Der Genitiv bereitet eine Menge Probleme und nur eines davon, nämlich der Gebrauch der Genitivendungen -es und -s (die sogenannten starken Genitivformen) bei maskulinen und neutralen Nomina (Substantiven) im Singular wird hier behandelt. Wer mehr über die Flexions- (oder auch Deklinations-)formen der Nomina wissen möchte, kann den 'Überblick über die Flexionstypen' öffnen.
Im Duden - die Grammatik (2005, S. 197 ff)) werden im Singular 4 Flexions- (oder auch
Deklinations-)typen unterschieden, je nachdem wie die Kasusendungen aussehen:
Flexionstyp I wird dort "endungslos" genannt. Nach diesem Typ flektieren die femininen
Substantive (außer Eigennamen), da sie im Singular keine kasusabhängige Formveränderung
erfahren:
Nominativ | die Zahl |
Akkusativ | die Zahl |
Dativ | der Zahl |
Genitiv | der Zahl |
Flexionstyp II wird "stark" genannt. Nach diesem Typ flektieren maskuline und neutrale Substantive, die den Genitiv Singular mit Hilfe der Endung -s/-es bilden.
Nominativ | der Igel | der Kreis |
Akkusativ | den Igel | den Kreis |
Dativ | dem Igel | dem Kreis/Kreise |
Genitiv | des Igels | des Kreises |
Flexionstyp III wird "stark - Eigennamendeklination" genannt. Diese Flexion wird "stark" genannt, weil auch hier der Genitiv durch die Endung -s angezeigt wird. Artikellose Eigennamen (Personennamen, geographische Namen usw.) flektieren nach diesem Typ, und zwar auch "feminine" Personennamen wie Anna. Endet der Eigenname z.B. auf einen /S/-Laut, wie z.B. in Iris oder Max wird der Genitiv in der geschriebenen Sprache durch ein Apostroph angezeigt.
Nominativ | Anna | Iris |
Akkusativ | Anna | Iris |
Dativ | Anna | Iris |
Genitiv | Annas | Iris' |
Flexionstyp IV wird "schwach" genannt. Dieser Flexionstyp ist gekennzeichnet durch die Endung -en/-n in allen Kasus im Singular außer im Nominativ. Nach diesem Typ flektieren eine Menge maskuline Substantive wie Bär, Held, Fürst, Christ, Präsident, Prinz, Geselle, Kunde, Zeuge usw.
Nominativ | der Prinz | der Zeuge |
Akkusativ | den Prinzen | den Zeugen |
Dativ | dem Prinzen | dem Zeugen |
Genitiv | des Prinzen | des Zeugen |
Nicht alle Substantive lassen sich eindeutig diesen Flexionstypen zuordnen. Einige wenige
kombinieren starke und schwache Endung im Genitv: der Buchstabe - des
Buchstabens, andere schwanken zwischen II (stark), IV (schwach) und einer
Kombination von beiden wie z.B. Herz (des Herzes, des Herzen, des
Herzens). Siehe dazu die Einheit: Autor, Doktor, Friede,
Funke — Problemfälle der Flexion.
Für die Behandlung der Frage
Tages bzw. Tags reicht aber dieser Abriss.
Eine Darstellung der Flektionstypen findet sich auch unter "Nomen - morphologische Eigenschaften" in der Systematischen Grammatik.
Die Frage, wann zur Bildung des starken Genitivs von maskulinen oder neutralen Nomina die Langform -es wie in der Fluss - des Flusses oder die Kurzform -s wie in das Segel - des Segels verwendet werden, ist, grob gesehen, einfach zu beantworten. Geht man aber in die Details, wird es schwieriger. Grundsätzlich existieren drei Möglichkeiten:
Im heutigen Sprachgebrauch ist die kurze Genitivendung -s die gebräuchlichste. Es gibt nur einige Fälle, in denen nur die Langform -es standardsprachlich ist. Wer nur darauf aus ist, keinen Fehler zu machen, braucht sich im Grunde nur diese zu merken. Sie werden im nächsten Abschnitt dargestellt.
Einheimische Nomina bzw. Nomina, die schon seit langem
eingebürgert sind, und nicht mehr als fremden Ursprungs betrachtet werden, bekommen im Genitiv
Singular die genitivische Langform, wenn sie im Nominativ Singular auf einen [s]-Laut enden. Es
spielt dabei keine Rolle, wie der [s]-Laut geschrieben wird:-chs , -s, -ss, -ß, -z, -tz, -x
. Das Hinzufügen eines einfachen [s]-Lauts (geschrieben s) zur
Genitivbildung würde man nicht hören.
der Fuchs | des Fuchses |
das Haus | des Hauses |
das Fass | des Fasses |
der Fuß | des Fußes |
das Kreuz | des Kreuzes |
das Rehkitz | des Rehkitzes |
der Jux | des Juxes |
das Bildnis | des Bildnisses |
Bildnis: Bei Nomina, die auf -is enden, wird das -s verdoppelt: -isses: das Bildnis – des Bildnisses; das Ereignis – des Ereignisses.
