Mehr zu quantifizierenden Nominalphrasen
Quantifizierende Ausdrücke wie alle-, manche-, keine-, jede-, einige-, beide können zusammen mit ihrem Kopfnomen im Vorfeld stehen:
(2) Alle deine Argumente überzeugen mich nicht.
Interessant ist nun, dass diese quantifizierende Ausdrücke unter bestimmten Bedingungen vom jeweiligen Kopfnomen getrennt auftreten können:
(4) Wir beide haben das gesehen. -> Wir haben das beide gesehen.
(5) Wir alle laufen der Zeit hinterher -> Wir laufen alle der Zeit hinterher.
Dieser Vorgang wird oft "NP-Aufspaltung"oder "Quantorenfloating" genannt, weil man von einer Nominalphrase ausgeht, die durch Getrenntstellung auseinandergerissen wird. Hier werden aber zwei selbständige Einheiten angenommen, weil bei einer genauen Analyse deutlich wird, dass bei Distanzstellung ein anderer kompositionaler Aufbau vorliegt.
Eine Bedingung für das Vorkommen dieser Distanzstellung ist: die Nominalphrase muss die Funktion eines Kasuskomplements haben. Es lassen sich dabei zwei Typen unterscheiden: definite Quantitätsphrasen und indefinite Quantitätsphrasen.
Definite Quantitätsphrasen werden z.B. mit den quantifizierenden Ausdrücke alle, beide, jeder gebildet, die die Gesamtheit einer Menge bezeichnen. Bei Kontaktstellung ist der quantifizierende Ausdruck konstitutiver Bestandteil der Nominalphrase:
Eine bloße Umstellung des quantifizierenden Ausdrucks in das Mittelfeld ergäbe den ungrammatischen Satz
Um zu einem grammatischen Satz zu kommen, muss dem Nomen im Vorfeld der definitive Artikel hinzugefügt werden. Dieser übernimmt die quantifizierende Funktion des ins Mittelfeld gewanderten quantifizierenden Ausdrucks:
Das Vorfeld besteht so wieder aus einer vollständigen NP. Damit wird auch der quantifizierende Ausdruck im Mittelfeld zu einer eigenständigen Komponente des Satzes, die allerdings durch Kasuskongruenz auf die NP bezogen bleibt. "Floating" oder "Aufspaltung" treffen insofern nicht zu, als sich diese Prozesse nicht auf einen Ausdruck, also die NP beziehen. Aufgespalten wird die semantische Doppelfunktion der quantifizierenden Einheit.
Der Unterschied zwischen getrennter und ungetrennter Struktur wird am Beispiel jeder besonders deutlich. Bei Kontaktstellung erfordert jeder den Singular beim Nomen und beim Verb:
In der getrennten Struktur muss dagegen die NP (und entsprechend das Verb) im Plural erscheinen:
In Verbindung mit einem Pronomen, also einer ohnehin eigenständigen NP, ist die Distanzstellung der quantifizierenden Einheit fast der Normanlfall, bei jeder ist sie sogar obligatorisch. Vielfach ist auch eine umgekehrte Verteilung auf Vor- und Mittelfeld möglich:
(9) Alle lächelten sie so verquält ironisch über Bonn.
(10) Wir waren alle mit viel Sorgfalt an die Arbeit gegangen.
(11) Alle waren wir mit viel Sorgfalt an die Arbeit gegangen.
(12) Ihr habt nicht jeder den gleich großen Beitrag dazu geleistet.
(13) Jeder habt ihr nicht den gleich großen Beitrag dazu geleistet.
Wenn der quantifizierende Ausdruck nur eine Erweiterung darstellt, ist die Vorfeldeinheit bei Distanzstellung ohnehin eine eigenständige Nominalphrase. Dass der getrennt stehende quantifizierende Ausdruck auch eine eigene Einheit darstellt, wird am Beispiel beide deutlich. Als adjektivische Erweiterung eines Nomens (14) wird beide schwach flektiert, als selbständige Komponente im Mittelfeld erscheint es dagegen in stark flektierter Form (15):
(15) Die Professoren, die vorgesehen waren, haben beide dankend abgelehnt.
