Unterschiede in der Propositionsstruktur von Aktiv- und Passivsätzen
Die Wahrheitsbedingungen für einander entsprechende Aktiv- und Passivsätze sind systematisch so aufeinander bezogen, dass in jedem Fall der Aktivsatz den Passivsatz impliziert. Findet im Passivsatz auch der Agens Ausdruck als Kprp, sind beide Sätze darüber hinaus sogar äquivalent. Dennoch weisen sie im elementaren Bereich verschiedene Propositionsstrukturen auf, wobei sich die Unterschiede nicht in einer anderen Zuordnung von Argumenten zu Argumentstellen erschöpfen. Entscheidend ist die unterschiedliche Kodierung des Agens:
Bei bestimmten Verben (z.B. überragen,
überleben ist eine Agens-Angabe auch bei passivischer
Formulierung unverzichtbar und, wie zu zeigen ist, auch die Anzahl der
Argumente im Rahmen der jeweiligen Elementarpropositionen identisch:
Das Münster überragt die Gebäude
der Stadt.
Die Gebäude der Stadt werden vom
Münster überragt.
*Die Gebäude der
Stadt werden überragt.
Die Eltern
überlebten Novalis.
Novalis wurde von seinen
Eltern überlebt.
*Novalis wurde
überlebt.
In solchen Fällen verbietet sich auch
die im Folgenden angesprochene Verlagerung der Agens-Angabe in einen
Nachtrag:
*Die Gebäude der Stadt werden überragt,
und das vom Münster.
*Novalis wurde
überlebt, und das von den Eltern.
Die Feststellung, die Elementarproposition eines Passivsatzes sei um ein Argument reduziert relativ zu der des entsprechenden Aktivsatzes, stützt sich nicht, wie man vermuten könnte, auf die Beobachtung, dass Agens-Angaben entfallen können, denn vom Ausbleiben expliziter Angaben kann nicht zwingend auf das Fehlen entsprechender Positionen geschlossen werden. Argumente werden bei fehlender Angabe mitverstanden im Sinn einer Existentialisierung, weil die zuständige Argumentstelle unabhängig vom Auftreten eines entsprechenden Ausdrucks bereits mit dem Prädikat eingerichtet wird. Er trinkt heißt auch ohne Angabe dessen, was getrunken wird, soviel wie Er trinkt etwas.
Tatsächlich geht die Agens bezogene Information auch im Passivsatz nie ganz unter. Sie verliert ihren Argumentstatus, bleibt jedoch als eine Propositionsspezifikation erhalten, die, sofern sie nicht explizit ausgeführt wird, ganz wie Orts- oder Zeitbestimmungen im Sinn einer Existentialisierung (von jemandem) wirksam wird.
Dass die Agens-Angabe im Passivsatz den Status einer Propositionsspezifikation hat, zeigt sich, wenn man Sätze wie diesen betrachtet:
Insgesamt 24 Jahre verbrachte Cohen als Abgeordneter und Senator
im Kapitol und wurde dort als eigensinniger, aber durch und durch integrer
Politiker geschätzt, und das von Mitstreitern aller
Schattierungen.
[Berliner Zeitung,
10.11.1997, S. 1]
Hier wird die Agens-Angabe in einem Nachtrag positioniert, was bei Komponenten von Elementarpropositionen nicht zu akzeptablen Ergebnissen führt, wohl aber bei Propositionsspezifikationen und Geltungsspezifikationen, und deshalb als Testkriterium für den Argumentstatus einer Komponente dienen kann.
Durch die Möglichkeit, bei passivischer Formulierung Agens-Angaben nachzutragen, ergeben sich für die argumentreduzierte Elementarproposition Skopusverhältnisse, die sich von denen im Aktivsatz unterscheiden:
Im Jahre 1990 wurde die Antarktis zum ersten Mal zu Fuß und ohne Unterstützung durch Schlittenhunde oder Maschinenkraft durchquert, von Reinhold Messner und Arved Fuchs.
Hier geht es um die Erstdurchquerung als solche.
Im Jahre 1990 durchquerten Reinhold Messner und Arved Fuchs die Antarktis zum ersten Mal zu Fuß und ohne Unterstützung durch Schlittenhunde oder Maschinenkraft.
Hier handelt die präferierte Lesart von der ersten potentiell mehrerer solcher Durchquerungen durch Messner und Fuchs.