzeitig Über- und Unterdifferenzierung geführt hat. Als adnominale Junktionszeichen genutzt stören beide Eigenheiten nicht; vielmehr ist das "starke" Signal des {s} gut geeignet als Abhängigkeitssignal (eine Art Präposition) – Dative erwarten wir an dieser Stelle ohnehin nicht. Die paradigmatische Orientierung an der präpositionalen Entfaltung des attributiven Feldes rechts vom Nomen ist daher erwartbar und systemgerecht.20
Schrodt, Richard (1992): Die Opposition von Objektsgenitiv und Objektsakkusativ in der deutschen Sprachgeschichte: Syntax oder Semantik oder beides? In: PBB 114, 1992, 361-394.
1 Da eine Kategorisierung nach Genus vorliegt, ist "Nicht-Plural" impliziert. [zurück]
2 Daneben in den Pluralklassen, deren Pluralmarkierung nicht selbst schon auf [n] endet, und resthaft markiert im Dativ der starken Nicht-Feminina: "Das stimmt – aber wir sind auf gutem Wege". [Braunschweiger Zeitung, 24.04.2010]. [zurück]
3 "Betrachten wir nun die nicht-nasalen Affixe, nämlich -e, -er, -es, so zeigt sich eine Ordnung nach konsonantischer Stärke, die der Ordnung der Kategorisierungen nach Spezifik entspricht. Der non-konsonantischen Endung entspricht die leere Kategorisierung, der ausgeprägt konsonantischen Endung auf /s/ entspricht bei den Kategorisierungen der hoch-spezifische Bereich; die sonorantische Endung -er, die gewöhnlich vokalisiert wird, nimmt nicht nur nach ihren phonologischen Eigenschaften eine mittlere Stellung ein; sie ist ebenso auf der Funktionsseite dem mittleren, weniger spezifischen Bereich von Kategorisierungen zugeordnet. Morphologisch mag man -es im Unterschied zu -er als schweres Affix auszeichnen." (Wiese 1999, o.S.) [zurück]
4 Vielleicht kann man allerdings das gelegentliche Auftreten (in COSMAS 6 Fälle) der folgenden Form zumindest bei solchen einigermaßen festen Konstruktionen als einen Hinweis lesen, dass es sich insgesamt um eine besondere Kennzeichnungsstrategie handelt: "Mit der Geburt des kleinen Edgar ist das St. Marienkrankenhaus auf guten Wege, zum dritten Mal in Folge den Geburtenrekord des Vorjahres zu brechen." [Mannheimer Morgen, 25.09.2007]. [zurück]
5 Da in dieser Paradigmatik der {n}-Plural den Default-Fall darstellt, ist die Dativ-Plural-Markierung am Substantiv ja nicht sichtbar. Bei den Pluraltypen, die zu singularischen Maskulina führen, ist dieser Typ von Differenzierung fast immer möglich – systematisch nicht bei den in mancherlei Hinsicht auffälligen schwachen Maskulina vom Typ Bote und den {s}-Pluralen – und im Hinblick auf die Akkusativmarkierung mit {n} immerhin bei endungslosen Typen differenzierend (Typ: Löffel), auch im Hinblick auf die Numerusfrage bei indefiniten Präpositionalphrasen (mit Kartoffel(n)) in diesen Fällen. Vgl. die in diesem Bereich sonst auch laufenden Differenzierungstendenzen (Orchester mit Dirigent (Sg.) / mit Dirigenten (Pl.), trotz schwacher Flexion). [zurück]
6 Vgl. Eichinger 2008. [zurück]
7 Bei den ebenfalls merkmallosen Formen des Nominativs, des Akkusativs, aber eben auch noch des Dativs (z.B. "Mode fehlt es an Akzeptanz, um Eingang in das seriöse Feuilleton zu finden" [http://www.lesmads.de/ 2010/11/ gastbloggerwoche_modebloggen_20_5.html]) leistet die syntaktische Rektionserwartung mit ihren semantischen Korrelaten eine entsprechende Interpretation, wenn auch solche Dativ-Verwendungen wegen der bekannten "Personenzentriertheit" seiner Semantik nicht sehr häufig sind. [zurück]
