Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen wegnimmt… — Kann wegnehmen auch ohne Dativobjekt stehen?

§ 242 StGB
Diebstahl


(1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__242.html, 11.09.2023)

Liest man diesen Satz aus dem Strafgesetzbuch, so kann man sich durchaus darüber Gedanken machen, ob das Verb wegnehmen wirklich zwingend ein Dativobjekt benötigt und einem anderen hier nicht der juristischen Übergenauigkeit geschuldet ist. Notwendig ist in jedem Fall ein Akkusativobjekt (eine ... Sache), aber in diesem Satz vielleicht doch auch die im Dativ stehende Person? Hier geht es ja gerade darum, dass jemand anderem etwas weggenommen wird, das macht die Straftat allem Anschein nach aus.

Die Belegsuche

Möchte man untersuchen, ob wegnehmen auch ohne ein Dativobjekt auftreten kann, so benötigt man authentische Sprachdaten. Diese haben wir aus dem Korpusgrammatik-Untersuchungskorpus in zwei Schritten extrahiert.

Im ersten Schritt ermittelten wir 100 zufällige Sätze, in denen wegnehmen vorkommt. Von diesen 100 Belegen enthielten 30 kein Dativobjekt — wegnehmen wird also offenkundig auch verwendet, ohne dass genau angegeben wird, wem etwas weggenommen wird. In einem zweiten Schritt extrahierten wir 100 weitere Zufallsbelege, dieses Mal jedoch unter explizitem Ausschluss von Dativobjekten. Hierbei kamen zwar aufgrund einiger Schwächen der automatischen Kasus-Annotierung trotzdem einzelne Sätze mit Dativobjekt zum Vorschein, allerdings nur sehr wenige, sodass man sich auf die Untersuchung der "validen" Belege konzentrieren konnte.

Im Weiteren achteten wir darauf, bei welchen Belegen eine situierende Angabe in direktem Zusammenhang zu wegnehmen, also als meist lokales Adverbial, vorkommt. Dies war in ungefähr einem Sechstel der Sätze der Fall, wobei die Mehrheit davon kein Dativobjekt enthielt. Bei sechs Belegen wurde auch von im Zusammenhang mit wegnehmen verwendet und so ein Präpositionalobjekt gebildet. Für diese beiden Konstruktionen, also das lokale Adverbial und das mit von gebildete Präpositionalobjekt, interessierten wir uns besonders, da sie dem Dativobjekt strukturell am nächsten stehen: Sowohl bei lokalen Adverbialen als auch bei Präpositionalobjekten kann nach der Präposition als Kasus der Dativ stehen – aber auch inhaltlich ähneln die lokalen Adverbialen (1) und Präpositionalobjekte (2) dem Dativobjekt (3). Die drei Satzkomponenten bezeichnen jeweils

(1) wo (lokales Adverbial) man etwas weggenommen hat, z. B.:
Und dann würden Sie nicht sagen, man muss dort den Ballungsraumzuschlag wegnehmen. (PBY/W14.00062 Protokoll der Sitzung des Parlaments Bayerischer Landtag am 05.04.2001. 62. Sitzung der 14. Wahlperiode 1998-2003. Plenarprotokoll, München, 2001)
(2) von wem (Präpositionalobjekt) man etwas weggenommen hat, z. B.:
Ich kann den Druck von der Mannschaft nicht mehr wegnehmen. (DPA13/DEZ.04725 dpa, 08.12.2013, „Dicke Luft bei 96 nach achter Pleite: 'Das kotzt nicht nur uns an'“)
(3) wem (Dativobjekt) man etwas weggenommen hat, z. B.:
Nun dachten wir bisher, mit sozialer Gerechtigkeit sei gemeint, daß man das, was man den Reichen wegnimmt, den Armen gibt. (N95/AUG.31701 Salzburger Nachrichten, 24.08.1995; "Robin Hood hat einige prinzipielle Probleme")

Unterscheidung verschiedener Bedeutungen

In einem dritten und letzten Schritt widmeten wir uns nun den verwendungsspezifischen Bedeutungsaspekten von wegnehmen. Hierbei erschlossen sich uns anhand der vorliegenden Belege sieben verschiedene Bedeutungen, die sich mit folgenden Synonymen beschreiben lassen:

'abnehmen', 'abziehen', 'einnehmen', 'entfernen', 'mitnehmen', 'reduzieren' und 'weglassen'.

Eine dieser Bedeutungen kommt fast nur in Verwendung mit dem Dativobjekt vor – das ist 'abnehmen'. Es geht hierbei darum, dass etwas jemandem gegen dessen Willen genommen wird. Insgesamt kam diese Bedeutung in etwas mehr als der Hälfte der Belege vor, in einigen wenigen Fällen wurde der Dativ noch um ein lokales Adverbial ergänzt, z. B.:

Die Oberfranken weisen bereits darauf hin, dass dort die FDP der CSU noch am wenigsten Stimmen weggenommen habe. (Süddeutsche Zeitung, 14.10.2009, S. 33; "Es ist selbstverständlich, sich an Vorgängern messen zu lassen)

Von den gesamten Belegen mit der Bedeutung 'abnehmen' waren nur sehr wenige ohne den Dativ. Diese enthielten anstelle dessen allesamt ein durch von eingeleitetes Präpositionalobjekt, z. B.:

Da muss man sich doch wirklich fragen, welchen Sinn es denn macht, wenn die Hälfte der Aufgaben von den Landkreisen weggenommen wird, diese Landesregierung aber an dem Zuschnitt der Kreise nichts ändern will. (PSL/W13.00039 Protokoll der Sitzung des Parlaments Landtag des Saarlandes am 13.06.2007. 39. Sitzung der 13. Wahlperiode 2004–2009. Plenarprotokoll, Saarbrücken, 2007 (S. 2326))

Da die Bedeutung 'abnehmen' schon darauf schließen lässt, dass eine Person benötigt wird, der etwas genommen wird, liegt nahe, dass die Präpositionalobjekte mit von hier, wie vermutet, die Rolle des Dativobjekts einnehmen und die Sätze ohne diese oder zumindest eine lokale Angabe eigentlich nicht stehen könnten.

Die zweite Bedeutung gleicht der von abziehen, es wird also eine Menge verringert wie beim Rechnen. Diese Bedeutung kam nur ohne den Dativ vor – in ungefähr einem Zehntel aller Fälle. Hierbei waren die meisten Belege mit lokaler Angabe, so auch folgender Satz:

Überall nach dem 'Gießkannenprinzip' einfach Stellen wegzunehmen hält er für genauso wenig zielführend wie etwa die Schließung eines der sieben Reviere. (M08/OKT.81819 Mannheimer Morgen, 20.10.2008, S. 17; "Polizei muss sparen und umschichten")

In einem der Sätze fanden wir auch ein Präpositionalobjekt mit von:

Zum Beispiel könne man Kühe auf einer Weide addieren oder die Kinder fragen, was passiere, wenn man von sieben Kühen vier wegnehme. (RHZ11/NOV.28576 Rhein-Zeitung, 25.11.2011, S. 16; "Gemeinsam lässt sich Sprache leichter lernen)

Auch diese Bedeutung kommt also nur selten ohne eine Formulierung vor, die in ihrer Funktion dem Dativobjekt nahekommt.

Die nächste Bedeutung, 'einnehmen' im Sinne von '(Platz) beanspruchen', kam nur ohne das Dativobjekt vor, war insgesamt aber nicht sehr häufig. Einige Belege wurden durch ein lokales Adverbial präzisiert, z. B.:

Da zwischen den einzelnen Gebäuden Einzelgaragen und Parkplätze beinahe so viel Platz wegnehmen wie die geplanten vier Objekte, könnten die Wohnungen relativ leicht gebaut werden und die Pkw in einer Tiefgarage mit 139 Stellplätzen untergebracht werden. (P91/OKT.04959 Die Presse, 19.10.1991; "Neue Baupraxis im Ländle")

Die Tatsache, dass dies nur bei einem Drittel der Belege der Fall ist, zeigt, dass die Bedeutung 'einnehmen' an sich weder das Dativobjekt noch die beiden anderen Ergänzungen benötigt.

'Entfernen' als nächste Bedeutung kommt in etwas mehr als einem Zehntel der Fälle vor, dabei immer ohne das Dativobjekt. Nur in einem Fall trat 'entfernen' mit der von-Phrase auf:

'Erst als wir das Gestrüpp entfernt und etwas vom Kugelfang weggenommen hatten, stellten wir fest, dass das Wasser viel tiefer aus der Erde drängt', erklärt der Projektleiter. (Schweriner Volkszeitung, 19.08.2008, S. 20)

Mitnehmen empfanden wir in nur drei Belegen als eine treffende Umschreibung für wegnehmen. Die dazugehörigen Belege waren alle ohne Dativobjekt und ebenfalls ohne lokales Adverbial oder ein durch von gebildetes Präpositionalobjekt, z. B.:

