Dynamische Tempusinterpretation

Am Anfang eines Textes oder Diskurses wird man im Allgemeinen davon ausgehen, dass Orientierungszeit und Betrachtzeit mit der Sprechzeit gegeben sind. Damit ist einer zeitlicher Interpretationskontext gegeben.

Zeitliche Interpretationskontexte lassen sich in Form von Tripeln aus Orientierungs-, Betracht- und Ereigniszeit in Spitzklammern angeben, wobei das erste Glied des Tripels die Orientierungszeit, das zweite die Betrachtzeit und das letzte die Ereigniszeit angibt: <tx,ty,tz>. Am Textanfang ist der "aktuelle Kontext" auf Null gesetzt:<t0,t0,t0>. Äußert jemand in einer solchen Gesprächssituation den Satz

Es gibt frische Brezeln.

hier trifft die Präsensform auf einen geeigneten Kontext. Die Interpretation des Präsens erfolgt problemlos: Als Betrachtzeit wird die Sprechzeit t0 gewählt. Als Ereigniszeit kommt ein beliebiger Zeitabschnitt t1 in Frage, der sich mit t0 überschneiden kann.

Fängt ein Text hingegen so an:

Es war einfach nicht zu erklären.

ist zunächst kein geeigneter Interpretationskontext gegeben, da dieser am Textanfang als <t0,t0,t0> gesetzt ist. Das Präteritum könnte soweit nicht interpretiert werden, doch hier kommt die Dynamik der Tempusinterpretation zum Tragen:

Das Präteritum wählt die Sprechzeit als Orientierungszeit wählt und führt von dort aus eine "neue" Betrachtzeit ein, die vor dieser Orientierungszeit liegen muss.

Dem "alten" Kontext <tx,ty,t1> steht jetzt ein "neuer" Kontext <ty,tz,t2> gegenüber, in dem tz vor ty liegt und tz und t2 sich überschneiden.

Zu diesem "Fortschreiben" der Betrachtungszeit kommt es beim Präteritum allerdings nur, wo es auf eine Betrachtzeit trifft, die mit der Sprechzeit identisch ist. Liegt die vorgefundene Betrachtzeit bereits vor der Sprechzeit, wird sie vom Präteritum einfach übernommen:

Sie trug einen schäbigen grauen Mantel. Ihre Schuhe waren auch nicht gerade, was man als neu bezeichnen würde.

Analysiert man die einzelnen Tempora in diesem Sinn, ist jeweils anzugeben, was ein zulässiger Eingabe- und Ausgabekontext ist und durch welche Bedingungen der Ausgabe- aus dem Eingabekontext abgeleitet wird.

Seien etwa k1 und k2 temporale Interpretationskontexte der Form <tx,ty,tn> (wobei n entweder 0 oder eine natürliche Zahl sein darf), und zwar jeweils Eingabe- und Ausgabekontext.

{<k1,k2>|...C...} ist dann eine Interpretation für ein Tempus, nämlich eine Menge von Paaren von Eingabe- / Ausgabekontexten, wobei C spezifiziert, wie k2 aus k1 abzuleiten ist. Ein Satz im Präsens, Präteritum, Präsensperfekt oder Präteritumperfekt gilt dann als wahr bezüglich einer solchen Interpretation, wenn das letzte Zeitintervall ein sogenanntes Wahrheitsintervall für den Satzrest ist. Bei Sätzen im Futur oder Futurperfekt gilt Entsprechendes, wenn für den Satzrest ein Möglichkeits-/Wahrscheinlichkeitsintervall gegeben ist.

Für die einzelnen Tempora bzw. Temporaladverbialia kann dann festgelegt werden:

Präsens

Das Präsens wählt als Betrachtzeitintervall das kontextuell besonders hervorgehobene - saliente - Intervall. Es wird mit t* bezeichnet. Als Standardwert gilt: t*= tb (tb sei die Betrachtzeit des "alten" Kontextes). Gibt es für den Satzrest kein Wahrheitsintervall, das mit tb überlappt, so gilt t*=t0, falls sich kein anderes Intervall mehr anbietet.

Eine Interpretation für Präsens ist dann:

{<ta,tb,tn>,<tb,t*,tn+1>}| wobei t* das saliente Intervall ist; als Standardwert: t*=tb; falls sich kein Wahrheitsintervall für den Satzrest findet, das mit tb überlappt: t*=t0; und falls t*=tb, so tn+1 gleich oder nach tn}

Diese Interpretation läuft darauf hinaus, dass das Präsens entweder die alte Betrachtzeit übernimmt und dabei allenfalls die Ereigniszeit "weiterschiebt" oder das saliente Zeitintervall als Betrachtzeit wählt; meist wird das t0 sein. Zur Illustration zwei Beispielsequenzen:

Gestern war der zweite Spieltag der Eishockey-Bundesliga. Mannheim verliert in München 2:4.

Hier wird die Betrachtzeit aus der Interpretation des ersten Satzes für den zweiten übernommen.

Dagegen scheint in

Im 9. Jahrhundert lebten Franken am Niederrhein. Ausgrabungen zeigen das deutlich.

der "Sprung" auf t0 als Betrachtzeit für den zweiten Satz plausibler. Eine Übernahme der Betrachtzeit des ersten Satzes wäre schwer in Einklang zu bringen mit der allgemein bekannten Tatsache, dass die Archäologie bei den Franken des 9. Jahrhunderts noch keine blühende Wissenschaft war.

