Zur Bedeutung erweiterter Nominalphrasen
Erweiterte Nominalphrasen tragen zur Bedeutung von Sätzen nichts grundsätzlich anderes bei als minimale Nominalphrasen. Sie realisieren sprachliche Entwürfe oder Beschreibungen von Gegenständen — wobei Gegenstand im weitestem Sinn verstanden werden darf: vom rostigen Nagel über gefrorenen Sauerstoff und große Freude bis zu Ereignissen und Zuständen. Ob diese Gegenstände in der realen oder nur in irgendeiner fiktiven Welt existieren oder nicht, bleibt soweit ohne Belang, denn zu einer Festlegung hinsichtlich ihrer Existenz oder Nicht-Existenz kann es erst kommen, wenn eine entsprechende Phrase im Zuge eines Sprechakts mit Wahrheitsanspruch Verwendung findet. Aus diesem Grund kann auch davon gesprochen werden, dass mit einer Nominalphrase ein Gegenstandsentwurf vorgenommen wird, wenn sich diese Phrase im Skopus einer Negation befindet, denn, was Phrasen wie ein altes Haus und kein altes Haus unterscheidet ist nicht ihr Entwurfscharakter, sondern ihre Funktion der Beschreibung beim Aufbau der Satzbedeutung. Im positiven Fall besagt die Phrase so viel wie: "Um so etwas handelt es sich", im negativen Fall hingegen: "Was auch immer, so etwas jedenfalls nicht."
Erweiterte Nominalphrasen kommen zum Einsatz, wo ihre minimale Basis — aus welchen Gründen auch immer — als unzureichend, unzutreffend oder zu spärlich erachtet wird. Die Erweiterung kann dabei — wie in der Einheit Die Struktur erweiterter Nominalphrasen beschrieben — auf verschiedene Weisen erfolgen, und jede Erweiterung wirkt sich dabei in spezifischer Weise darauf aus, was die dann modifizierte Phrase zum Aufbau der Satzbedeutung beitragen kann. Ein erster Eindruck von der Bandbreite möglicher semantischer Wirkungen von Erweiterungen ergibt sich, wenn man aus den folgenden Beispielen die fett markierten Ausdrücke entfernt und das Ergebnis jeweils mit dem Ausgangstext vergleicht:
(St. Galler Tagblatt, 22.09.1998, «Winzerfest» auf dem Klosterplatz)
(www.marions-kochbuch.de/rezept/0131.htm)
(die tageszeitung, 27.07.1989, S. 21)
(Züricher Tagesanzeiger, 12.04.1997, S. 16)
(die tageszeitung, 19.08.1987, S. 8)
(Die Zeit, 19.09.1997, Nr. 39, Paris, Santa Barbara)
(Oberösterreichische Nachrichten, 27.07.1998, Buben erstickten in Holzkiste)
(Die Presse, 31.01.2000, NEBENBEI)
(die tageszeitung, 30.07.2002, S. 21)
(St. Galler Tagblatt, 29.09.1998, Liechtenstein schickt Bosnier zurück)
(die tageszeitung, 04.06.2002, S. 24)
Gemeinsam ist den Bedeutungen erweiterter Nominalphrasen, dass sie auf den Bedeutungen der minimalen Phrasen aufbauen, die ihnen als Basis dienen, doch die Wirkung der verschiedenen Erweiterungen ist keineswegs immer von gleicher Art. Einige Unterschiede im Bedeutungsbeitrag zwischen verschiedenen Formen der Erweiterung zeigen sich bereits, wenn man die entsprechenden Phrasen in dieser — stilistisch etwas schwerfälligen — Weise paraphrasiert:
ein roter Kleinwagen | etwas, das als Kleinwagen gelten soll und als rot |
verlorene Eier | Gegenstände, die als Eier in unbestimmter Anzahl gelten sollen und als auf eine Weise zubereitet, die üblicherweise als "verloren" bezeichnet wird |
der halbe Bauernhof | etwas, das als die Hälfte eines Bauernhofs gelten soll |
der Auslöser der Kamera | etwas, das als dasjenige gelten soll, das die Kamera auslöst |
diese Freude an der Heimwerkerarbeit | etwas, das als die Freude gelten soll, die jemand an der Heimwerkerarbeit hat |
ein Mord aus Leidenschaft | etwas, das als Mord gelten soll, zu dem es aus Leidenschaft gekommen ist |
der vermutliche Täter | jemand, von dem vermutet wird, dass er der Täter ist |
der falsche Priester | jemand, der sich fälschlicherweise als Priester ausgibt |
eine Kiste, groß wie ein Schrank | etwas, das als Kiste gelten soll und als so groß wie ein Schrank |
Kriegsvertriebenen, deren Kurzaufenthaltsbewilligung abgelaufen ist | Personen, für die gelten soll, dass sie Kriegsvertriebene sind und dass ihre Kurzaufenthaltsbewilligung abgelaufen ist |
der Elfer, der keiner war | etwas, das als Elfer gelten soll und von dem zugleich behauptet wird, dass es nach den Regeln des Fußballspiels keiner hätte sein dürfen |
Nicht immer ist einfach und eindeutig festzustellen, welchen Bedeutungsbeitrag ein Attribut leistet. Fast schon notorisch vage sind Genitivattribute, wie sie in diesem Beispiel auftreten:
(die tageszeitung, 19.07.1990, S. 17)
das Leben des Malers | ?? etwas, das Leben ist und das besagter Maler führt oder geführt hat |
Bilder Dalis | Gegenstände, die Bilder sind und die von
Dali gemalt wurden Gegenstände, die Bilder sind und auf denen Dali abgebildet ist Gegenstände, die Bilder sind und die Dali gehören oder gehörten Gegenstände, die Bilder sind und die Dali ausgesucht hat Gegenstände, die Bilder sind und die Dali geliebt hat ... |
Traditionell suchte man solche Deutungsmöglichkeiten dadurch zu erfassen, dass man Genitivattribute verschiedener Art annahm:
- Genitivus possessivus — das Haus des Bürgermeisters
- Genitivus subiectivus — der Anstieg der Kosten {Die Kosten steigen}
- Genitivus obiectivus — der Eingliederung der Spätaussiedler {Man gliedert die Spätaussiedler ein}
- Genitivus partitivus — ein Drittel der Kosten
- Genitivus qualitatis — eine Dame eines gewissen Alters
- Genitivus definitivus/explicativus — die Macht der Liebe {die Liebe ist eine Macht}, das Glück der Zufriedenheit {die Zufriedenheit ist ein Glück}
Wirklich hilfreich war dies freilich nicht, denn es erleichterte nur unwesentlich die Interpretation entsprechender Konstruktionen. Das wird bereits deutlich, wenn man auch Phrasen betrachtet wie die Nacht der langen Messer, das Brot der frühen Jahre oder die Träume einer Sommernacht.
Mehr hierzu im Rahmen der einzelnen Betrachtung der Bedeutung verschiedener Formen der Erweiterung in der Einheit Zur Bedeutung von Genitivattributen.
Schon vor jeder weiteren Systematisierung fällt auf, dass Erweiterungen von Nominalphrasen sich auf eine von zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen auswirken können:
- Der erweiterte Gegenstandsentwurf hat als Spezialfall des nicht-erweiterten Entwurfs zu gelten. So etwa im Fall von meine lederne Brieftasche oder ein Haus ganz aus Holz.
- Die Erweiterung nutzt den nicht-erweiterten Entwurf nur als Hilfskonstruktion beim Entwurf eines Gegenstands, der nicht als Spezialfall dessen gelten kann, was mit der nicht-erweiterten Phrase zu entwerfen wäre. So etwa im Fall von der kommende Bundeskanzler, die vermeintliche Täterin oder die halbe Miete.
Erweiterungen vom Typ (a) finden sich bei allen Arten der Erweiterung. Hier nur einige Beispiele:
Vom Typ (b) sind hingegen ausschließlich adjektivische Attribute. Entscheidend dafür, wie sich ein adjektivisches Attribut auswirkt, ist jeweils dessen ganz individueller Beitrag zur Bedeutung der Phrase.
Ganz anders liegen die Dinge hingegen unter einem weiteren allgemeinen Gesichtspunkt, der ausschließlich Erweiterungen des Typs (a) betrifft. Erweiterungen dieses Typs können restriktiv aber auch nicht restriktiv wirken. Welche Wirkung mit solchen Erweiterungen gegebenenfalls erreicht wird, ist dabei völlig unabhängig von deren je individuellem Beitrag zur Bedeutung der Nominalphrase und lässt sich nur im Rahmen einer detaillierten Betrachtung bestimmen, die sowohl den internen Aufbau der Phrasen als auch den Kontext in Rechnung stellt, in dem die Phrasen eingesetzt werden. Detaillierte Betrachtungen hierzu finden sich für verbreitete Formen der Attribution in diesen Einheiten: