Durch das deutsche Sprachgebiet führt eine Mauer. Und es ist nicht die zwischen Ost und West. Auf der einen Seite, die sich im Norden befindet, ist man sich sicher, dass man auf einem Stuhl gesessen hat, während man auf der im Süden angesiedelten Seite ganz sicher von sich behauptet, dass man auf dem selben Stuhl gesessen ist. Doch die Grenze ist keine fest gesicherte und es gibt einen aktiven Grenzverkehr, so dass es auch Leute gibt, die beides von sich behaupten könnten, ohne das Gefühl zu haben, eine für sie seltsam klingende Formulierung zu benutzen.
Analog bestehen auch bei gestanden und gelegen unterschiedliche Empfindungen, mit welchem Hilfsverb denn nun das Perfekt richtig gebildet wird.
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Beide Varianten sind natürlich richtig. Jedoch ist die Bildung mit sein die, die regional eingeschränkt ist, während die Variante mit haben als die allgemeinere Form mit der weiteren Verbreitung gilt.
Dennoch klingt etwa ich habe gelegen für viele Menschen südlich des Mains nicht nach korrektem Deutsch, denn für sie ist ich bin gelegen die einzig mögliche, richtige Form. Analog schütteln wiederum die Norddeutschen bei letzterem Ausdruck meist den Kopf.
Werfen wir einen Blick in die Textkorpora des Instituts für Deutsche Sprache (Stand: 9.10.2006). Möglicherweise repräsentieren diese ohne Spezifizierung regionaler Metadaten keine ausgewogene Textmischung für unser Problem. Dennoch zeigt sich ad hoc, dass beide Varianten verhältnismäßig breit verteilt sind:
„hat […] gestanden“ | 256 |
„ist […] gestanden“ | 235 |
„hat […] gesessen“ | 157 |
„ist […] gesessen“ | 59 |
Es wurden bei gestanden nur die Belege mit dem Perfekt von „stehen“ (und nicht von „gestehen“) gezählt und bei gesessen nur die in der Bedeutung „an einem Ort sitzen“ und „an etwas sitzen“.
Viele Menschen in der haben-Zone führen als wichtige Regel im Deutschen an, dass nur bei Verben, die eine Orts- oder Zustandsänderung ausdrücken, das Perfekt mit sein gebildet werde. Auch Nicht-Deutsch-Muttersprachlern wird dies oft mit dieser Regel kurz und knapp so beigebracht.
Dies ist jedoch nur eine der Grundregeln. Es wird oft ausschließlich diese eine Regel gesehen, statt noch weiterzulesen. Grammatiken und andere Nachschlagewerke sehen es nämlich noch etwas differenzierter und gehen nach den Grundregeln immer auch auf Spezialfälle und regionale Varianten ein. So auch auf die angebliche „süddeutsche Anomalie“, die sich dort als akzeptierter und auch richtiger Ausdruck entpuppt.
Wieder einmal zeigt sich also, dass es nicht ein einziges richtiges Deutsch gibt, sondern dass auch der – oft als Hochdeutsch bezeichnete – vermeintliche Standard noch grammatische Variation kennt. Die süddeutsche Variante ist also keineswegs falsch, sondern einfach eine Variation, die als richtig gilt – nur eben regional und nicht im gesamten deutschsprachigen Raum. Dies zeigt sich auch daran, dass im Süden die haben-Form oft trotzdem bekannt ist (wozu die Medien auch beigetragen haben dürften).
Während bei der eigentlichen Bedeutung der drei betroffenen Verben die Nord-Süd-Grenze in ihrer beschriebenen Form existiert, ergibt sich bei Zusammensetzungen und vor allem anderen Lesarten ein etwas anderes Bild. So ist für den Großteil der Leute im sein-Gebiet eine Formulierung wie der Tritt hat gesessen richtig, während man selbst aber auf einem Stuhl gesessen ist. In Österreich herrscht aber anscheinend Uneinigkeit, was im schlimmsten Fall dazu führen kann, dass in ein und dem selben Zeitungsartikel Belege für beide Varianten zu finden sind:
Auch gesessen in der Bedeutung „im Gefängnis gewesen“ wird im Süden zumeist mit haben gebildet. Ohne Kontext wird die Aussage er hat gesessen im Süden generell oft zunächst als „er ist im Gefängnis gewesen“ verstanden. Aber dennoch kann einem auch hier in österreichischen Quellen der IDS-Korpora manchmal die Bildung mit sein begegnen.
Ähnlich verhält es sich auch bei Ausdrücken wie Pate/Modell gestanden, welche im Süden meist auch mit haben verbunden werden – außer wieder in Österreich und hierbei auch in der Schweiz, wo wieder Uneinigkeit herrscht.
Die Belege zeigen, dass die Situation bei der Verwendung recht verworren ist. Bei festen Wendungen und in Fällen, in denen die Verben nicht im originären Sinn von „sich in einer bestimmten Körperhaltung befinden“ verwendet werden, ist man generell mit haben auf der sicheren Seite. Auch im südlichsten Teil des deutschen Sprachgebiets ist diese Variante noch geläufig und kann unbestreitbar als der allgemeine Standard gesehen weren.
Anders verhält es sich eben, wenn das Verb in der eigentlichen Bedeutung verwendet wird. Hier ist keine allgemeingültige Empfehlung möglich. Im Zweifelsfall sollte man vielleicht bedenken, an wen sich der Text oder die Aussage richtet und wie ein Empfänger aus einem anderen Gebiet des deutschen Sprachraums auf eine bestimmte Verwendung reagieren könnte.
Nichtsdestotrotz ist das eigene Sprachempfinden nicht zu vernachlässigen. Wenn einem als Süddeutschen sein an einer Stelle richtig erscheint, so ist es kein Fehler, es auch zu benutzen. Das Standarddeutsche hat nun mal eine gewisse Variation und auch ist gestanden/gesessen/gelegen ist eine akzeptierte und eben standardsprachlich richtige Form.