Das Partizip I - Verbform oder Adjektivderivat?
Der lateinischen Grammatik analog werden im Deutschen Partizip-I-Formen wie lesend, schreibend meist den Verbformen zugerechnet; jedoch finden sich keine solchen Formen im Verbparadigma: sie ist/hat *schreibend (vgl. dagegen Partizipien II, z.B. sie hat geschrieben). Formen wie schreibend haben eher Adjektivcharakter:
Offenbar handelt es sich bei schreibend also nicht um eine Verbform, sondern um ein Adjektiv. Wird aber aus einem Verb ein Adjektiv, ist dies per definitionem Wortbildung. Das wortartverändernde Suffix -end ist dann ein Wortbildungsaffix, kein Flexionsaffix.
Allerdings zeigt dieses adjektivbildende Muster einige Ungewöhnlichkeiten: So ist ungewöhnlich, dass es keine Restriktionen gibt; jeder Verbstamm und jedes Präverbgefüge kann mit -end abgeleitet werden, z.B. abenteuernd, aufbrausend, belagernd, einmischend, sich freuend, lachend, überschäumend, wandelnd, zagend, zahnend, zeternd. Zudem haben explizite Adjektivderivate (vgl. Derivation) wie schreibend einige unadjektivische Eigenheiten: So sind die meisten nicht steigerbar (z.B. die *schreibendere Frau, die *schreibendste Frau, vgl. aber die aufbrausendste Frau, die überzeugendste Frau); die Derivate sind in der Regel nicht mit un- negierbar, verhalten sich hierin also doch eher wie Verben (z.B. eine *unschreibende Frau, vgl. aber die ungenügende, die unzureichende Frau).
Schließlich ist ungewöhnlich, dass verbtypische und adjektivuntypische Akkusativrektionen bestehen: die Liebste anlachend, den Knochen zerbeißend. Diese Rektion erben die Adjektivderivate unverändert von ihrer Verbbasis. Dagegen regieren die meisten Adjektive zwar mitunter den Genitiv (z.B. der Liebsten sicher) oder den Dativ (z.B. der Liebsten treu), aber normalerweise (mit Ausnahme der Erstreckungsadjektive wie in eine Rauchpause lang) nicht den Akkusativ.