Zeitliche Interpretation von Indikativformen in Indirektheitskontexten

Der Konjunktiv in Indirektheitskontexten wird stets verlagernd interpretiert. Wird dagegen in potentiellen Indirektheitskontexten Indikativ verwendet, sind die temporalen Verhältnisse weniger klar. Häufig geben sie erst einen Hinweis darauf, ob ein Direktheits- oder Indirektheitskontext vorliegt.

Prinzip der kontextabhängigen zeitlichen Interpretation in Indirektheitskontexten

Der Indikativ ist in der Regel verlagernd.

In indikativischer indirekter Rede sowie bei Gedankenpräsentation findet in der Regel eine dem konjunktivischen Gebrauch entsprechende Verlagerung auf die referierte Zeit als Bezugszeit statt. Unterbleibt die Verlagerung, kann dies als Indiz für den Wechsel in einen Behauptungs- oder Faktizitätskontext gelten.

Bezugszeit = Referierte Zeit (indirekte Rede):

Zum Glück erwartete mich wenigstens die Meldung, dass die Turbinen für Venezuela endlich zur Montage bereit sind, also Weiterflug sobald wie möglich - ich fragte mich, ob ich meiner Aufgabe gewachsen bin. [LFH, 202]
Sonst hat Marie immer mit mir geschimpft, und wenn meine Mutter sagte "Ach Gott, ja!" mußte sie immer noch was dazutun und sagte, ich bin ein nichtsnutziger Lausbube.
[Ludwig Thoma, Lausbubengeschichten 41; zit. nach Kaufmann 1976: 35]
Und er sagte mir, er möchte also auch, dass die Sache nochmals behandelt wird im Verwaltungsausschuss. [XEO, 11]
Mir hat ein Chirurg mal erzählt, er war in einer großen Stadt im östlichen Bereich. [YBD, 14]

Bezugszeit = Referierte Zeit (Gedankenpräsentation)

Ich war so wütend auf dich, ich dachte du bist einfach verschwunden und lässt mich hier sitzen.[Frisch, Stiller, 400; zit. nach Kaufmann 1976: 35]
Ich vermutete, es kommt vom Neon-Licht, und trocknete meine Hände. [LFH, 12]

Verlagerung auf die referierte Zeit tritt besonders häufig bei Rede-/Gedankenwiedergabe in Form uneingeleiteter Verbzweitsätze auf. Diese Form wiederum, die weniger starke syntaktische Integration anzeigt als Subjunktorsätze mit dass, ist charakteristisch für gesprochene Sprache und eine ihr entsprechende literarische Stilprägung.

Bezugszeit = Referatzeit (indirekte Rede)

Er verlangte und erhielt die Autoschlüssel des Oldsmobile und verließ mit Kopechne das Haus. Kopechne erzählte niemandem außer Kennedy, daß sie ging.
[Spiegel 20/1970, 161/3]
Dort sagte man mir, dass er im Krankenhaus lag.

Bezugszeit = Referatzeit (Gedankenpräsentation)

In Erzähltexten im Präteritum wird häufig die Referatzeit als allgemeiner Bezugsrahmen beibehalten:

Erst in dem Augenblick, als er mich fragte, hatte ich gewusst, dass ich weggehen wollte. Ich ging in die Küche, wo Anna mich knurrend empfing. "Ich dachte, du wolltest kein Frühstück mehr", sagte sie böse. "Frühstück nicht" sagte ich, "aber Kaffee". [LBC, 73]
['denken und wollen gleichzeitig']
Die Uhr in der Schalterhalle sagte mir, daß es zwanzig nach vier war. [LGB, 181]
['sagen (Uhrzeitanzeige) und Uhrzeit gleichzeitig']
Bevor sie kamen, ließ ich noch den Geruch des fließenden Himbeersirups auf mich wirken (...) und überlegte mir noch, (...) ob wohl Oskars Blut oder die Himbeeren so süß und müde machend rochen. [LGB, 48]
['überlegen und riechen gleichzeitig']
"Sie sehen miserabel aus, Pompe", stellte Kübrich fest. (...) "Ihrem Mitarbeiter geht es dreckig", erläuterte Delby, "er leidet an -" "Sie halten den Mund", leistete der Patient matten Widerstand und faselte etwas von ärztlicher Schweigepflicht. "Quatsch", erwiderte der Arzt. "Dr. Pompe leidet an chronischem Nierenversagen." (...) Sie gingen nach vorn, Kübrich voller Selbstvorwurf, dass er nicht einmal erkannt hatte, wie krank sein engster Mitarbeiter war. [W. Berthold, Hölle am Himmel 152 f.; zit. nach Solfjeld 1989: 41]

Doppelter Zeitbezug indikativischer indirekter Rede kann eine Quelle von Missverständnissen sein:

Peter sagte mir damals, dass die heiße Ware eintreffenwerde, nachdem es dunkel geworden sei/ist.
bei Konjunktiv im letzten Untersatz:
eindeutig verlagernd: Bezugszeit für 'eintreffen'= Referierte Zeit= Ereigniszeit von sagen (Vergangenheit zur Sprechzeit), Bezugszeit für 'dunkel werden'= Ereigniszeit von 'eintreffen' (liegt vor 'eintreffen')
bei Indikativ im letzten Untersatz:
  • verlagernd
  • nicht verlagernd, Bezugszeit für 'dunkel werden'= Referatzeit

Die zweite Interpretation ist ausgeschlossen, wenn bekannt ist, dass das Gesamtereignis mehr als einen Tag zurückliegt.

Offenbar kann keine schematische Zeitenfolge angesetzt werden, bei der bei Fortsetzung einer konjunktivisch begonnenen indirekten Rede durch einen indikativischen Nebensatz automatisch die Sprechzeit als Bezugszeit gewählt werden muss.

Umgekehrt heißt das: Nicht jede indikativische Fortsetzung einer konjunktivisch begonnenen Redewiedergabe führt zum Wechsel in die Behauptungsperspektive.

Das Problem möglicher Missverständnisse taucht allerdings häufig gar nicht erst auf, etwa dann nicht, wenn allgemeingültige Feststellungen getroffen werden, für deren Zeitbezug verlagernde und nicht-verlagernde Sehweise irrelevant ist

... ich empfand diesen für ihn enormen Stilfehler als einen Ausdruck von Bockigheit, dem schon tausendmal gesagt worden ist, daß man Taschentücher nicht auf den Tisch legt. [LBC, 207]

oder wenn eine Proposition sowohl bezüglich des aktualen als auch bezüglich des verlagerten Bezugspunktes Gültigkeit hat:

... ich dachte, als ich meinen Mantel an den Kleiderhaken hängte und meine Guitarre in die Ecke stellte, darüber nach, ob eine Wohnung vielleicht doch etwas mehr als eine Selbsttäuschung ist. [LBC, 25]

Normierung des Gebrauchs in dem Sinne, dass bei referatkennzeichnendem Verb im Präteritum der Indikativ Präsens nur für das gebraucht werden sollte, weas nach Auffassung des Sprechers zeitlos gültig ist, erweist sich in Anbetracht der Sprachpraxis als unrealistisch und wenig hilfreich, denn beim Ausweichen auf Indikativ Präteritum entstehen vergleichbare Missverständnisse.

Wer als Hörer oder Leser Missverständnisse vermeiden möchte, sollte bei Indikativ in klar erkennbaren Indirektheitskontexten außerhalb von Erzähltexten stets mit Verlagerung der Bezugszeit rechnen.

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Autor(en)
Bruno Strecker
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