Das exozentrische Kompositum
Exozentrische Komposita, traditionell vor allem Possessivkomposita, mitunter auch Bahuvrihi genannt, werden in der Forschungsliteratur häufig als eigener Kompositatyp neben Determinativ- und Kopulativkomposita gestellt. Hier werden sie dagegen als semantischer Untertyp der Determinativkomposita gesehen und zwar aus folgenden Gründen:
Exozentrische Komposita stehen vor allem in Opposition zu den Determinativkomposita. Bei Determinativkomposita bestimmt die erste Einheit die zweite näher, d.h. die erste grenzt die Bedeutung der zweiten ein. So bezeichnet z.B. Grünspecht einen Specht, der grün ist; Specht ist das Hyperonym, d.h. der Oberbegriff, zu Grünspecht. Bei den exozentrischen Komposita dagegen ist die zweite Einheit keineswegs das Hyperonym des Kompositums: Rotkehlchen bezeichnet kein Kehlchen, das rot ist, sondern etwas, das sich sozusagen außerhalb der Bezeichnung befindet (daher exozentrisches Kompositum), nämlich einen Vogel, der ein rotes Kehlchen hat (daher Possessivkompositum oder altindisch Bahuvrihi 'viel Reis habend').
Die Termini Possessivkompositum und Bahuvrihi sind übrigens insofern irreführend, als ja auch bei den üblichen Determinativkomposita Haben-Relationen bestehen, nämlich zwischen Einheiten wie Korb und Henkel in Henkelkorb 'Korb, der einen Henkel hat', so auch Bilderbuch, Schnabeltasse, Stachelschwein. Der Terminus exozentrisches (Determinativ)Kompositum ist wesentlich eindeutiger und wird daher hier bevorzugt.
- Determinativkompositum: Grünspecht 'grüner Specht'
- Exozentrisches Kompositum: Rotkehlchen 'Vogel mit rotem Kehlchen'
Trotz dieser Abweichung sind exozentrische Komposita jedoch ihrer morphologischen Struktur nach Determinativkomposita: rot determiniert Kehlchen. Daher liegt es nahe, anzunehmen, dass exozentrische Komposita lediglich semantisch weiterentwickelte, umgedeutete Determinativkomposita sind. Zunächst entstand ein übliches Determinativkompositum mit Determinatum und Determinans, das in einem weiteren metonymischen Etablierungsschritt verwendet wurde, um nun auch Sachen zu bezeichnen, die nicht das Bezeichnete selbst sind, sondern das Bezeichnete charakteristischerweise haben. Wörter können bekanntlich prinzipiell in dieser Weise umgedeutet werden, z.B. im Krankenhausjargon: das Herz in Zimmer 202 hat Besuch von seiner Mutter. Hier wird eine Person bezeichnet, deren Charakteristikum das medizinisch behandelte Herz ist. Vgl. auch Die eine gelbe Bluse wurde stutzig [...] Die misstrauische gelbe Bluse musterte mich von Kopf bis Fuß (Japrisot 1999: 164). In diesem Sinne sollten exozentrische Komposita nicht als ein eigenständiger Kompositatyp neben Determinativ- und Kopulativkomposita gestellt, sondern als Untertyp den Determinativkomposita zugeordnet werden.