In Verbindung mit einem Personalpronomen ist die Distanzstellung der quantifizierenden Erweiterung fast der Normalfall, bei jede- ist sie sogar obligatorisch. Außer bei jede- ist auch eine umgekehrte Verteilung auf Vor- und Mittelfeld möglich:
Der kategoriale Status der quantifizierenden Ausdrücke als selbständige Einheiten entspricht am ehesten dem von komplementbezogenen Verbgruppenadverbialia (VG-Adverbialia). Sie zeigen auch das gleiche Stellungsverhalten und kommen wie diese hauptsächlich bei Nominalphrasen in Subjekt- und Akkusativkomplementfunktion vor.
In Bezug auf die Informationsstruktur gibt es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Kontakt- und Distanzstellung, da der quantifizierende Ausdruck in beiden Fällen durch Akzent hervorgehoben wird. Da diese Hervorhebung aber im thematischen Hintergrundbereich stattfindet, wirkt sich der Stellungsunterschied nicht grundlegend auf die Gesamtinformationsstruktur aus.
Bei indefiniten Quantitätsphrasen wird mit dem quantifizierenden Ausdruck aus dem Denotatbereich eine Teilmenge herausgegriffen. Zu dieser Gruppe gehören:
- die quantifizierenden Artikel ein und kein
- quantifizierende Ausdrücke mit teils determinativen, teils adjektivischen Eigenschaften: einig-, etlich-, mach-, mehrere, viel, wenig
- Zahladjektive:drei, zehn, fünfhundert
- Maß- und Mengenbezeichnungen in NP-Form: zwei Liter, ein Paar, drei Stück, jede Menge, ...
Diese Teilmengenausdrücke kommen nur in Verbindung mit Nomina vor, und zwar solchen, die bereits selbst eine vollständige NP sind. Bei Distanzstellung kann nur der quantifizierende Ausdruck im Mittelfeld stehen.
(17) EC-Geldautomaten gibt es mittlerweile 48 000 in 15 Ländern. (Zeit, 25.6.1993, 52)
(18) Bier gibt es noch einiges.
Es handelt sich auch hier - wie bei den definiten Quantitätsphrasen - bei der getrennter Stellung um zwei selbständige, im Kasus aufeinander bezogene Phrasen. Der allein stehende quantifizierende Ausdruck ist nicht mehr Artikel, sondern Pronomen; das zeigt sich an bestimmten Singulatformen:
(20) Rotwein ist keiner mehr da.
Bei Quantitätsphrasen mit ein verändert sich auch der nominale Teil. Obwohl ein singularische Bedeutung hat. wird das Bezugsnomen im Vorfeld i.d.R. in den Plural gesetzt, damit die Vorfeldeinheit eine vollständige NP ist:
(22) Konkrete Hinweise gibt es bisher erst einen.
Von den beiden getrennt stehenden Einheiten kann nur eine Argumentstatus haben. Das ist hier nicht die NP im Vorfeld, sondern die quantifizierende Phrase im Mittelfeld. Der determinierende Teil der NP-Bedeutung geht auf die quantifizierende Einheit über, und in der substantivischen NP bleibt nur der charakterisierende Bedeutungsanteil zurück.
Die Getrenntstellung wirkt sich bei indefiniten Quantitätsphrasen sehr stark auf die Informationsstruktur aus. In der ungetrennten Struktur bildet die Quantitätsphrase als eine Komponente mit einem Akzent auch nur eine Informationseinheit des Vordergrunds. In der getrennten Struktur findet dagegen eine Aufspaltung der Vordergrundinformation statt. Die Einheiten tragen je einen eigenen Akzent und dienen unterschiedlichen Zwecken: Mit der Nominalphrase im Vorfeld (Steigton) wird -oft kontrastierend - ein Gegenstandsbereich thematisiert, zu dem dann mit der quantifizierenden Phrase (Fallton) die relevante Information geliefert wird.