Fremdwörter, die mit einem [s]-Laut enden, bekommen entweder die Langendung -es oder sie bleiben unverändert.
- Ist die Silbe, die mit einem [s]-Laut endet, betont, wie z.B. der Kompromiss, der Komplex, wird die Langform gewählt: des Kompromisses, des Komplexes.
- Ist diese Silbe unbetont, bleibt das Wort im Genitiv normalerweise unverändert:
der Zirkus | des Zirkus |
der Radius | des Radius |
das Simplex | des Simplex |
der Atlas | des Atlas |
Atlas: Man findet inzwischen aber schon Belege für Genitivbildungen mit -es: der Atlas – des Atlas/Atlasses, der Index - des Index/Indexes. Als Faustregel gilt, je fester eingebürgert das Nomen empfunden wird, desto häufiger findet man Belege mit -es, auch wenn sie noch nicht standardsprachlich voll akzeptiert sind. Atlasses und Indexes z.B. sind in der Dudengrammatik (2005) als standardsprachlich akzeptabel eingestuft, Zirkusses oder Radiusses nicht. Atlasses kommt 25-mal in den mit Cosmas recherchierbaren IDS-Korpora vor, Zirkusses, obwohl in der Dudengrammatik noch nicht voll akzeptiert, schon 50-mal (gegenüber 1.400 Treffer für die Genitivform des/eines Zirkus), Radiusses nur einmal (gegenüber 15-mal des/eines Radius). Auch bei Google sind die Langformen schon häufiger zu finden: 3.200 Treffer für Zirkusses (gegenüber 52.000 für eines/des Zirkus) und 390 Treffer für Radiusses (gegenüber 41.700 für eines/des Radius) [Stand: Februar 2008].
- Wird das s im Nominativ zwar geschrieben aber nicht ausgesprochen, wie häufig bei Wörtern französischen Ursprungs, bleibt das Nomen, auch wenn die letzte Silbe betont ist, in Schrift und Aussprache standardsprachlich unverändert: der Marquis - des Marquis, das Visavis - des Visavis. Man hört aber gelegentlich im Genitiv einen [s]-Laut.
das Mädchen | des Mädchens |
der Engel | des Engels |
der Rasen | des Rasens |
der Abend | des Abends |
der Atem | des Atems |
der Arbeiter | des Arbeiters |
Abend: Bei den wenigen maskulinen Nomina, die auf -end enden, findet man gelegentlich auch Belege für die Langform -es. Eine COSMAS-Suche in den IDS-Korpora hat 7 Belege für Abendes gegenüber 40.700 für (des/eines) Abends, 15 Belege für Elendes gegenüber 2000 Belege für Elends ergeben. In den Korpora fand sich seit dem Jahr 2000 nur ein einziger Beleg für Abendes gegenüber 17.400 für (des/eines) Abends und 4 für Elendes gegenüber 570 für Elends [Stand Februar 2008]. Die Texte, in denen die Langform vorkommt, klingen oft gewollt überhöht, manchmal leicht spöttisch oder sie beziehen sich auf ältere Literaturerzeugnisse oder Persönlichkeiten. Im heutigen Sprachgebrauch darf die kurze Genitivform als die standardsprachliche neutrale Form betrachtet werden.
das Kindlein | des Kindleins |
der Wüstling | des Wüstlings |
der Honig | des Honigs |
der König | des Königs |
König: Auch hier ist der Befund in den Korpora des IDS eindeutig, eine
genitivische Langform ist mit solchen Nomina nicht belegt. Gelegentlich findet man beim Googeln Belege für die Langform: ±4000 Belegstellen [Februar 2008] für des/eines Königes (gegenüber
± 280.000 Belegstellen für des/eines Königs). Die meisten Sätze mit
Königes im Internet stammen aber entweder aus literarischen Texten aus dem 18.
oder 19. Jahrhundert, oder aus (ziemlich unverständlichen) maschinellen Übersetzungen.