Das Jugendamt, das die Kinder wegnimmt, handelt namentlich. (PBE/W16.00072 Protokoll der Sitzung des Parlaments Abgeordnetenhaus Berlin am 11.11.2010. 72. Sitzung der 16. Wahlperiode 2006–2011. Plenarprotokoll, Berlin, 2010 (S. 6826))

'Reduzieren' (genauer: 'etwas verringern') als Bedeutung trat auch nicht häufig und nur ohne den Dativ auf. Hierbei war allerdings einer der Fälle mit einem Präpositionalobjekt mit von:

Ich kann den Druck von der Mannschaft nicht mehr wegnehmen. (dpa, 08.12.2013)

Zwei der einschlägigen Sätze waren mit lokalem Adverbial, z. B.:

Mit 43,62 stellte der 22-jährige Texaner, dessen Spitzname Pookie lautet, eine sensationelle Jahresweltbestleistung auf, obwohl er auf den letzten Metern sichtlich Tempo wegnahm - er lief um sagenhafte 29 Hundertstel schneller als am vergangenen Samstag in Paris. (SOZ06/JUL.02800 Die Südostschweiz, 15.07.2006; "Wariner mit sensationeller Zeit")

Sowohl das lokale Adverbial als auch die von-Phrase in dem Beispiel weiter oben erschienen uns aber für den Bedeutungsaufbau nicht unbedingt als notwendig, sondern vielmehr als eine optionale, kontextbedingte Komponente.

Die letzte Bedeutung, die wir bei wegnehmen festgestellt haben, ist 'weglassen' wie in "Gas wegnehmen". Sie liegt ziemlich nahe an der Bedeutung von reduzieren, jedoch geht es bei ihr darum, dass etwas gänzlich weggenommen wird.

Gegenüber anderen Automatik-Getrieben lässt sich das automatisierte Handschaltgetriebe nur mit Zugkraftunterbrechung schalten. Die Elektronik muss also Gas wegnehmen, auskuppeln, Gang einlegen, einkuppeln und wieder Gas geben. (R99/NOV.90026 Frankfurter Rundschau, 06.11.1999, S. 1, Ressort: AUTO MOTOR VERKEHR; "Die DAF-Variomatik erlebt eine Renaissance")

Die weggelassene Menge erscheint deshalb stets als eingermaßen definiert (im letzten Beispiel mit "Gas" allerdings nur durch den weiteren Kontext). Wie die Bedeutung 'reduzieren' kam 'weglassen' nur in Belegen ohne das Dativobjekt vor, insgesamt in knapp zehn Prozent der zweiten Belegsammlung. In zwei Fällen trat sie zusammen mit einem optionalen situierenden Adverbial auf, z. B:

In unserem Fall macht es keinen Unterschied, ob wir in der ersten oder in der achten Runde gegen Austria Lustenau spielen. Da können wir ruhig etwas Druck wegnehmen. (BVZ13/JUL.01158 Burgenländische Volkszeitung, 11.07.2013; "Wir sind bodenständiger")

Auch hier scheinen die dativähnlichen Konzepte wie das Adverbial und das Präpositionalobjekt nicht unbedingt benötigt zu werden.

Fazit

Um auf unser Ausgangsbeispiel zurückzukommen: In dem Auszug aus dem StGB wird wegnehmen im Sinne von '(jemandem etwas gegen seinen Willen) abnehmen' gebraucht, und demnach sollte es mit einem Dativobjekt auftreten, denn in diesem Fall ist die Person, der etwas abgenommen wird, für das Bedeutungskonzept notwendig. Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen unserer Untersuchung, wo die Bedeutung 'abnehmen' regulär mit einem Dativobjekt (und nur sporadisch mit einem mit von gebildetem Präpositionalobjekt) vorkommt. Es kommt auf den Verwendungskontext an und darauf, was wegnehmen im Einzelfall bedeutet. So fanden wir bei diesem Verb auch noch andere Bedeutungen, in denen es ohne das Dativobjekt auftritt.

Abschließend lässt sich sagen, dass wegnehmen nur bedingt ohne sich darauf beziehendes Dativobjekt verwendet werden kann und die Bedingung durch die jeweils intendierte Einzelbedeutung des Verbs gebildet wird. Je nach dieser kann anstelle des Dativobjekts ein Präpositionalobjekt, ein lokales Adverbial oder sogar überhaupt keine vergleichbare Ergänzung stehen.

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Autor(en)
Clara Rieger
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