An den Ufern des Rhein oder des Rheins? — Genitivmarkierung bei geografischen Namen

Ist es nicht merkwürdig, dass eine solche Frage gestellt wird? Man lernt doch in der Schule, dass ein Nomen im Genitiv SingularMaskulinum oder Neutrum durch eine kurze oder lange Endung ((e)s) markiert wird:

der Hut des Vaters/des Mannes;
auf der anderen Seite des Flusses/des Bach(e)s/des Bürgersteigs/des Schlosses...

Und doch gibt es nicht wenige Texte, in denen diese Systematik zur Deklination nicht angewandt wird:

Eine romantische Altstadt voller mittelalterlicher Bauten, dazu modernste Bauten international renommierter Architekten, pulsierendes Freizeit-Treiben an den Ufern des Rhein: Das erwartet die Passagiere der "Royal Crown" in Basel, der letzten Station der Flusskreuzfahrt. (Hamburger Morgenpost, 17.10.2010, S.42)
Seit 2002 spielt der 30-Jährige schon jenseits des Atlantik, bereits nach seinem dritten Profijahr bei den Mannheimer Adlern wechselte er in die Staaten - eine beachtliche Leistung. (Braunschweiger Zeitung, 18.06.2011)
Mit dem Krieg ist die Elfenbeinküste, einst wirtschaftlich wichtigstes Land des frankophonen Afrika, in eine tiefe Wirtschaftskrise geraten. (die tageszeitung, 22.04.2004, S. 4)

In den gleichen Zeitungen finden sich dann aber auch Beispiele, in denen diese geografischen Namen mit Genitivendung gebraucht werden:

Nicht im Meer, aber gleichfalls unter Wasserwogen - und zwar denen des Rheins - wird nach dem Gold der Nibelungen gefahndet. (Hamburger Morgenpost, 24.01.2010, S. 56-57)
Die Jugendlichen haben Stipendien für ein Austauschjahr im Rahmen des Parlamentarischen Patenschafts-Programms (PPP) erhalten, die der Deutsche Bundestag gemeinsam mit dem Kongress der USA an Schüler beiderseits des Atlantiks vergibt. (Braunschweiger Zeitung, 11.04.2011; Gastfamilien gesucht)
Gestern traten die Staats- und Regierungschefs des frankophonen Afrikas in der Elfenbeinküste zusammen, um die Liquidierung zu beschließen. (die tageszeitung, 08.02.2002, S. 10)

Was man dagegen in diesen Texten so gut wie gar nicht findet, sind Belege für fehlende Genitivendungen bei Verbindungen wie der Hut des Vaters [*Hut des Vater] oder auf der anderen Seite des Flusses [*auf der anderen Seite des Fluss]. Bei geografischen Namen wie Rhein, Atlantik oder Afrika scheint der Gebrauch der Genitivendung also mehr als bei anderen Nomina zu schwanken. Ein Blick in das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) im Februar 2024 bestätigt das:

mit GenitivendungBelegeohne GenitivendungBelege
des Rheins60.663des Rhein945
des Tejos45des Tejo733
des Atlantiks35.254des Atlantik3.838
im Süden Japans741im Süden Japan2
des romantischen Rheins81des romantischen Rhein0
des geeinten Deutschlands167des geeinten Deutschland136
des frankophonen Afrikas18des frankophonen Afrika51

Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt. Eine qualitative Inspektion aller Belege muss aus Zeitgründen entfallen. Die angegebenen Frequenzen sind deshalb als Annäherungen zu verstehen; unter den beiden Belegen für im Süden Japan findet sich beispielsweise eine nicht im Genitiv stehende Formulierung: Vincent van Gogh, der hier im Süden Japan finden wollte.

Die Tabelle legt eine Unterscheidung nahe zwischen geografischen Namen, die prinzipiell mit einem Artikel verwendet werden (das sind Namen von Flüssen und Gewässern), und geografischen Namen, die mal mit, mal ohne Artikel verwendet werden (das sind Städte-und Ländernamen: Deutschland ist schön. Das romantische Deutschland). Darüber hinaus scheint auch der Ursprung des Namens einen Einfluss auf das Hinzufügen oder Weglassen der Genitivendung auszuüben (vgl. die unterschiedliche Verteilung für Rhein und Tejo). Grund genug, solche Fälle einmal genauer anzuschauen, denn der erste Eindruck kann ja täuschen.