Der Gebrauch der Langform Königes in aktuellen Texten kann also als Nachahmung
vergangener Literatursprache gelten.
der Papa | des Papas |
das Gelände | des Geländes |
das Auto | des Autos |
der Uhu | des Uhus |
der Kohlrabi | des Kohlrabis |
Auch hier ist der Befund der COSMAS-Suche in den IDS-Korpora eindeutig: Es gibt keine Belege mit der Langform -es.
Standardsprachlich gilt diese Regel auch für Nomina – meist englischen Ursprungs, die auf -y enden: das Baby – des Babys, das Pony – des Ponys, auch wenn man gelegentlich in Zeitungen eine Genitivform -ies für das Nomen Baby (des Babies) findet (des Babys: 1122 Belege, des Babies: 35 Belege, aber des Ponys 30 Belege, des Ponies 0 Belege).
rot | das Rot | des Rots |
blau | das Blau | des Blaus |
sein | das Sein | des Seins |
wenn | das Wenn | des Wenns |
Statt des Genitivs mit -s gibt es bei diesen Nomina auch die Möglichkeit, den Genitiv ganz ohne Endung zu bilden: des Rot, des Blau, des Sein, des Wenn.
Maskuline oder neutrale Kurzwörter wie der Ufo, der Profi, der Prof, der Azubibekommen eine Kurzendung -s im Genitiv.
Bei maskulinen oder neutralen Buchstabenwörter wie ADAC, ICC, LKW, PVC, NRW, SWR kann die Kurzendung -s stehen. Weitaus üblicher ist es aber, Buchstabenwörter ohne Endung zu lassen. (COSMAS: des LKWs: 88 Belege, des LKW: 865 Belege). Nicht üblich ist aber die genitivische Langform -es. Möglich sind also: des ADAC/ADACs, des ICC/ICCs, des Lkw/Lkws, des PVC/PVCs, des BND/BNDs, des SWR/SWRs. Wenn das Buchstabenwort auf -s oder -x endet, bleibt das Nomen im Genitiv Singular ohne Endung: des IDS, des Btx, man hört aber gelegentlich [des IDSes], [des Btxes].
In allen anderen Fällen sind beide Genitivendungen standardsprachlich möglich. Also auch im Fall des in der Eingangsfrage erwähnten Nomens Tag.
Standardsprachlich möglich heißt aber nicht, dass beide Formen gleichermaßen üblich sind, wie die Häufigkeit des Gebrauchs von Tages bzw. Tags in den IDS-Korpora seit dem Jahr 2000 zeigen. Es gibt dort circa 36.000 Belege für des/einesTages gegenüber nur circa 800 für des/eines Tags [Stand Februar 2008].
Diese hohe Zahl der Belege für die genitivische Langform kann aber nicht einfach auf Zusammensetzungen mit Tag übertragen werden: des/eines Sonntags: 862 Belege, des/eines Sonntages: 44; des/eines Montags: 278 Belege, des/eines Montages 0; des /eines Feiertags: 450 Belege, des/eines Feiertages: 369.
-s | -es | |
Tag | 800 | 36.000 |
Sonntag | 862 | 44 |
Montag | 278 | 0 |
Feiertag | 450 | 369 |
Eine COSMAS-Exploration vieler unterschiedlicher Nomina in den IDS-Korpora seit dem Jahr 2000 zeigt:
Im folgenden kann ein Auszug aus dieser Untersuchung eingeblendet werden. Die Nomina sind darin grob nach Endungen gruppiert. Wenn möglich wurden verschiedene Betonungsverhältnisse berücksichtigt. Die Nomina, bei denen die Langform -es häufiger als die Kurzform vorkommt, sind magenta markiert. Nomina, bei denen die Häufigkeit der Langform mindestens 50% der Häufigkeit der Kurzform erreicht, sind gelb markiert. Somit kann sich jeder/jede ein Bild machen, und für sich entscheiden, welche Form er/sie verwenden möchte.