Den Fall, in dem sich nur die Ereigniszeit weiterschiebt, illustriert diese Sequenz:

Martina (a) setzt sich an den Schreibtisch, (b) schaltet ihr Terminal ein, (c) logt sich ein und (d) beginnt zu schreiben.

Die Sequenzinterpretation wird durch das Weiterschieben der Ereigniszeit möglich. Diese Möglichkeit ist auch bei anderen Tempora vorzusehen, wie wie Cäsars berühmter Ausspruch zeigt:

Ich (a) kam, (b) sah und (c) siegte.

Präteritum

Das Präteritum übernimmt die letzte erreichte Betrachtzeit, falls diese vor der Sprechzeit liegt, wo nicht, führt es eine geeignete ein.

Eine Interpretation für das Präteritum:

{<ta,tb,tn>,<tc,td,tn+1>|ist tb vor t0, so ta=tc,tb=td und tn+1 gleich oder nach tn; wenn nicht, so ist t0=tc und td vor tc}

Diese Beschreibung erfaßt Sätze wie diese:

Es war einfach nicht zu erklären.
Ich kam, sah und siegte.

Futur

Das Futur übernimmt entweder die alte Betrachtzeit, sofern diese nicht vor der Orientierungszeit liegt, oder führt von der alten Betrachtzeit aus eine neue ein, die nicht davor liegt.

Eine Interpretation für das Futur ist also:

{<ta,tb,tn>,<tc,td,tn+1>|ist tb nicht vor ta, so ta=tc, tb=td und tn+1 ist gleich oder nach tn; wenn nicht, so tb=tc, td nicht vor tc}.

Damit lassen sich Sequenzen wie diese interpretieren:

Im Juli 1992 zog das IDS nach R5 um. Dort wird demnächst eine Tagung stattfinden.

Da die Interpretation des ersten Satzes einen Resultatskontext mit Betrachtzeit vor Orientierungszeit ergibt, springt das Futur von der "alten" Betrachtzeit auf eine neue, nicht davor liegende. Diese kann durchaus vor der Sprechzeit liegen, so dass auch Sequenzen wie die folgende interpretierbar sind:

1889 wird Wittgenstein in Wien geboren. 1918 wird er den "Tractatus" veröffentlichen.

Liegt in vergleichbaren Sequenzen statt Präsens das Erzähltempus Präteritum vor, so kann statt des Futurs auch die würde-Form erscheinen:

1889 wurde Wittgenstein in Wien geboren. 1918 würde er den "Tractatus" veröffentlichen.

Infinitiv Perfekt

Der Infinitiv Perfekt führt in jedem Fall eine neue Betrachtzeit ein, wobei die alte Betrachtzeit als Orientierungszeit dient. Die neue Betrachtzeit liegt vor der Orientierungszeit, mithin vor der alten Betrachtzeit.

Eine Interpretation für den Infinitiv Perfekt ist also:

{<ta,tb,tn>,<tc,td,tn+1>|tb=tc und td vor tc}

Das bedeutet, dass die temporalen Interpretationen für zusammengesetzte Tempora insgesamt den Anforderungen einer dynamischen Tempiusinterpretation genügen.

Die generelle Frage, was ein zulässiger Eingabekontext ist, kann wie folgt beantwortet werden: Die erste Option ist der Nullkontext für Text- bzw. Diskursanfänge, also <t0,t0,t0>. Im weiteren Textverlauf bietet sich der jeweilige Ausgabekontext des Vorgängersatzes an.

Die dynamische Analyse von Sätzen mit temporalen Adverbialia soll an einigen Beispielen erläutert werden.

da

Das Temporaladverb da übernimmt die letzte Ereigniszeit im Kontext als Betrachtzeit.

Eine Interpretation für da lautet also:

{<ta,tb,tn>,<tc,td,tn+1>|tb=tc,tn=td}

dann

Das Temporaladverb dann übernimmt die letzte Ereigniszeit als Orientierungszeit und führt eine als Ganzes danach liegende Betrachtzeit ein, außerdem liegt auch die neue Ereigniszeit als ganze nach der Orientierungszeit. Eine Interpretation für dann lautet damit:

{<ta,tb,tn>, <tc,td,tn+1>|tc=tn, tc vor td und tc und td, sowie tn und tn+1 überschneiden sich nicht}

Der hier postulierte Unterschied zwischen da und dann zeigt sich deutlich an Sätzen wie

Otto studierte Romanistik. Da war er glücklich.

versus

Otto studierte Romanistik. Dann war er glücklich.

Der Unterschied zwischen da und dann ist jedoch beim Gebrauch als Ana- oder Katadeixis (Korrelat) aufgehoben. Man vergleiche:

Wenn Otto romanistische Literatur studierte, da/dann war er glücklich.

bis-Satz als Temporaladverbiale

bis übernimmt die Ereigniszeit des Obersatzrests, also des Obersatzes ohne den bis-Satz selbst, als Orientierungszeit und führt ein direkt daran anschließendes Intervall als Betrachtzeit ein für den Untersatz, mit dem zusammen es ein komplexes Temporaladverbiale ("Temporalsatz") bildet. Eine Interpretation für bis lautet also:

{<ta,tb,tn>,>tc,td,tn+1>| tc=tn,tc unmittelbar vor td und tn+1}

Dadurch wird bei der Interpretation erreicht, dass das durch den Obersatzrest bezeichnete Ereignis als direkt an das vom Untersatz bezeichnete heranreichend gesehen wird, z.B. wird in

Bis ich an die Bergstraße zog, lebte ich in Mannheim.

der Zustand des in Mannheim Wohnens nach hinten abgegrenzt durch das Umzugsereignis.

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