Ist es nicht merkwürdig, dass eine solche Frage gestellt wird? Man lernt doch in der Schule, dass ein Nomen im Genitiv SingularMaskulinum oder Neutrum die Genitivmarkierung (e)s bekommt:
Und doch gibt es nicht wenige Texte, in denen diese Regel nicht angewandt wird:
In den gleichen Zeitungen finden sich aber auch Beispiele, in denen diese geografischen Namen mit der für Substantive üblichen Genitivendung gebraucht werden:
Was man aber in diesen Texten nicht findet, sind Beispiele für fehlende Genitivendungen bei Verbindungen wie der Hut des Vaters [*Hut des Vater kommt nicht vor] oder auf der anderen Seite des Flusses [*auf der anderen Seite des Fluss kommt nicht vor]. Bei geografischen Namen scheint der Gebrauch der Genitivendung (e)s im Maskulinum und Neutrum sehr zu schwanken, wie schon ein kleiner Blick in das DeReKo (Deutsches Referenzkorpus des IDS) zeigt:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
des Rheins | 15.659 | des Rhein | 596 |
des Tejos | 5 | des Tejo | 144 |
des Atlantiks | 4.989 | des Atlantik | 752 |
im Süden Japans | 90 | im Süden Japan | 0 |
des romantischen Rheins | 47 | des romantischen Rhein | 1 |
des geeinigten Deutschlands | 56 | des geeinigten Deutschland | 32 |
des frankophonen Afrikas | 11 | des frankophonen Afrika | 35 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.
Die Tabelle legt nahe, zu unterscheiden zwischen geografischen Namen, die prinzipiell mit einem Artikel verwendet werden, das sind Namen von Flüssen und Gewässern, und geografischen Namen, die mal mit, mal ohne Artikel verwendet werden (Deutschland ist schön. Das romantische Deutschland), das sind Städte-und Ländernamen. Darüber hinaus scheint auch der Ursprung des Namens einen Einfluss auf das Hinzufügen oder Weglassen der Genitivendung auszuüben (s. die unterschiedliche Verteilung für Rhein und Tejo). Grund genug alle diese Fälle genauer zu untersuchen.
Der erste Eindruck kann ja täuschen, wie jeder weiß. Also wurden in der Korpussammlung DeReKo weitere geografische Namen in Hinblick auf ihr Verhalten im Genitiv untersucht:
Gesucht wurde nach „des + jeweiligem Namen mit Genitivendung“ [Typus des Rheins] und „des + jeweiligem Namen ohne Endung“ [Typus des Rhein]:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
des Rheins | 15.659 | des Rhein | 596 |
des Neckars | 1.246 | des Neckar | 56 |
des Missouris | 6 | des Missouri | 100 |
des Dnjeprs | 6 | des Dnjepr | 77 |
des Tejos | 5 | des Tejo | 144 |
des Tibers | 70 | des Tiber | 83 |
des Nils | 810 | des Nil | 152 |
des Atlantiks | 4.980 | des Atlantik | 762 |
des Lakes (Lake Michigan, Lake Victoria usw.) | 0 | des Lake (Lake Michigan, Lake Victoria usw.) | 278 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.
Namen von Flüssen und Gewässern können sowohl mit als auch ohne Genitivendung verwendet werden. Die Tabelle zeigt eine deutliche Tendenz, deutsche und eingedeutschte bzw. im deutschen hochfrequente Namen (Rhein, Neckar, Nil, Atlantik) mit einer Genitivendung zu gebrauchen, während Fremde oder als fremd empfundene Namen eher unverändert bleiben (Missouri, Dnjepr, Tejo, Lake). Tiber ist dabei auf dem besten Weg eingemeindet zu werden!
Gesucht wurde nach „im Süden + jeweiligem Namen mit Endung“ [Typus im Süden Afrikas] und „im Süden + jeweiligem Namen ohne Endung“ [Typus im Süden Afrika]:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
im Süden Afrikas | 473 | im Süden Afrika | 1 |
im Süden Australiens | 108 | im Süden Australien | 0 |
im Süden Japans | 90 | im Süden Japan | 0 |
im Süden Berlins | 446 | im Süden Berlin | 1 |
im Süden Frankfurts | 60 | im Süden Frankfurt | 0 |
im Süden Delhis | 565 | im Süden Delhi | 0 |
im Süden Manhattans | 166 | im Süden Manhattan | 1 |
im Zentrum New Yorks | 16 | im Zentrum New York | 0 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.
Die Tabelle zeigt eindeutig, dass diese Namen, unabhängig von ihrer Herkunft, so gut wie alle mit einer Genitivendung verwendet werden.
Gesucht wurde nach „des + Adjektiv + jeweiligem Namen mit Endung“ [Typus des frankophonen Afrikas] und „des + Adjektiv + jeweiligem Namen ohne Endung“ [Typus des frankophonen Afrika]. Da auch Namen von Gewässern so verwenden werden können, sind neben Länder- und Städtenamen auch zwei Flussnamen in die Recherche eingeflossen, die in der ersten Tabelle entgegengesetzte Werte erhalten hatten: Rhein und Missouri):
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
des + Adjektive + Afrikas | 340 | des + Adjektive + Afrika | 380 |
des + Adjektive + Deutschlands | 1.565 | des + Adjektive + Deutschland | 1.220 |
des + Adjektive + Japans | 49 | des + Adjektive + Japan | 105 |
des + Adjektive + Berlins | 380 | des + Adjektive + Berlin | 132 |
des + Adjektive + Frankfurts | 24 | des + Adjektive + Frankfurt | 24 |
des + Adjektive + Mannheims | 12 | des + Adjektive + Mannheim | 7 |
des + Adjektive + Manhattans | 4 | des + Adjektive + Manhattan | 38 |
des + Adjektive + New Yorks | 12 | des + Adjektive + New York | 70 |
des + Adjektive + Rheins | 505 | des + Adjektive + Rhein | 5 |
des + Adjektive + Missouris | 0 | des + Adjektive + Missouri | 4 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.
Bei dieser Recherche gibt es ähnliche Schwankungen wie bei der ersten Untersuchung (s. Flüsse und Gewässer). Auch hier gibt es beide Möglichkeiten, wobei sich eine deutliche Tendenz zeigt, fremde Namen unverändert zu lassen und einheimische mit einer Genitivendung zu versehen. Vor allem in den Belegen für Berlin oder Deutschland ist der Unterschied zwischen flektierten und unflektierten groß. Aufgefallen ist bei der Recherche auch, dass dieser Unterschied umso größer ausfällt, je jünger die Texte sind: Für die Jahrgänge 2011 und 2010 gibt es in solchen Konstruktionen doppelt so viele Belege für Deutschlands wie für Deutschland (81 gegenüber 40), Frankfurts – Frankfurt (5 gegenüber 0), Berlins – Berlin (16 zu 2). Diese Entwicklung wird sicher auch durch die Orthografie- und Grammatikkorrekturprogramme im PC begünstigt, die geografische Namen im Maskulinum oder Neutrum als falsch markieren, wenn sie von einem Artikel im Genitiv begleitet sind und selbst keine Genitivendung tragen.
Technisch gesehen wurde gesucht nach „ des /+w2 jeweiligem
Name mit Endung“ und nach „des /+w2 jeweiligem Name ohne Endung“ und der Output wurde
per Hand (bzw. per Auge) sortiert. Hier zwei Beispiele:
Der Blick aus Wigdors
Bürofenster auf die Straßenschluchten des abendlich erleuchteten Manhattan
wirkt wie die erste Einstellung eines Hollywoodfilmes.
[Die Zeit
(Online-Ausgabe), 08.06.2006, S. 15]
Hier kommt einer aus der Tiefe des
nächtlichen New Yorks, der die ganze Welt bezaubern könnte.
[Die
Zeit (Online-Ausgabe), 21.04.2005; Ich werde eine wunderschöne Frau sein]
Wie so häufig bei Zweifelsfällen, liegt der Grund der Schwankungen wohl in der Existenz zweier Regeln, die sich zum Teil widersprechen, in diesem Fall der Regel, die angewendet wird bei der Genitivmarkierung von Eigennamen und der Regel zur Genitivmarkierung von Appellativa (Tisch, Hund, Gesetz, …). Ein Appellativum bekommt im Maskulinum oder Neutrum Singular die Genitivendung (e)s, auch dann wenn der Kasus an einem vorangehenden Artikel erkennbar ist. Aber einem Eigennamen gebührt Respekt! Man verändert ihn nur, wenn es nicht anders geht, d.h. in unserem Fall, wenn die Genitivmarkierung nicht an einem Begleiter, wie dem Artikel, festzumachen ist. Bei den geografischen Namen scheint es eine Unsicherheit zu geben, ob man sie wie Eigennamen oder wie Appellativa behandeln sollte. Fremde Namen werden eher „respektvoll“ wie Eigennamen behandelt, der Eigennamencharakter von deutschen, eingedeutschten oder im Deutschen hochfrequenten geografischen Namen hat sich wohl mit der Zeit ein wenig abgeschliffen.