Nomina mit -s und -es. Eine Auswahl
-s | -es | |
Aal | 67 | 13 |
Saal | 600 | 670 |
Schal | 29 | 1 |
Tal | 449 | 337 |
Wal | 176 | 30 |
Ideal | 162 | 119 |
Areal | 1962 | 2 |
Lokal | 1123 | 115 |
Pokal | 399 | 2 |
Denkmal | 2519 | 10 |
Schicksal | 1501 | 4 |
All | 408 | 0 |
Ball | 765 | 551 |
Fall | 2010 | 2170 |
Knall | 33 | 1 |
Schall | 153 | 2 |
Abfall | 366 | 1 |
Verfall | 550 | 5 |
Tag | 800 | 36.000 |
Schlag | 149 | 177 |
Vertrag | 2190 | 3729 |
Betrag | 315 | 614 |
Vorschlag | 414 | 88 |
Bad | 109 | 1780 |
Rad | 49 | 478 |
Pfad | 45 | 203 |
Kind | 69 | 13200 |
Hund | 25 | 395 |
Rand | 9 | 100 |
Mond | 36 | 1304 |
Amt | 2550 | 8400 |
Samt | 4 | 2 |
Zimt | 5 | 1 |
Postamt | 32 | 56 |
Spann | 5 | 0 |
Bann | 34 | 14 |
Mann | 122 | 20.800 |
Organ | 409 | 19 |
Plan | 1301 | 414 |
Porzellan | 125 | 0 |
Zahn | 59 | 63 |
Dach | 189 | 310 |
Fach | 1069 | 728 |
Monarch | 77 | 0 |
Rat | 1172 | 2983 |
Monat | 10.053 | 44 |
Diktat | 35 | 2 |
Senat | 10.178 | 407 |
Staat | 5.900 | 13.870 |
Abwasch | 9 | 1 |
Gulasch | 6 | 0 |
Tisch | 161 | 813 |
Fisch | 76 | 387 |
Tausch | 34 | 39 |
Austausch | 470 | 290 |
Loch | 67 | 9 |
Moloch | 17 | 0 |
Storch | 10 | 9 |
Rettich | 12 | 0 |
Sohn | 792 | 6.157 |
Mohn | 297 | 1 |
Ton | 420 | 186 |
Balkon | 430 | 3 |
Ballon | 1100 | 0 |
Kokon | 84 | 0 |
Dämon | 52 | 0 |
Ruf | 199 | 157 |
Beruf | 2465 | 560 |
Brauchtum | 356 | 0 |
Reichtum | 848 | 0 |
Ruhm | 430 | 225 |
Hut | 17 | 79 |
Mut | 75 | 850 |
Reh | 59 | 6 |
Schuh | 147 | 4 |
Stroh | 24 | 4 |
Bau | 1.350 | 140 |
Pfau | 17 | 1 |
Heu | 20 | 0 |
Efeu | 16 | 0 |
Hai | 78 | 8 |
Ei | 110 | 66 |
Konvoi | 84 | 0 |
Das All - des Alls: Obwohl nach den oben aufgestellten Regeln das Wort All, genauso wie das Wort Ball (des Balls/des Balles), den Genitiv auch mit -es bilden könnte, findet man keine Belege für diese Form. Vielleicht um Verwechslungen mit dem Wort alles zu vermeiden?
der Monat Mai - des Monats Mai: Obwohl die Langform des Genitivs von Monat möglich ist, kommt sie in der Wortgruppe Monat + Name des Monats nicht vor: des Monats Januar, Februar, Mai, ...
Sohn, Kind und Mann findet man im Genitiv bevorzugt mit der Langform -es.
Des Tags, tags drauf, montags: Zeitadverbiale werden mit -s gebildet. Diese Endung wird nicht mehr als Genitivendung gesehen, denn auch feminine Wörter wie die Nacht (Genitiv: der Nacht, vgl. Königin der Nacht), werden in dieser Funktion mit -s gebildet: des Nachts, nachts. Aber auch hier gibt es Besonderheiten: Es gibt eines Tages und eines Tags und es gibt auch eines Nachts aber nicht eines Nachtes!
Voll des Lobes: In Wendungen, Sprüchen u.Ä. wie auch in Komposita werden häufig ältere Sprachzustände tradiert. So ist es nicht verwunderlich, dass dort die Langform -es vermehrt anzutreffen ist: voll des Lobes, die Mühen des Tages, bei Tagesanbruch, die Manneskraft, im Falle eines Falles ...
Neben den sogenannten starken Genitivformen (-es, -s), die hier behandelt wurden, gibt es noch die schwache Genitivform -en wie in des Mandanten, des Präsidenten. Gelegentlich gibt es für ein Nomen konkurrierende starke und schwache Formen, wie z.B. für das Nomen Dämon. Eine COSMAS-Suche in den IDS-Korpora seit 2000 hat ergeben, dass die starke Genitivform des/eines Dämons zu der schwachen Genitivform des/eines Dämonen im Verhältnis von 2 zu 1 steht. Dieser Komplex wird in der Einheit Autor, Doktor, Friede, Funke — Problemfälle der Flexion behandelt. Auch der vorgelagerte Genitiv hat seine eigenen Tücken. Siehe dazu die Einheit: Vaters Hut und des Vaters Hut, Mutters Arbeit und der Mutter Arbeit — vorgelagerte (pränominale) Genitive. Weitere Einheiten, die sich mit einzelnen Genitivproblemen beschäftigen: