Vaters Hut und des Vaters Hut, Mutters
Arbeit und der Mutter Arbeit — Was sind vorgelagerte (pränominale) Genitive?
Zwei Knaben von entgegengesetztem Sinne balgen sich
schon unter dem Herzen der Mutter. Sie traten ans Licht: der ältere lebhaft und mächtig, der
jüngere zart und klug; jener wird des Vaters, dieser der Mutter Liebling.
[Goethe: "Dichtung und Wahrheit", Hamburger
Ausgabe, Band 9, S. 137]
Es geht um einen Sohn, der Vaters Liebling
ist.
[Mannheimer Morgen, 15.05.2006; Schiller in
Szene gesetzt]
Eigentlich war er auch Mutters Liebling.
[Der Spiegel, 23.05.1994, Nr. 21, S. 101]
Es gibt Wortgruppen, die aus zwei Nomina bestehen, wovon eines als Attribut des anderen im Genitiv steht, wie
z.B. der Giebel des Hauses. Häufig, wie in der Giebel des
Hauses, steht das Nomen im Genitiv hinten. In den meisten Fällen kann man
dieses Nomen auch nach vorne in die sogenannte pränominale Position verlagern, wie z.B.
des Hauses Giebel. Nomina im Genitiv in dieser Position nennt man kurz
pränominale oder vorgelagerte Genitive.
Hier einige weitere Beispiele, in den ein Nomen im Genitiv beide Positionen einnehmen
kann:
der Hut des Vaters - des Vaters Hut;
die Arbeit der Mutter - der Mutter Arbeit;
mit der Arbeit meiner Hände - mit meiner Hände Arbeit;
der Zorn des Ministers - des Ministers Zorn;
das Elend des Rauchens - des Rauchens Elend.
Der Positionswechsel von hinten nach vorne ist fast mit allen attributiven Genitiven
möglich. Es gibt eine Ausnahme: Wenn mit dem Nomen im Genitiv auf eine Eigenschaft Bezug
genommen wird, kommt die vorgelagerte Position nicht vor. (Diesen Genitiv findet man häufig
unter dem Namen "genitivus qualitatis".)
eine Dame eines gewissen Alters - nicht aber: *eines
gewissen Alters Dame
ein Herr mittlerer Größe - nicht
aber : *einer mittleren Größe Herr;
ein Bier der besten Qualitität - nicht aber : *der besten Qualität
Bier
Wer mehr über die verschiedenen Sorten von attributiven Genitiven erfahren möchte, kann
z.B. Zur Bedeutung von Genitivattributen
einsehen.
Aber auch in den Fällen, in den beide Positionen prinzipiell möglich sind, gibt es
Unterschiede im tatsächlichen Gebrauch.
Gebrauch von vorgelagerten Genitiven
Nomina kann man u. a. in Gattungsnamen
(Mann, Schrank, Meer, Sprung), Stoffnamen (Gold, Milch, Kupfer) und Eigennamen (Peter, Lieschen Müller, Friedrich der Große,
Köln, Frankreich) einteilen.
Gattungs- und Stoffnamen
- Die pränominale Position des Genitivs von Gattungs- und Stoffnamen ist aus
der Mode gekommen. In unserem Gedächnis ist dieser pränominale Genitiv, der in früheren
Jahrhunderten vielfach verwendet wurde, vor allem mit einer (älteren) dichterischen
Sprache verbunden. Man findet ihn heute noch in "poetisierenden" Texten, wie z.B. in
Todesanzeigen und in Zitaten, oder in ironischen bzw. spöttischen Texten. Lediglich den
Ausdruck an der Mutter Brust oder Wendungen wie sich streiten
um des Kaisers Bart findet man noch häufiger vertreten.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch
des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet
Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in
rauhe Berge zurück.
[aus Goethe, Faust I,
Osterspaziergang]
Arbeit ist des Bürgers Zierde,
Segen ist der
Mühe Preis,
Ehrt den König seine Würde,
Ehret uns
der Hände Fleiß.
[aus Schiller,
das Lied von der Glocke]
Wenn sich der Mutter
Augen schließen, ihr treues Herz im Tode bricht.
[Vorarlberger Nachrichten, 01.07.1999, S.
B5]
Der alte Spruch: "Der Mutter Freud, des Vaters
Glück, der Sohn schafft in der Rotfabrik" gilt jedenfalls nicht mehr.
[Frankfurter Rundschau, 31.07.1999, S. 1]
Der Tante Kuß, der
Mutter Kosen gilt schon als Wurzel von Neurosen.
[Neue Kronen-Zeitung, 23.04.1998, S.
2]
Im ersten Teil möchte man um der Mutter Hals die
Nabelschnur festzurren, auf daß sie endlich schweige.
[Oberösterreichische Nachrichten, 09.05.1997; Brutstatt für
Neurosen und Totschlag]
Der Sohn rappt mit dem Teehäferl in der
Hand vergnügt durch die Küche, während die Mutter angesichts der halblustigen
Worteinlagen nur müde gähnen kann. Ihr geht Ö3 auf den Wecker. Ist sie von gestern oder
der Ö3-Morgen von heute flacher? Der Sohn verläßt das Haus, der Mutter
Gehör braucht Erholung.
[Die Presse,
04.10.1997; Radiokritik]
Von der Schnapsdrossel über den
Backfisch, der errötend an der Maibowle nippt, bis zum Säugling, der friedlich an
der Mutter Brust nuckelt, pro Nase 10, 2 Liter – im Konsum scheinen
alle gleich.
[Mannheimer Morgen, 14.01.1999;
Alkoholkonsum]
Ein prächtiger Wurf rosiger Glücksbringer, geboren am 21. Januar dieses
Jahres, wurde zu Besonderem auserkoren. Als das Gerangel an der Mutter Brüsten
zu gross wurde, bekamen sie Zusatzfutter.
[St. Galler Tagblatt, 18.04.1998; Schweinereien unter den
Kirschbäumen]
Eigennamen
- Mit einfachen Namen von Personen und Namen von Städten und Ländern ohne
Artikel (Köln, Frankreich) ist der vorgelagerte
Genitiv üblicher als der nachgestellte: Das ist doch Annas Buch! kommt
viel häufiger vor als Das ist doch das Buch Annas!
Eine Suche
mit COSMAS in den
Korpora des Instituts für deutsche Sprache im April 2008 hat gezeigt, dass über 90
Prozent der Belege für Annas pränominale Genitive sind und weniger als
10 Prozent der Belege auf den postnominalen (nachgelagerten) Genitiv entfallen, für
Kölns haben sich ähnliche Zahlen ergeben.
Das Drama jedoch besteht in Annas unerwarteter
Schwangerschaft.
[die tageszeitung,
09.09.2004, S. 16]
Die Zerbrechlichkeit Annas, die
ihrem verstorbenen Mann zehn Jahre hinterher getrauert hat, wird durch Kidmans Kostüme
betont, die ihrer Figur eine beängstigende Zartheit verleihen.
[die tageszeitung, 23.12.2004, S. 17]
Aber
auch nach einer halben Stunde war der FC noch nicht glaubhaft vor dem Tor von Heribert
Macherey gesichtet worden und der MSV begann langsam zu realisieren, daß er mehr als die
Staffage für Kölns Einzug ins Pokalfinale abgeben könnte.
[die tageszeitung, 25.04.1991, S.
14]
Auch der berühmte Michael Werner, der Markus Lüpertz, Georg
Baselitz und Jörg Immendorff groß machte und entscheidend zum Aufstieg Kölns
zur Kunstmetropole beitrug, ist seit dieser Woche am Checkpoint Charlie mit einer
Niederlassung seines Sohns Julius vertreten.
[Berliner Zeitung, 29.09.2006, S. 2]
- Mehrteilige Namen von Personen (Kombinationen von Vor- und Nachnamen, von
Namen und Spitznamen (Pippin der Kurze u.Ä.) werden weniger häufig
pränominal verwendet als einfache. Um so mehr Teile der Name hat, desto seltener wird er
im Genitiv vorgelagert. Im Vergleich zu den über 90 Prozent für die vogelagerte Position
von Annas verringert sich der Anteil der Belege in den Korpora des
Instituts für Deutsche Sprache für Angela Merkels in pränominaler
Position auf 75 Prozent. Für Friederichs des Großen sind sogar nur 6
der 848 Belege pränominal.
Viel war während der Mahlzeit und nachher in der Abtsstube
von den politischen und moralischen Dingen die Rede, [...] von der Charakterrolle
Deutschlands also, der Versündigung an Belgien, die so sehr an Friedrichs des
Großen Gewalttat gegen das formell neutrale Sachsen erinnerte
[...]
[T. Mann: Doktor Faustus, (1. Buchausg.
1947), In: [Gesammelte Werke in zwölf Bänden mit einem Ergänzungsband], Bd. 6. 1960,
S. 405]
Ein zweiter Kanalbau erfolgte auf Anweisung
Friedrichs des Großen erst zwischen 1743 und 1746.
[die tageszeitung, 13.08.2002, S. 23]
Aber: Namen von Komponisten oder von Autoren stehen häufig vor
dem Titel ihrer Werke, auch dann wenn der Name des Komponisten oder Autors mehrteilig ist,
wie z.B. Carl Philipp Emanuel Bach oder Bertolt Brecht
(COSMAS: Carl Philipp Emanuel Bachs: 42 Mal vor dem Titel, 6 Mal nach dem
Titel eines seiner Werke; Bertolt Brechts: In nur einem der über hundert
Belege steht der Name des Autors nach dem Titel eines seiner Werke.)
Auf dem Programm stehen Johann Sebastian Bachs erste
Orchestersuite, Friedrichs des Großen zweites Flötenkonzert,
Carl Philipp Emanuel Bachs Sinfonie G-Dur und nach einstündiger
Konzertpause mit Weinverkostungen und feinen kleinen Speisen Wolfgang Amadeus
Mozarts Serenata notturna und die Sinfonia concertante. [Tiroler Tageszeitung, 29.03.1997, Ressort: Reise; Ein Fest für
Weinkenner und Liebhaber klassischer Musik]
So schuf er in der
Vergangenheit auch schon Illustrationen zu William Shakespeares
"Sommernachtstraum", Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" und Heinrich
Heines "Florentiner Nächten".
[Mannheimer Morgen, 30.11.2005; Die
Hoffnung ist das grundprinzip]
So findet sich in der
C-Dur-Fantasie Carl Philipp Emanuel Bachs viel von jener chromatischen
Kühnheit und jenem improvisatorisch wirkenden virtuosen Elan, wie sie auch für Mozarts
c-Moll-Fantasie KV 396 und Haydns C-Dur-Fantasie, Hob. XVII/4 charakteristisch sind.
[Die Presse, 21.12.1993; Voll Akribie und Ela]
Im "Der Jasager und der Neinsager" Bertolt Brechts
heißt es: Wer A sagt, muss nicht B sagen.
[Rhein-Zeitung, 20.06.2007;
Kommentar]
Wie der Genitiv von mehrteiligen Namen gebildet wird, wird erklärt in Walthers von der Vogelweide oder Walther
von der Vogelweides? — Komplexe Eigennamen im
Genitiv.
- Artikellose Namen, die auf familiäre Beziehungen beruhen, wie Vater,
Mutter, Onkel, Tante, Oma, Opa stehen im Genitiv nur in pränominaler
Position. (Alle 3200 Belege mit Mutters und die 41 Belege mit
Tantes in den Korpora des Instituts für Deutsche Sprache waren
pränominal.)
Denn wer gern Pasta, Pommes und Mutters Menü
isst, der passt nicht in Laufsteggrößen.
[Rhein-Zeitung, 14.04.2007]
Den Früchtekuchen auf dem Tisch
hatte ihre Tante gebacken. Für den ist sie berühmt, bis nach Übersee, wo die Verwandten
in Irland von Tantes Marzipan-Glasur schwärmen.
[die tageszeitung, 14.07.2005, S.
20]
Statt des Genitivs, der häufig gehoben wirkt, findet man häufig die
Präpositionalphrase
von + Nomen im Dativ:
das Buch von Anna; die
Augen von der Mutter; der Hut von Papa. Regional gibt es auch die Möglichkeit,
die Zugehörigkeit durch ein Nomen im Dativ und ein Possessivum auszudrücken:
Das ist dem Vater sein Hut.
Das ist Mutter
ihre Tasche. vgl.
Wo ist dem Opa
seine Brille? — Zugehörigkeitsanzeige durch Dativattribut.
Wie kommt es zu der Form Mutters?
Die Mutter ist eine feminine Wortgruppe. Wieso bekommt das artikellose
Nomen Mutter im Genitiv ein s?
Die Nomina Vater und Mutter werden nicht nur als
Gattungsnamen verwendet: Der Vater von
meiner Freundin, die Mutter von meinem Freund, Mütter und Väter sind für die Entwicklung
eines Kindes wichtig. Sie können auch wie Eigennamen verwendet werden: Vater (Vati,
Papa) kommt heute später nach Hause. Mutter
(Mutti, Mama), kommst Du bald?
Gattungsnamen haben im Singular einen Begleiter, einen definiten, indefiniten oder
demonstrativen Artikel (der, die, das, ein, eine, dieser, diese, diese)
oder ein Possessivum (mein, meine, dein, deine...). Den Genitiv erkennt man
bei Gattungsnamen an der Form des Begleiters und bei maskulinen oder neutralen Gattungsnamen
auch meist an der Endung des Nomens: Das Glück eines Kindes ist das
Glück seines Vaters und das Glück seiner Mutter.
Auch wenn der Genitiv nicht am Nomen selbst sichtbar wird, wie es bei femininen
Gattungsnamen der Fall ist, ist die Kasuszuordnung über die Form des Begleiters möglich.
Wird das Nomen im Genitiv nach vorne in die pränominale Stellung verlagert, dann nimmt es
seinen Begleiter mit. Somit bleibt der Genitiv bei Feminina, wie auch bei Maskulina ohne
spezifisches Genitiv-s erkennbar:
der Hut der Mutter - der Mutter Hut; die Geldnöte des
Intendanten - des Intendanten Geldnöte; der Zauber des Zirkus - des Zirkus
Zauber.
Wenn Eigennamen ohne Artikel verwendet werden (Karl, Anna, Vater,
Mutter), muss der Genitiv am Namen selbst festgemacht werden. Sie bekommen die
spezifische Genitivendung -s, und zwar auch dann, wenn der
entsprechende Gattungsname ein feminines Wort ist, wie z.B. die Mutter - der Mutter
- Mutter - Mutters. So heißt es die Ehre Annas
genauso wie die Ehre Karls oder die Ehre Mariechens.
Dieses s bleibt auch bei pränominaler Stellung des Namens
erhalten: Annas Ehre, Karls Ehre und Mariechens
Ehre, Mutters Freude und Vaters Freude,
Papas Ärger und Mamas Ärger.
Vaters Geiz, des Bräutigams Seitensprung,
Töchterchens Neid auf die Schönheit der anderen, Mutters Hartherzigkeit in Zeiten
persönlicher Not und des Sohns verantwortungslose Geilheit, das alles war zuviel für die
junge, hübsche Eva Smith.
[Mannheimer Morgen,
06.05.2004; Verlogene Gesellschaft]
Für mehr Details zu den Flexionsformen der Nomina, vergleiche Nomen - morphologische Eigenschaften.
Anmerkungen zur Genitivflexion von Eigennamen
Im allgemeinen wird der Genitiv von Eigennamen durch Hinzufügung der Endung (e)s gebildet. Aber wie immer gibt es ein paar Ausnahmen:
- Gelegentlich wird das s nicht direkt am Namen
festgemacht, sondern durch einen Apostroph getrennt: Grimms Märchen
und Grimm's Märchen, Hegels Theorien und Hegel's
Theorien. Aufpassen: Dieser Apostroph ist standardsprachlich (noch) nicht
voll akzeptiert.
- Wenn das Nomen im Nominativ auf s endet,
bekommt es im Genitiv einen Apostroph, als Andeutung, dass hier eigentlich noch ein
Genitiv s hingehört (gesprochen hört man dieses
s ja nicht): Isis' Sohn.
- Außerdem gibt es noch einige ältere Genitivformen wie z.B. das Herz
Jesu oder das Leid Marien.