Die Großen und die Kleinen — Adjektive in elliptischen Nominalphrasen
Nach den Großen und den Kleinen fragt man zum Beispiel, weil man nicht weiß, wie sie geschrieben werden: Groß oder klein?
Die Rechtschreibfrage ist auf den ersten Blick schnell beantwortet: Nach § 57.1 der
aktuellen Rechtschreibregelung werden "als Nomen verwendete Adjektive" groß geschrieben. Insofern machen es die Fußballbegeisterten im Folgenden richtig (und übrigens auch ich, wenn
ich die Fußballbegeisterten und im Folgenden
schreibe).
Seit Wochen fiebern die Tössemer diesem Spiel in der ersten
Runde des Schweizer Cups entgegen. Wieder einmal hofft ein Kleiner, einem
Grossen ein Bein zu stellen und für kurze Zeit Schlagzeilen zu liefern.
[St. Galler Tagblatt, 11.9.2007, S.
33]
In einem Garten ein paar hundert Kilometer weiter
nördlich, in Behlendorf, nahe Ratzeburg, sitzt Günter Grass unter einem Nussbaum, Mücken
schwirren, eine Hornisse torkelt umher, auf dem Tisch steht Cidre, und im Haus läuft der
Fernseher. Der Nobelpreisträger hält als Fußballfan meist zu den Kleinen,
den Außenseitern, das ist keine große Überraschung, das tut er auch als Schriftsteller.
Zuletzt selbst gespielt hat er vor fast 30 Jahren, auf Linksaußen naturgemäß, so
engagiert, dass danach seine Beine anschwollen. Seitdem ist er vor allem
Fernsehfußballer, und besser hätte die WM für ihn nicht liegen können. Das neue Buch ist
fertig, genug Zeit also, sich an Philipp Lahm zu freuen (auch er ein Kleiner).
[Die Zeit, 22.6.2006, o.S.]
Aber nicht nur beim Fußball weiß man die schon ältere Regel anzuwenden:
die Bauren heissen die Aehren und Stürtzeln, welche sich von
denen Garben abgerühret und abgebrochen haben, oder mit dem Dresch-Flegel abgeschlagen und
von dem ausgedroschenen Getraide abgerechet worden, das Kleine, so von ihnen
fleißig zusammen gehalten
[Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon Aller
Wissenschaften und Künste 1732, http://www.zedler-lexikon.de]
Sein Vordermann,
Hans Hermann Kilian, war ein Kleiner, Brauner, mit fettem Haar und breiten
Schultern.
[Thomas Mann: Buddenbrooks. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 1.
Frankfurt 1960, S. 729]
Wir schreiben also: der Kleine, der Charmante, der Abgeordnete, die Kluge, die Kranke, das Schöne, das Gute, das Wahre.
Woran aber erkennen wir ein "als Nomen verwendetes Adjektiv"?
Wir erkennen es daran, dass es wie ein Nomen aussieht — einerseits.
1. Einerseits sieht Kleine wie ein typisches Nomen
aus:
Die Rose, die Lilie, die Taube, die
Sonne,
Die liebt ich einst alle in Liebeswonne.
Ich lieb sie nicht
mehr, ich liebe alleine
Die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine.
Heinrich Heine, 1827
[http://de.wikisource.org]
Die Formen können unter anderem nomentypisch von einem bestimmten, einem unbestimmten Artikel, einem Demonstrativartikel oder einem Attribut begleitet werden.
- bestimmter Artikel: der
Kleine
- unbestimmter Artikel: ein
Kleiner
- Demonstrativartikel: jener
Kleine
- Attribut: der dicke
Kleine
Sie bilden dann Phrasen, die wie typische Nominalphrasen aussehen.
Eine typische Nominalphrase ist zum Beispiel der Mann.
Nominalphrasen haben per definitionem einen Kopf. In Nominalphrasen ist immer das Nomen
der Kopf, hier also das Nomen Mann. Analog dazu wird bei der
Kleine die Form Kleine als nominaler Kopf angesehen.
Kleine verhält sich also wie ein Nomen.
der Mann
der
Kleine
2. Andererseits verhält sich Kleine aber weiter wie
ein typisches Adjektiv.
Die Formen werden adjektivtypisch flektiert; sie entsprechen den
Adjektivflexionsformen:
Nominativ | der Kleine ein Kleiner der kleine Mann ein
kleiner Mann |
Genitiv | des Kleinen eines Kleinen des kleinen
Mannes eines kleinen Mannes |
Dativ | dem Kleinen einem Kleinen dem kleinen Mann einem
kleinen Mann |
Akkusativ | den Kleinen einen Kleinen den kleinen Mann einen
kleinen Mann |
Auch werden sie adjektivtypisch gesteigert:
"Erkenne, was höher ist als du selbst", ruft der Dichter uns
zu. Zum Glück nistet das Höhere in diesem schmalen Buch nicht nur im
ungebrochenen deutschen Traditionsstrom zwischen Hartmann von Aue und Richard Wagner,
sondern auch in den Rotbuchen der Uckermark.
[Die Zeit, 25.3.2004, S. 3]
Jazz For Kids nannte kürzlich eine Plattenfirma ihre
Kompilation aus vermeintlich fröhlich swingender Zuckermusik, die dem
Klassik-für-Kinder-Irrglauben folgt, das Dunklere müsse aus den frühen
Jahren verbannt werden.
[Die Zeit, 24.3.2005, o.S.]
Hiltrud Specht ist
die Geschäftsführerin des "Mittelrhein-Wein e. V." und für die Wahl zur
Gebietsweinkönigin zuständig. "Der Unterschied bei der Wahl zur Deutschen Weinkönigin
ist der, dass hier alle Leistungen nahezu gleich sind. Es entscheidet schlichtweg die
Tagesform." Die Spontanste, Feschste und
Frechste, Charmanteste, Attraktivste zu sein, ist
eine große Herausforderung.
[Rhein-Zeitung, 9.10.2003, o.S.]
Gewalt
ist und bleibt Gewalt. Gewalt gilt es zu vermeiden und nicht zuletzt doch auch mit dem
in unseren Schulen glücklicherweise noch erteilten Ratschlag: «Der Klügere
gibt nach». Es braucht deshalb noch lange nicht immer der Nachgebende auch der
Dümmere zu sein.
[Die Südostschweiz, 7.11.2006,
o.S.]
Zudem ist ihr grammatisches Geschlecht, das sogenannte Genus, wie bei allen Adjektiven nicht festgelegt; es gibt jeweils maskuline, feminine und neutrale Formen:
Auf dem Rasen aber, der sanft abfiel, so, daß man im Liegen
den Kopf hochhalten konnte, lagerten zwei, geborgen hier vor der Glut des Tages: ein
Ältlicher und ein Junger, ein Häßlicher und ein Schöner.
[Thomas
Mann: Der Tod in Venedig. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 8. Frankfurt 1960, S.
491]
Die Ehescheidungen nahmen zu, und manch eine Schöne folgte ihrem
Gardeoffizier nach St.Petersburg.
[Die Zeit, 9.6.2005, o.S.]
Wo diese
Faszination dennoch angesichts des Hässlichen auftaucht, so Friedrich Schlegel, da sei immer
ein Schönes enthalten, wie er offenbar überhaupt von einer Art
dialektischer Beziehung zwischen dem Schönen und dem Hässlichen ausgeht, dergestalt, dass es
den absoluten Modus von beiden gar nicht geben könne.
[Frankfurter Allgemeine,
26.11.1999, o.S.]
Die Komödie handelt von Dummheit und Intelligenz, von
Verstellung, Verwechslung und Intrige. "Und selbstverständlich", schreibt Taureck,
"machen die Schöne und der Schöne gemeinsame Sache dank der
'Blödheit' des Ehemanns." Das ist der Stoff, aus dem die Komödien einst
waren.
[Die Zeit, 28.2.2002, S. 50]
Die Nacht war ihr am liebsten. Mit
der Nacht verloren sich zwar auch Umrisse und Farbigkeit, die Nacht hatte aber den
Vorteil, dass sie das Hässliche verhüllte und das Schöne noch schöner
erscheinen lassen konnte, mit Hilfe der Phantasie, der in der Dunkelheit weniger Grenzen
gesetzt waren.
[Zürcher Tagesanzeiger, 23.7.1998, S. 51]
Nomen, Adjektiv oder etwas ganz Anderes?
Du präparierst dir im Gedankengange
das, was
du willst –
und nachher kriegst dus nie …
Man möchte
immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke
– Ssälawih –!
Kurt
Tucholsky 1929, [http://de.wikisource.org/wiki/Ideal_und_Wirklichkeit]
Formen wie eine kleine Dicke, die Kleine, der Kleine haben Merkmale von
Nomina und von Adjektiven. Sind sie merkwürdige Nomina, merkwürdige Adjektive oder
merkwürdige Zwitter? Oder gibt es noch eine überzeugendere Erklärung?
Eine überzeugendere Erklärung ist, dass sie Ellipsen sind; die Nominalphrasen enthalten
ein Nomen, das ausgelassen werden kann (lat. ellipsis 'das
Auslassen'):
ein kleiner Junge
der Kleine [...]
Was ausgelassen wird, müssen wir eben wissen – wie alles in der Sprache. Man spricht hier von wissensgestützten Ellipsen. Häufig wird das Gemeinte dabei nur impliziert; es steht nirgendwo explizit im Kontext:
Die Herren tragen Anzug oder Frack, die Damen sind in
festliche Abendroben gekleidet. Taft, Tüll, Samt und Seide fallen bis zu den Knöcheln, um
die Schultern glänzen Gold und Silber, Pailletten und Stickereien. Ein paar wenige haben
sich für das "kleine Schwarze" entschieden. Es ist die Nacht des
Theaterballs.
[St. Galler Tagblatt, 5.11.2001, o.S.]
Mitunter ist das Gemeinte aber auch aus dem unmittelbaren Kontext erschließbar:
Ich esse gerne Äpfel. Am liebsten die grünen.
