Der Genitiv bereitet immer mal wieder Probleme. Eines davon wird hier behandelt, nämlich der Gebrauch der stark flektierenden Genitivformen bei maskulinen und neutralen Nomina im Singular.
Die Frage, wann zur Bildung starker Genitive die Langform -es (wie in der Fluss - des Flusses) und wann die Kurzform -s (wie in das Segel - des Segels) verwendet wird, scheint auf den ersten Blick einfach zu beantworten. Geht man aber in die Details, wird es komplizierter. Grundsätzlich existieren drei Möglichkeiten:
Die kurze Genitivendung ist — über alle Nomina hinweg insgesamt betrachtet — heutzutage die gebräuchlichste. Es gibt nur einige Fälle, in denen ausschließlich die Langform -es standardsprachlich ist. Wer also darauf aus ist, keinen Fehler zu machen, braucht sich im Grunde nur diese zu merken. Sie werden nachfolgend dargestellt.
Einheimische Nomina bzw. solche, die schon seit langem eingebürgert sind und nicht mehr als fremden Ursprungs betrachtet werden, bekommen im Genitiv Singular die genitivische Langform, wenn sie im Nominativ Singular auf einen [s]-Laut enden. Es spielt dabei keine Rolle, wie der [s]-Laut geschrieben wird: -chs , -s, -ss, -ß, -z, -tz, -x . Das Hinzufügen der Kurzform würde man nicht hören.
das Bildnis | des Bildnisses |
das Haus | des Hauses |
das Fass | des Fasses |
der Fuß | des Fußes |
das Kreuz | des Kreuzes |
das Rehkitz | des Rehkitzes |
der Jux | des Juxes |
der Fuchs | des Fuchses |
Bei Nomina, die auf -is enden, wird das -s verdoppelt: das Bildnis – des Bildnisses; das Ereignis – des Ereignisses.
Ist die Silbe, die mit einem [s]-Laut endet, betont, wie z.B. der Kompromiss, der Komplex, wird die Langform gewählt: des Kompromisses, des Komplexes.
Ist diese Silbe unbetont, bleibt das Wort im Genitiv üblicherweise unverändert:
der Zirkus | des Zirkus |
der Radius | des Radius |
das Simplex | des Simplex |
der Atlas | des Atlas |
Aber: Man findet z.B. für Atlas oder Index durchaus Genitivbildungen mit -es: der Atlas – des Atlas/Atlasses, der Index - des Index/Indexes. Als Faustregel gilt: Je fester eingebürgert das Nomen empfunden wird, desto häufiger kommt -es zum Einsatz, auch wenn diese Langform noch nicht allgemein akzeptiert ist. Atlasses und Indexes werden bereits seit längerem als standardsprachlich akzeptabel eingestuft, Zirkusses oder Radiusses noch nicht so lange. Atlasses kommt im mit KorAP recherchierten Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, Stand November 2024) 293-mal vor (gegenüber ca. 1.600 Treffern für die Genitivform des/eines Atlas), Zirkusses 601-mal (gegenüber ca. 14.000 Treffern für des/eines Zirkus), Radiusses nur 11-mal (gegenüber ca. 1.500 Treffern für des/eines Radius).
Wird das s im Nominativ zwar geschrieben, aber nicht ausgesprochen (wie häufig bei Wörtern französischen Ursprungs), bleibt das Nomen unverändert, auch wenn die letzte Silbe betont ist: der Marquis - des Marquis, das Visavis - des Visavis. Man hört aber gelegentlich im Genitiv einen [s]-Laut.
Gelegentlich dient ein Apostroph zur Andeutung einer weggelassenen Genitivendung. Außer nach Eigennamen (Grass' Blechtrommel, Johann Strauß' Operette, Max' Eltern), die hier nicht weiter behandelt werden, ist das Setzen eines Apostrophs statt einer Genitivendung aber nicht standardsprachlich. Man schreibt des Atlas, des Zirkus oder heute auch des Atlasses, des Zirkusses, aber nicht des Atlas', des Zirkus'; vgl § 80 im Amtlichen Regelwerk.
das Mädchen | des Mädchens |
der Engel | des Engels |
der Rasen | des Rasens |
der Abend | des Abends |
der Atem | des Atems |
der Arbeiter | des Arbeiters |
Bei den wenigen maskulinen Nomina, die auf -end enden, findet man gelegentlich auch die Langform -es. Eine KorAP-Suche im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, Stand November 2024) hat 50 Belege für Abendes gegenüber ca. 350.000 Belegen für des/eines Abends zu Tage gefördert. Die Texte, in denen die Langform vorkommt, klingen allerdings manchmal gewollt überhöht, manchmal beziehen sie sich auf vergangene Zeiten oder Persönlichkeiten.