8 Zumindest gegenwartssprachlich sind Ausmaß und Funktion dieser Verwendung deutlich eingeschränkt; wie die sogenannten uneigentlichen Komposita und ihr allenfalls stilistisch markierter Konterpart (Typ: Tageslicht – Des Tages Licht) zeigen, hat sich auch hier einiges verändert. [zurück]
9 S. dazu Zifonun 2010. [zurück]
10 Wie man das auch von adverbialen Akkusativen kennt. [zurück]
11 Wobei zu bemerken ist, dass das Verb harren in den Schweizerischen Texten vergleichsweise häufig auftritt – zumeist als offenbar gängiges Element der Verwaltungssprache. [zurück]
12 Man vergleiche zu den historischen (und assoziativen) Zusammenhängen die Lemmata fleißig, beflissen und geflissentlich im Paulschen Wörterbuch. [zurück]
13 S. di Meola (2009, S. 212-214); dort z.B. bei dank 125 klare Dative, 348 klare Genitive, 525 unentscheidbare Fälle. [zurück]
14 Etwas anders sind die Verhältnisse bei Formen des unbestimmten Artikels; hier gibt es für den nonfemininen Dativ (einem) ca. 100 Belege, für den entsprechenden Genitiv (eines) ca. 500 und für die Form einer ebenfalls ca. 500. Warum das Zahlenverhältnis bei diesen kataphorischen Fällen so anders ist, ist unklar. [zurück]
15 Dafür spricht auch, dass hier auch das substantivische s-Flexiv allein zumindest in festen Konstruktionen auftaucht: trotz Regens steht mit 28 Belegen neben 42 für trotz Regen, und selbst die phonetisch merkwürdige Form trotz Schnees findet sich immerhin 4-mal (neben 26 trotz Schnee); das semantisch verwandte wegen ist in entsprechenden Konstruktionen sogar noch "genitivgeneigter". [zurück]
16 Vgl. zum Folgenden Klein 2009, S. 151f. mit Literaturverweisen zu einzelnen Phänomenen des Sprachwandels in diesem Bereich. [zurück]
17 Dessen alte Form Herze nur noch zitathaft und nicht untypisch in religiösem Kontext auftaucht: "»Franziskus lädt Euch alle ein, weil‘s Herze lacht bei Spaß und Reim!« Der […] Pfarrbezirk St. Franziskus lädt […] zur Fastnacht ein." [RZ, 23.01.2010]; bemerkenswert der singuläre Pluralbeleg: "Wir haben mit ihnen Herze und Pfeile ausgemalt." [St. Galler Tagbl., 15.02.2010] [zurück]
18 Hierher wäre etwa auch ein Analogiefall wie diesen Jahres zu stellen, vgl. Strecker 2006. [zurück]
19 S. dazu Zifonun 2001, Strecker 2008, Heringer 2009. [zurück]
20 Neuere, genitivische Präpositionen leiten sich von dieser Kodierung her, ältere fungieren auf Kasusdifferenzierungen, die heute zu einer Überlagerung von morphologischer Information und syntaktischer Erwartung führen. Das führt zu analogischen Sortierungen bzw. bei partieller Differenz (Non-Feminina) zu einem gewissen Ausmaß an Variation. So steht die präpositionale Rektion zwischen der syntaktischen Kasus- und einer differenzierten Abhängigkeitsmarkierung. [zurück]
Dieser Beitrag findet sich auch in der Festschrift für Bruno Strecker, den Erfinder der "Grammatik in Fragen und Antworten", über den IDS-Buchshop sowie den IDS-Publikationsserver.
Ludwig M. Eichinger (2012): Gutes Weines, frohes Muthes, reines Herzens — Geschichten vom Genitiv. In: Marek Konopka / Roman Schneider: Grammatische Stolpersteine digital — Festschrift für Bruno Strecker zum 65. Geburtstag. Mannheim: Institut für deutsche Sprache. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:mh39-14645