Und hier kommt die Rechtschreibfrage noch einmal ins Spiel: Nach § 58.1 schreibt man "als Nomen verwendete Adjektive", also Adjektive in
Ellipsen, nämlich doch klein, und zwar, sobald sie sich auf ein vorhergehendes oder
nachstehendes Nomen beziehen. Die Äpfel, die grünen, sind ein Beispiel dafür. Und
auch:
Inzwischen gibt es weit mehr als 100 Theorien über das
Schicksal des Bernsteinzimmers. Eine neue hat Boris Jelzin bei seinem Besuch in
Deutschland hinzugefügt - die Jagd nach dem verlorenen Schatz geht weiter.
[die
tageszeitung, 25.11.1991, S. 20]
Einen Sieg, wenn auch keinen schönen,
hat der GAK in der Tasche.
[Tiroler Tageszeitung, 31.7.1998, o.S.]
Fazit
Adjektive in Ellipsen werden groß geschrieben: Der
Große kommt bald zur Schule; der Kleine erst in zwei
Jahren.
Adjektive in Ellipsen mit nahem Bezugskontext werden klein
geschrieben: Zwei Jungen spielen Fußball; der kleine jagt
dem großen dauernd den Ball ab.
Wer mag, kann nun darüber nachdenken, wie nah Bezugskontexte eigentlich sein müssen, um unter den § 58.1 zu fallen. Macht es die deutsche Ausgabe von De Santis nicht falsch?
Dort wird beschrieben, welche Frauen dem Romanhelden begegnen:
Eine
Frau mit Amnesie, die mit verletztem,
mit einer Krawatte abgebundenen Arm im Central Park aufgetaucht war. Eine schwer
Schizophrene, die sich weigerte, auch nur ein Wort zu
sagen.
[
De Santis 2005, S.
107]
Und wie sieht es hier aus?
Sein Wunsch war, eines Tages eine Familie zu gründen und
Kinder zu haben. In der Nachbarschaft spricht man von der schönen Russin,
die er von einem Montageaufenthalt in Russland mit nach Arbon gebracht hatte. Diese
Frau wollte er heiraten. Nach kurzer Zeit wandte sich die
Schöne, der er die Einreise in die Schweiz ermöglicht hatte, von ihm
ab.
[St. Galler Tagblatt, 6.6.1998, o.S.]
Ein paar Meter weiter lässt
sich eine junge Frau fotografieren, die im Nebenraum gerade einen
Miss-Wettbewerb gewonnen hat. Die Schöne hat sich vor eine Fotowand
gestellt.
[Berliner Zeitung, 2.12.2006, S. 28]
"Was soll ich bloß
anziehen?", rufen Frauen und wühlen verzweifelt im Kleiderschrank. Für diese Situation
hat uns Coco Chanel eine Allzweckwaffe geschenkt: Das kleine Schwarze.
Streng und verspielt zugleich, schmückt dieses Kleid jede Frau zu jeder
Gelegenheit.
[www.brigitte.de, 25.1.2009]
Etwas aus der Reihe tanzt Beamter: Es ist
eine Ellipse zum seit Alters her unüblichen Partizip beamt des Verbs
beamten 'jemandem ein Amt verleihen' (analog beflaggen -
beflaggt, begrenzen - begrenzt, besohlen - besohlt).
also wöllen vil, die beampt werden, mit schinden und
schaben woldienen.
[Franck 1533, Deutsches Wörterbuch Band 1, Sp. 1206]
Selten ist daneben die Form Beamteter zum seit Alters her üblichen
Partizip beamtet:
Indessen brachte er es doch nie zu einem eigenhändigen
Zeitungsartikel, dazu war er zu dumm, selbst zu der Zeit, in welcher er hochgestellter
Beamteter war.
[Jeremias Gotthelf (1850): Die Käserei in der
Vehfrede, http://gutenberg.spiegel.de]
Der Gouverneur und fünf andere
Magistratspersonen kamen nach Salem. Auch waren mehre Geistliche gegenwärtig, während
Parris als erster Beamteter auftrat.
[Willibald Alexis (1845):
Der neue Pitaval, http://gutenberg.spiegel.de]
Das bayerische Notariat mag eine
sichere Einkommensquelle sein. Aber: Richter, Polizist oder öffentlich
Beamteter sein ist eine noch sicherere Einkommensquelle, sogar mit
Pensionsanspruch.
[Nürnberger Nachrichten, 10.2.1998, S. 21]
Das Adjektivische zeigt sich auch hier in Formen wie der Beamte, des
Beamten, ein Beamter. Ungewöhnlicherweise kann aber die feminine Form auch
durch das Wortbildungsaffix -in gebildet werden, das sonst nur mit
Nomen kombiniert wird: die Beamtin wie die Studentin,
die Sekretärin. Die typischen Ellipsen mit Partizipien dagegen
bringen ein adjektivtypisch feminines Genus mit: die Angestellte, die
Auszubildende, die Abgeordnete, die Sprechende.