das Kindlein | des Kindleins |
der Wüstling | des Wüstlings |
der Honig | des Honigs |
der König | des Königs |
Auch hier sind die Korpus-Befunde eindeutig, eine genitivische Langform ist für solche Nomina kaum belegt. Viele Sätze mit Königes stammen aus literarischen Texten des 17./18./19. Jahrhunderts. Der Gebrauch der Langform Königes in aktuellen Texten kann gelegentlich als Nachahmung vergangener Literatursprache gelten.
der Papa | des Papas |
das Gelände | des Geländes |
das Auto | des Autos |
der Uhu | des Uhus |
der Kohlrabi | des Kohlrabis |
Standardsprachlich gilt diese Regel auch für Nomina meist englischen Ursprungs, die auf -y enden: das Baby – des Babys, das Pony – des Ponys, auch wenn man gelegentlich eine Genitivform -ies findet (105 DeReKo-Belege für des Babies, 2 DeReKo-Belege für des Ponies).
Auf einen Diphthong (-ai, -eu, -oi, ...) endende Nomina können den Genitiv sowohl mit -s als auch mit -es bilden: das Ei – des Eis/des Eies. Siehe dazu unten.
rot | das Rot | des Rots |
blau | das Blau | des Blaus |
sein | das Sein | des Seins |
wenn | das Wenn | des Wenns |
Statt des Genitivs mit -s gibt es bei diesen Nomina auch die Möglichkeit, den Genitiv ganz ohne Endung zu bilden: des Rot, des Blau, des Sein, des Wenn. Durch Konversion gebildete Nomina, die auf einen [s]-Laut enden, bleiben im Genitiv generell ohne Endung: des Schwarz, des Türkis, des Weiß.
Maskuline oder neutrale Kurzwörter wie das Ufo, der Profi, der Prof, der Azubi bekommen im Genitiv die Kurzendung -s.
Bei maskulinen oder neutralen Buchstabenwörtern wie ADAC, ICC, LKW, PVC, NRW, SWR kann die Kurzendung -s stehen. Weitaus üblicher scheint es aber, solche Buchstabenwörter ohne Endung zu lassen. (DeReKo via KorAP, Stand November 2024: des LKWs: 213 Belege, des LKW: 712 Belege). Nicht üblich ist die genitivische Langform -es. Möglich sind also: des ADAC/ADACs, des ICC/ICCs, des Lkw/Lkws, des PVC/PVCs, des BND/BNDs, des SWR/SWRs. Wenn das Buchstabenwort auf -s oder -x endet, bleibt das Nomen im Genitiv Singular ohne Endung: des IDS, des Btx; man hört gesprochensprachlich aber gelegentlich des IDSes, des Btxes.
Außer nach Eigennamen, die hier nicht weiter behandelt werden, ist das Setzen eines Apostrophs statt einer Genitivendung nicht standardsprachlich: Man schreibt des Seins oder des Sein, aber nicht des Sein'; des Lkws oder des Lkw, aber nicht des Lkw'.
In allen anderen Fällen sind beide Genitivendungen standardsprachlich möglich. Also auch im Fall des in der Eingangsfrage erwähnten Nomens Tag:
Standardsprachlich möglich heißt aber nicht, dass beide Formen gleichermaßen üblich sind, wie die Häufigkeit des Gebrauchs von Tages bzw. Tags im Deutschen Referenzkorpus DeReKo zeigt. Wir finden dort (Stand November 2024) circa 919.000 Belege für des/eines Tages gegenüber nur circa 10.000 für des/eines Tags. Zu einem ähnlichen Befund kommt die "Variantengrammatik" und deckt dabei auch areale Unterschiede auf:
Aus: Variantengrammatik des Standarddeutschen (2018). http://mediawiki.ids-mannheim.de/VarGra/index.php/Tag.
Diese klare Dominanz der genitivischen Langform kann interessanterweise nicht einfach auf Zusammensetzungen mit Tag übertragen werden, wie die folgenden (gerundeten) Ergebnisse zeigen:
-s | -es | |
Tag | 10.500 | 919.000 |
Sonntag | 11.800 | 600 |
Montag | 4.200 | 80 |
Feiertag | 7.300 | 12.400 |
Eine Exploration vieler unterschiedlicher Nomina in der Datenbank zur Genitivmarkierung (GenitivDB) zeigt:
Im folgenden kann ein Auszug aus dieser Untersuchung eingeblendet werden. Die Nomina sind darin grob nach Endungen gruppiert, wenn möglich unter Berücksichtigung der Betonungsverhältnisse. Nomina, bei denen die Langform -es häufiger als die Kurzform vorkommt, sind orange markiert. Nomina, bei denen die Häufigkeit der Langform immerhin mindestens 50% der Häufigkeit der Kurzform erreicht, sind gelb markiert.
-s | -es | |
Aal | 23 | 0 |
Saal | 866 | 1.074 |
Schal | 33 | 0 |
Tal | 385 | 730 |
Wal | 146 | 0 |
Lokal | 1.456 | 0 |
Pokal | 387 | 0 |
Denkmal | 2.080 | 21 |
Schicksal | 3.244 | 1 |
All | 510 | 136 |
Ball | 487 | 518 |
Fall | 1.521 | 2.985 |
Knall | 23 | 2 |
Schall | 79 | 55 |
Abfall | 557 | 18 |
Verfall | 724 | 15 |
Tag | 286 | 37.954 |
Schlag | 135 | 324 |
Vertrag | 3.157 | 5.275 |
Betrag | 520 | 882 |
Vorschlag | 684 | 211 |
Bad | 140 | 1.270 |
Rad | 74 | 435 |
Pfad | 40 | 163 |
Kind | 80 | 16.162 |
Hund | 15 | 1.925 |
Rand | 15 | 71 |
Mond | 69 | 1.541 |
Amt | 2.764 | 849.29000 |
Samt | 5 | 1 |
Zimt | 2 | 1 |
Postamt | 73 | 190 |
Spann | 4 | 0 |
Bann | 32 | 35 |
Mann | 0 | 29.289 |
Organ | 658 | 44 |
Plan | 1.334 | 0 |
Porzellan | 127 | 0 |
Zahn | 55 | 61 |
Dach | 0 | 876 |
Fach | 1.098 | 862 |
Rat | 1.423 | 4.923 |
Monat | 10.552 | 79 |
Diktat | 47 | 9 |
Senat | 10.275 | 429 |
Staat | 2.872 | 21.134 |
Tisch | 124 | 1.245 |
Fisch | 60 | 338 |
Tausch | 27 | 98 |
Austausch | 384 | 381 |
Loch | 323 | 128 |
Moloch | 68 | 0 |
Storch | 17 | 38 |
Rettich | 10 | 0 |
Sohn | 818 | 8.807 |
Mohn | 30 | 4 |
Ton | 567 | 305 |
Balkon | 265 | 0 |
Ballon | 195 | 0 |
Kokon | 6 | 0 |
Dämon | 103 | 0 |
Ruf | 275 | 322 |
Beruf | 1.408 | 929 |
Brauchtum | 231 | 0 |
Reichtum | 1.173 | 3 |
Ruhm | 743 | 401 |
Hut | 22 | 127 |
Mut | 176 | 1.141 |
Reh | 49 | 0 |
Schuh | 158 | 21 |
Stroh | 26 | 10 |
Bau | 1.820 | 549 |
Pfau | 25 | 0 |
Heu | 40 | 15 |
Efeu | 23 | 0 |
Hai | 75 | 0 |
Ei | 0 | 86 |
Konvoi | 139 | 0 |
Das All - des Alls: Obwohl nach den oben aufgestellten Regeln das Wort All, genauso wie das Wort Ball (des Balls/des Balles), den Genitiv auch mit -es bilden könnte, findet man kaum Belege für diese Form. Die gefundenen Belege beinhalten viele Verwechslungen mit dem Wort alles.
Des Tags, tags drauf, montags: Zeitadverbiale werden mit -s gebildet. Diese Endung wird nicht mehr als Genitivendung gesehen, denn auch feminine Wörter wie die Nacht (Genitiv: der Nacht, vgl. Königin der Nacht), werden in dieser Funktion mit -s gebildet: des Nachts, nachts.
Voll des Lobes: In Wendungen, Sprüchen u.Ä. wie auch in Komposita werden häufig ältere Sprachzustände tradiert. So ist es nicht verwunderlich, dass dort die Langform -es vermehrt anzutreffen ist: voll des Lobes, die Mühen des Tages, bei Tagesanbruch, die Manneskraft, im Falle eines Falles ...
Neben den hier behandelten starken Genitivformen (-es, -s) gibt es noch die schwache Genitivform -en wie in des Mandanten, des Präsidenten. Gelegentlich finden sich für ein Nomen konkurrierende starke und schwache Formen, wie z.B. für Dämon. Dieser Komplex wird in der Einheit Autor, Doktor, Friede, Funke — Problemfälle der Flexion behandelt.
Auch der vorgelagerte Genitiv hat seine eigenen Tücken. Siehe dazu: Vaters Hut und des Vaters Hut, Mutters Arbeit und der Mutter Arbeit — vorgelagerte (pränominale) Genitive.
Weitere Texte, die sich mit einzelnen Genitivproblemen beschäftigen: