Zur Bedeutung von Genitivattributen
Genitivattribute sind - wenn man einmal von den wenigen pronominalen Formen absieht - Nominalphrasen innerhalb von Nominalphrasen und wirken wie die Phrasen, in denen sie auftreten, als Gegenstandsentwürfe. Sie können minimal:
(Lenz, Siegfried: Heinrich Bölls Personal. In: Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 19, Essays. - 1. 1955-1982. - Hamburg1997, S. 311-326)
(Ernst Moritz Arndt, 1813)
aber auch selbst schon erweitert sein:
(Webservice der Stadt Wien. Gemeinderat, 17. Sitzung vom 25.06.2002, Wörtliches Protokoll - Seite 108)
Die Wirkung der pronominalen Genitivattribute unterscheidet sich nicht wesentlich von der nominaler Attribute:
- Bei der demonstrativen Variante (dessen Bruder, derer Familie) ist zunächst dem Verweis zu folgen, dann wie bei nominalen Attributen zu verfahren.
- Die interrogativen Variante (wessen Tasche, altertümlich wes Brot) besagt soviel wie welcher Person - andere "Gegenstände" als eben Personen kommen hier nicht infrage.
Was Genitivattribute zur Bedeutung einer damit erweiterten Nominalphrase beitragen, lässt sich allgemein recht einfach bestimmen: Sie dienen dazu, sprachliche Gegenstandsentwürfe oder Gegenstandsbeschreibungen zu realisieren über die Beziehung zwischen zwei derartigen Entwürfen: einerseits jenem Entwurf, der mit der zu erweiternden Nominalphrase vorliegt, andererseits jenem Entwurf, den sie selbst einbringen. Dabei kann die zu erweiternde Nominalphrase selbst bereits mit einem adjektivischen Attribut erweitert sein, denn eventuell vorhandene Erweiterungen mit adjektivischen Attributen sind bei der Interpretation immer vor Erweiterungen mittels Genitivattributen zu berücksichtigen. Technisch ausgedrückt heißt das: Sie haben den engeren Skopus, also etwa so:
jedoch nicht so:
Mit der allgemeinen Bestimmung der Wirkungsweise von Genitivattributen ist allerdings noch nicht viel gewonnen, denn, um zu erkennen, zu welchem Gegenstandsentwurf sie im gegebenen Fall führt, muss man nicht nur wissen, welche Gegenstandsentwürfe die zu erweiternde Phrase und die erweiternde Phrase realisieren, sondern zudem einschätzen können, welcher Art die Beziehung zwischen beiden Entwürfen sein soll. Genau das stellt aber bei der Interpretation von Genitivattributen das entscheidende Problem dar, denn ausdrucksseitig finden sich dazu keinerlei Hinweise. Genau genommen besagt die Attribution einer Nominalphrase im Genitiv nämlich nicht mehr als: Beides hat etwas miteinander zu tun.
Wer traditionelle Darstellungen zum Genitiv kennt, wird hier vielleicht einwenden, das sei keineswegs so, denn schließlich habe man ja zu berücksichtigen, dass es ganz verschiedene Genitive gäbe, etwa diese:
- Genitivus possessivus — das Haus des Bürgermeisters
- Genitivus subiectivus — der Anstieg der Kosten {Die Kosten steigen}
- Genitivus obiectivus — der Eingliederung der Spätaussiedler {Man gliedert die Spätaussiedler ein}
- Genitivus partitivus — ein Drittel der Kosten
- Genitivus qualitatis — eine Dame eines gewissen Alters
- Genitivus definitivus/explicativus — die Macht der Liebe {die Liebe ist eine Macht}, das Glück der Zufriedenheit {die Zufriedenheit ist ein Glück}
Wirklich hilfreich war dies freilich nicht, denn es erleichterte nur unwesentlich die Interpretation entsprechender Konstruktionen, indem es eine Reihe gängiger Interpretationsmuster bereitstellte, die besonders phantasielose Zeitgenossen beim Auffinden der gemeinten, jedoch keineswegs angezeigten Beziehung unterstützen konnten. Wie wenig weit man mit solcher Hilfe kommt, wird bereits deutlich, wenn man auch Phrasen betrachtet wie die Nacht der langen Messer, das Brot der frühen Jahre, die Träume einer Sommernacht aber auch seines Glückes Schmied oder langer Rede kurzer Sinn. Vollends ratlos bleibt man, wenn man sich mit Sätzen wie diesem konfrontiert sieht:
So ganz kontextfrei betrachtet, neigt man vielleicht dazu, hier jeweils einen Genitivus subiectivus zu sehen im Sinn von:
Ob man diese Interpretation für nahe liegend hält oder nicht, hängt freilich bereits stark vom eigenen Weltwissen ab. Wer nicht weiß, dass Picasso ein bedeutender Maler war, dem sagt die Bilder Picassos nicht mehr als die Bilder meiner Großmutter. Aber auch wer Picasso kennt, hätte Grund, weniger voreilig zu interpretieren. Picasso war nicht nur ein berühmter Maler, er besaß auch viele berühmte Bilder, und er wurde selbst oft auf Bildern dargestellt. Und damit sind längst nicht alle möglichen Beziehungen zwischen den Bildern und Picasso erfasst. So könnte es etwa sein, dass von Bildern die Rede sein soll, die Braque gemalt und Picasso für eine Ausstellung ausgewählt hat. Oder von Bildern, die man Picasso verkaufen wollte, und manches andere mehr.
Die Vermutung, dass sich die Beziehung zwischen Genitivattribut und Bezugsphrase zumindest dann genauer erfassen lässt, wenn das Bezugsnomen von einem Verb abgeleitet ist, bestätigt sich nur zum Teil: Zwar kann man im Allgemeinen davon ausgehen, dass das Genitivattribut in solchen Fällen einem Komplement des Verbs entspricht, von dem das Nomen der Bezugsphrase abgeleitet wurde, doch gerade bei der sehr großen Klasse transitiver Verben kann nur auf der Grundlage von allgemeinem Weltwissen und, wo dies nicht hinreicht, einer Auswertung des Kontextes entschieden werden, ob das Genitivattribut dem Subjekt oder dem Akkusativkomplement entspricht. So ist zwar Bernhards Hilfe eindeutig analog zu Bernhard hilft zu verstehen, doch bei Bernhards Prüfung ergeben sich kontextfrei zwei Optionen: Bernhard prüft und Bernhard wird geprüft.
Entwirft das Genitivattribut einen - zumindest in der realen Welt - nicht handlungsfähigen Gegenstand, entspricht das Attribut bei so genannten Handlungsverben stets dem, was von der Handlung betroffen ist oder durch sie hervorgebracht wird:
Bei Nomina, die von Verben abgeleitet sind, die sowohl transitiv als auch ergativiert vorkommen, ergeben sich wieder zwei Optionen: Heiners Erschrecken kann zu verstehen sein wie Heiner erschreckt jemanden oder wie Heiner erschrickt.
Da es im Alltag nur äußerst selten zu Missverständnissen aufgrund der Vagheit von Genitivattributen kommt, kann davon aufgegangen werden, dass das Zusammenspiel von Genitivattribut und Kontextinformation immer schon hinreichend gut gelang, denn sonst hätten sich mit Sicherheit differenziertere Formen ausgebildet. In jedem Fall ist festzuhalten, dass der Genitiv selbst die jeweils erforderlichen Informationen nicht bereitstellt. Für seine subklassifizierende Wirkung ist das auch gar nicht erforderlich, denn dafür genügt, was er in attributiver Funktion besagt: Was die Bezugsphrase entwirft, hat etwas mit dem zu tun, was die Phrase im Genitiv entwirft .