Ist es nicht merkwürdig, dass eine solche Frage gestellt wird? Man lernt doch in der Schule, dass ein Nomen im Genitiv SingularMaskulinum oder Neutrum durch eine kurze oder lange Endung ((e)s) markiert wird:
Und doch gibt es nicht wenige Texte, in denen diese Systematik zur Deklination nicht angewandt wird:
In den gleichen Zeitungen finden sich dann aber auch Beispiele, in denen diese geografischen Namen mit Genitivendung gebraucht werden:
Was man dagegen in diesen Texten so gut wie gar nicht findet, sind Belege für fehlende Genitivendungen bei Verbindungen wie der Hut des Vaters [*Hut des Vater] oder auf der anderen Seite des Flusses [*auf der anderen Seite des Fluss]. Bei geografischen Namen wie Rhein, Atlantik oder Afrika scheint der Gebrauch der Genitivendung also mehr als bei anderen Nomina zu schwanken. Ein Blick in das Deutsche Referenzkorpus (DeReKo) im Februar 2024 bestätigt das:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
des Rheins | 60.663 | des Rhein | 945 |
des Tejos | 45 | des Tejo | 733 |
des Atlantiks | 35.254 | des Atlantik | 3.838 |
im Süden Japans | 741 | im Süden Japan | 2 |
des romantischen Rheins | 81 | des romantischen Rhein | 0 |
des geeinten Deutschlands | 167 | des geeinten Deutschland | 136 |
des frankophonen Afrikas | 18 | des frankophonen Afrika | 51 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt. Eine qualitative Inspektion aller Belege muss aus Zeitgründen entfallen. Die angegebenen Frequenzen sind deshalb als Annäherungen zu verstehen; unter den beiden Belegen für im Süden Japan findet sich beispielsweise eine nicht im Genitiv stehende Formulierung: Vincent van Gogh, der hier im Süden Japan finden wollte.
Die Tabelle legt eine Unterscheidung nahe zwischen geografischen Namen, die prinzipiell mit einem Artikel verwendet werden (das sind Namen von Flüssen und Gewässern), und geografischen Namen, die mal mit, mal ohne Artikel verwendet werden (das sind Städte-und Ländernamen: Deutschland ist schön. Das romantische Deutschland). Darüber hinaus scheint auch der Ursprung des Namens einen Einfluss auf das Hinzufügen oder Weglassen der Genitivendung auszuüben (vgl. die unterschiedliche Verteilung für Rhein und Tejo). Grund genug, solche Fälle einmal genauer anzuschauen, denn der erste Eindruck kann ja täuschen.
Wir untersuchen weitere geografische Namen in DeReKo hinsichtlich ihres Verhaltens im Genitiv:
Gesucht wurde nach „des + jeweiligem Namen mit Genitivendung“ [Typus des Rheins] und „des + jeweiligem Namen ohne Endung“ [Typus des Rhein]:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
des Neckars | 4.548 | des Neckar | 240 |
des Rheins | 60.663 | des Rhein | 945 |
des Bodensees | 11.925 | des Bodensee | 238 |
des Atlantiks | 35.254 | des Atlantik | 3.838 |
des Amurs | 51 | des Amur | 446 |
des Dnjeprs | 49 | des Dnjepr | 738 |
des Ebros | 64 | des Ebro | 579 |
des Mississippis | 398 | des Mississippi | 6152 |
des Missouris | 34 | des Missouri | 1.263 |
des Tejos | 45 | des Tejo | 733 |
des Tibers | 598 | des Tiber | 596 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.
Namen von Flüssen und Gewässern werden sowohl mit als auch ohne Genitivendung verwendet. Die Tabelle zeigt eine deutliche Tendenz, deutsche und eingedeutschte bzw. im deutschen hochfrequente Namen (Rhein, Neckar, Bodensee, Atlantik) mit einer Genitivendung zu gebrauchen, während seltenere oder als fremd empfundene Namen eher unverändert bleiben (Amur, Dnjepr, Ebro, Mississippi, Missouri, Tejo). Der Tiber ist dabei sozusagen auf dem besten Weg, eingemeindet zu werden.
Gesucht wurde nach „im Süden + Name mit Endung“ [Typus im Süden Afrikas] und „im Süden + Name ohne Endung“ [Typus im Süden Afrika], diesmal explizit innerhalb eines Satzes:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
im Süden Afrikas | 2395 | im Süden Afrika | 11 |
im Süden Australiens | 668 | im Süden Australien | 8 |
im Süden Japans | 719 | im Süden Japan | 2 |
im Süden Berlins | 1785 | im Süden Berlin | 18 |
im Süden Frankfurts | 138 | im Süden Frankfurt | 13 |
im Süden Delhis | 77 | im Süden Delhi | 0 |
im Süden Manhattans | 1048 | im Süden Manhattan | 1 |
im Süden Madrids | 160 | im Süden Madrid | 0 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt. Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass in der rechten Spalte vereinzelte Belege wie "...trennte im Norden auch Amerika von Europa sowie im Süden Afrika von Amerika" oder "Die nächstgelegenen Flughäfen sind im Süden Frankfurt und im Norden Köln-Bonn" mitgezählt werden.
Die Tabelle legt nahe, dass diese Namen, unabhängig von ihrer Herkunft, so gut wie immer mit einer Genitivendung verwendet werden.
Gesucht wurde nach „des + Adjektiv + Name mit Endung“ [Typus des frankophonen Afrikas] und „des + Adjektiv + Name ohne Endung“ [Typus des frankophonen Afrika] innerhalb eines Satzes, und zwar für Stadt-, Land- und Flussnamen:
mit Genitivendung | Belege | ohne Genitivendung | Belege |
des + Adjektiv + Afrikas | 1.933 | des + Adjektiv + Afrika | 2.697 |
des + Adjektiv + Deutschlands | 7.762 | des + Adjektiv + Deutschland | 7.798 |
des + Adjektiv + Japans | 314 | des + Adjektiv + Japan | 725 |
des + Adjektiv + Berlins | 1.687 | des + Adjektiv + Berlin | 3.132 |
des + Adjektiv + Frankfurts | 78 | des + Adjektiv + Frankfurt | 443 |
des + Adjektiv + Mannheims | 24 | des + Adjektiv + Mannheim | 144 |
des + Adjektiv + Manhattans | 18 | des + Adjektiv + Manhattan | 154 |
des + Adjektiv + New Yorks | 63 | des + Adjektiv + New York | 510 |
des + Adjektiv + Neckars | 198 | des + Adjektiv + Neckar | 22 |
des + Adjektiv + Rheins | 1909 | des + Adjektiv + Rhein | 98 |
des + Adjektiv + Mississippis | 11 | des + Adjektiv + Mississippi | 122 |
des + Adjektiv + Missouris | 0 | des + Adjektiv + Missouri | 47 |
Die jeweils höheren Belegzahlen sind grau unterlegt.
Bei dieser Recherche zeigt sich wieder das Muster, nicht-einheimische Flussnamen unverändert zu lassen und einheimische mit einer Genitivendung zu versehen. Bei Städtenamen scheint der Genitiv eher am Adjektiv markiert zu werden und nicht am Nomen, wobei es Ausnahmen gibt:
Interessant ist in einigen Fällen eine zeitliche Aufschlüsselung. Die nachfolgende Grafik illustriert beispielsweise, dass sich über die vergangenen 30 Jahre hinweg die Verwendung von "des + Adjektiv + Deutschlands" gegenüber "des + Adjektiv + Deutschland" durchgesetzt hat. Diese Entwicklung wird vermutlich nicht zuletzt durch digitale Orthografie- und Grammatikkorrekturen begünstigt, die geografische Namen im Maskulinum oder Neutrum als falsch markieren, wenn sie von einem Artikel bzw. Adjektiv im Genitiv begleitet sind und selbst keine Genitivendung tragen.
Wie so häufig bei Zweifelsfällen, liegt der Grund der Schwankungen wohl in der Existenz zweier Systematiken, die sich zum Teil widersprechen. In diesem Fall sind das die Regel zur Genitivmarkierung von Eigennamen und die Regel zur Genitivmarkierung von Appellativa (Tisch, Hund, Gesetz, …). Ein Appellativum bekommt im Maskulinum oder Neutrum Singular die Genitivendung (e)s, selbst wenn der Kasus bereits an einem vorangehenden Artikel erkennbar ist. Einem Eigennamen dagegen gebührt Respekt: Man verändert ihn nur, wenn es nicht anders geht, d.h. wenn die Genitivmarkierung nicht an einem Begleiter — wie dem Artikel — festzumachen ist. Bei geografischen Namen scheint es eine Unsicherheit zu geben, ob man sie wie Eigennamen oder wie Appellativa behandeln sollte. Fremde Namen werden dabei eher „respektvoll“ wie Eigennamen behandelt; der Eigennamencharakter von deutschen, eingedeutschten oder im Deutschen hochfrequenten geografischen Namen hat sich wohl mit der Zeit ein wenig abgeschliffen.