Recherche

Wir untersuchen weitere geografische Namen in DeReKo hinsichtlich ihres Verhaltens im Genitiv:

Flüsse und Gewässer

Gesucht wurde nach „des + jeweiligem Namen mit Genitivendung“ [Typus des Rheins] und „des + jeweiligem Namen ohne Endung“ [Typus des Rhein]:

mit GenitivendungBelegeohne GenitivendungBelege
des Neckars4.548des Neckar240
des Rheins60.663des Rhein945
des Bodensees11.925des Bodensee238
des Atlantiks35.254des Atlantik3.838
des Amurs51des Amur446
des Dnjeprs49des Dnjepr738
des Ebros64des Ebro579
des Mississippis398des Mississippi6152
des Missouris34des Missouri1.263
des Tejos45des Tejo733
des Tibers598des Tiber596

Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.

Namen von Flüssen und Gewässern werden sowohl mit als auch ohne Genitivendung verwendet. Die Tabelle zeigt eine deutliche Tendenz, deutsche und eingedeutschte bzw. im deutschen hochfrequente Namen (Rhein, Neckar, Bodensee, Atlantik) mit einer Genitivendung zu gebrauchen, während seltenere oder als fremd empfundene Namen eher unverändert bleiben (Amur, Dnjepr, Ebro, Mississippi, Missouri, Tejo). Der Tiber ist dabei sozusagen auf dem besten Weg, eingemeindet zu werden.

Städte und Länder bzw. Kontinente

Gesucht wurde nach „im Süden + Name mit Endung“ [Typus im Süden Afrikas] und „im Süden + Name ohne Endung“ [Typus im Süden Afrika], diesmal explizit innerhalb eines Satzes:

mit GenitivendungBelegeohne GenitivendungBelege
im Süden Afrikas2395im Süden Afrika11
im Süden Australiens668im Süden Australien8
im Süden Japans719im Süden Japan2
im Süden Berlins1785im Süden Berlin18
im Süden Frankfurts138im Süden Frankfurt13
im Süden Delhis77im Süden Delhi0
im Süden Manhattans1048im Süden Manhattan1
im Süden Madrids160im Süden Madrid0

Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt. Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass in der rechten Spalte vereinzelte Belege wie "...trennte im Norden auch Amerika von Europa sowie im Süden Afrika von Amerika" oder "Die nächstgelegenen Flughäfen sind im Süden Frankfurt und im Norden Köln-Bonn" mitgezählt werden.

Die Tabelle legt nahe, dass diese Namen, unabhängig von ihrer Herkunft, so gut wie immer mit einer Genitivendung verwendet werden.

Geografische Namen in einer Nominalphrase mit Artikel

Gesucht wurde nach „des + Adjektiv + Name mit Endung“ [Typus des frankophonen Afrikas] und „des + Adjektiv + Name ohne Endung“ [Typus des frankophonen Afrika] innerhalb eines Satzes, und zwar für Stadt-, Land- und Flussnamen:

mit GenitivendungBelegeohne GenitivendungBelege
des + Adjektiv + Afrikas1.933des + Adjektiv + Afrika2.697
des + Adjektiv + Deutschlands7.762des + Adjektiv + Deutschland7.798
des + Adjektiv + Japans314des + Adjektiv + Japan725
des + Adjektiv + Berlins1.687des + Adjektiv + Berlin3.132
des + Adjektiv + Frankfurts78des + Adjektiv + Frankfurt443
des + Adjektiv + Mannheims24des + Adjektiv + Mannheim144
des + Adjektiv + Manhattans18des + Adjektiv + Manhattan154
des + Adjektiv + New Yorks63des + Adjektiv + New York510
des + Adjektiv + Neckars198des + Adjektiv + Neckar22
des + Adjektiv + Rheins1909des + Adjektiv + Rhein98
des + Adjektiv + Mississippis11des + Adjektiv + Mississippi122
des + Adjektiv + Missouris0des + Adjektiv + Missouri47

Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.

Bei dieser Recherche zeigt sich wieder das Muster, nicht-einheimische Flussnamen unverändert zu lassen und einheimische mit einer Genitivendung zu versehen. Bei Städtenamen scheint der Genitiv eher am Adjektiv markiert zu werden und nicht am Nomen, wobei es Ausnahmen gibt:

Hier kommt einer aus der Tiefe des nächtlichen New Yorks, der die ganze Welt bezaubern könnte. (Die Zeit, 21.04.2005; "Ich werde eine wunderschöne Frau sein")
Der Blick aus Wigdors Bürofenster auf die Straßenschluchten des abendlich erleuchteten Manhattan wirkt wie die erste Einstellung eines Hollywoodfilmes. (Die Zeit, 08.06.2006, S. 15)

Interessant ist in einigen Fällen eine zeitliche Aufschlüsselung. Die nachfolgende Grafik illustriert beispielsweise, dass sich über die vergangenen 30 Jahre hinweg die Verwendung von "des + Adjektiv + Deutschlands" gegenüber "des + Adjektiv + Deutschland" durchgesetzt hat. Diese Entwicklung wird vermutlich nicht zuletzt durch digitale Orthografie- und Grammatikkorrekturen begünstigt, die geografische Namen im Maskulinum oder Neutrum als falsch markieren, wenn sie von einem Artikel bzw. Adjektiv im Genitiv begleitet sind und selbst keine Genitivendung tragen.

Zusammenfassung und Erklärung

  1. Bei Namen von Gewässern – die mit einem Artikel gebraucht werden – scheint mit einheimischen Namen anders verfahren zu werden als mit „fremden“ Namen. Einheimische Namen bekommen vorwiegend zusätzlich zur Genitivmarkierung durch den Artikel auch eine Flexionsendung, fremde Namen bleiben meist unverändert. Nichtsdestotrotz ist es möglich, einen deutschen Namen ohne Endung und einen fremden Namen mit einer Endung zu gebrauchen.
  2. Wenn Namen von Städten, Ländern und Kontinenten ohne Artikel gebraucht werden (im Süden Berlins, im Süden Japans, im Süden Afrikas), bekommt der Name zumeist unabhängig von seiner Herkunft eine Genitivendung.
  3. Wenn geografische Eigennamen in einer Nominalphrase mit Adjektiv eingebettet sind, tendieren Städtnamen zum Verzicht auf die Genitivmarkierung, während bei Flussnamen wieder eine unterschiedliche Praxis je nach Herkunft beobachtbar ist.

Wie so häufig bei Zweifelsfällen, liegt der Grund der Schwankungen wohl in der Existenz zweier Systematiken, die sich zum Teil widersprechen. In diesem Fall sind das die Regel zur Genitivmarkierung von Eigennamen und die Regel zur Genitivmarkierung von Appellativa (Tisch, Hund, Gesetz, …). Ein Appellativum bekommt im Maskulinum oder Neutrum Singular die Genitivendung (e)s, selbst wenn der Kasus bereits an einem vorangehenden Artikel erkennbar ist. Einem Eigennamen dagegen gebührt Respekt: Man verändert ihn nur, wenn es nicht anders geht, d.h. wenn die Genitivmarkierung nicht an einem Begleiter — wie dem Artikel — festzumachen ist. Bei geografischen Namen scheint es eine Unsicherheit zu geben, ob man sie wie Eigennamen oder wie Appellativa behandeln sollte. Fremde Namen werden dabei eher „respektvoll“ wie Eigennamen behandelt; der Eigennamencharakter von deutschen, eingedeutschten oder im Deutschen hochfrequenten geografischen Namen hat sich wohl mit der Zeit ein wenig abgeschliffen.

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Autor(en)
Jacqueline Kubczak
Bearbeiter
Roman Schneider
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