Die Klammerform

Als Klammerformen werden in der Forschungsliteratur allgemein nominale Determinativkomposita wie Bierdeckel angesehen, deren erste Einheit (Bier) ursprünglich zweiteilig gewesen sein soll (z.B. Bierglas); der zweite Teil der ersten Einheit (Glas) soll "aus ökonomischen Gründen" (Bußmann 1990: 381) weggefallen sein: Bierglasdeckel -> Bierdeckel. Bei Fleischer/Barz (1995) wird die Klammerform als Kurzwortbildungsprodukt angesehen. Glück (1993: 307) und 2000: 345) verwendet den Begriff Klammerform abweichend von der einschlägigen Forschungsliteratur für Phänomene wie Motel, die hier als Kontaminationsprodukte verstanden werden.

Als typische Klammerformen gelten z.B. Betriebs(wirtschafts)lehre, Kokos(nuss)butter, Füll(feder)halter, Tank(stellen)wart.

Die sichtbar zweiteiligen Komposita bestehen der Klammerformhypothese zufolge eigentlich aus drei Bestandteilen:

  • Bier(1) + Deckel(2) = Bier(1)glas(2) + Deckel(3)

Schon der Terminus Klammerform ist jedoch fragwürdig, weil er eine Dreiteiligkeit impliziert: Komposita wie Bierdeckel werden nämlich als Klammerformen bezeichnet, weil bei ihnen "ein mittleres Glied ausgespart ist, so dass die beiden äußeren Glieder eine Klammer bilden" (Bußmann 1990: 381). Dieser Terminus ist insofern ungünstig, als der vermeintlich entfallende Teil nicht in der Mitte des Kompositums steht, sondern morphologisch und semantisch zur ersten Einheit gehört (z.B. Glas zu Bierglas). Außerdem wurden Determinativkomposita wie Bierdeckel von Knobloch 1973 (vgl. Ortner et al. 1991: 12) bzw. von Bellmann 1980 (vgl. Fleischer/Barz 1995: 220) als "reduzierte Trikomposita" bezeichnet; dies ist der grundsätzlichen Binarität von Determinativkomposita wegen ebenso irreführend.

Darüber hinaus ist die Klammerform als Erklärungsmodell hauptsächlich aus zwei Gründen zweifelhaft:

  • Erstens beruht die Klammerformhypothese auf der Annahme, dass die Einheiten in Komposita wie Bierdeckel in keiner sinnvollen Bedeutungsbeziehung zueinander stehen würden; zur Paraphrasierung des Kompositums müsse eine weitere Einheit hinzugefügt werden, z.B. 'Deckel für Bier+gläser'. Schon diese Prämisse ist nur bedingt plausibel, denn Paraphrasen sind keine überzeugenden Argumente für morphologische Strukturen: Paraphrasen beschreiben in syntaktischer Form die Bedeutung eines komplexen Wortes, entsprechen aber nicht unbedingt dessen morphologischem Aufbau. Vor allem aber ist die Annahme einer fehlenden Einheit keineswegs zwingend, denn gerade nominale Komposita sind semantisch weitgehend frei: In der Forschungsliteratur wird im Zusammenhang mit Klammerformen mitunter von "Schiefheiten in der Verknüpfung" gesprochen (vgl. zusammenfassend Ortner et al. 1991: 669). Formulierungen wie diese werten subjektiv und werfen Fehlerhaftigkeit vor, wo lediglich festgestellt werden kann, dass es im Deutschen regelhaft die Möglichkeit gibt, Bedeutungsbeziehungen zwischen Kompositaeinheiten vage zu lassen (vgl. dazu grundlegend Heringer 1984). Die Prägnanz von Komposita entsteht gerade daraus, dass nicht alles explizit ausgedrückt werden muss. Bei den meisten Komposita bedarf es daher ohnehin erläuternder Zusätze, z.B. Hutschachtel 'Schachtel, in der ein Hut aufgehoben werden kann', Fischfrau 'Frau, die Fisch verkauft', Rotbuche 'Buche, die rotes Holz hat'. Niemand ist aber bislang auf den Gedanken gekommen, auch Komposita wie Hutschachtel, Fischfrau, Rotbuche als Klammerformen des Typs Hut(aufbewahr)schachtel, Fisch(verkaufs)frau, Rot(holz)buche zu postulieren. In diesem Sinne sind auch Komposita, die in der Forschungsliteratur als Klammerformen betrachtet werden, z.B. Betriebslehre, zu analysieren als 'Lehre darüber, wie ein Betrieb zu führen ist', Bierdeckel als 'Deckel, der irgendwas mit Bier zu tun hat'. Zudem sind einige der in der Forschungsliteratur als Klammerformen angegebenen Komposita wie Schlacht(vieh)hof (Ortner et al. 1991: 11f) keineswegs nur mit den eingefügten Nomina zu verstehen, sondern ebensogut als 'Hof, auf dem geschlachtet wird'.
  • Zweitens ist an der Klammerformhypothese unbefriedigend, dass nicht eindeutig ist, wie die vermeintlich fehlende Einheit denn nun genau lauten soll. So sind sich sogar Vertreter der Klammerformhypothese selbst nicht immer einig, was genau ausgelassen worden sein soll, vgl. Fern(melde)amt (Fleischer/Barz 1995: 104) gegenüber Fern(sprech)amt (Wellmann 1998: 423). Zudem müssten eigentlich, wie oben gezeigt wurde, zur genauen semantischen Beschreibung mitunter sogar noch viel mehr als die in der Forschungsliteratur angegebenen Einschübe angenommen werden: So ist z.B.Akutbett keineswegs vollständig durch Akut(fall)bett bestimmt, strengenommen müsste vermutet werden, es handele sich bei Akutbett um eine Kürzung aus Akutfallklinikbett oder Akutfallkrankenhausbett oder Akutfallgemeinschaftsärztehausbett. Der Versuch, die üblicherweise vagen Beziehungen zwischen den Einheiten gerade nominaler Komposita doch noch irgendwie morphologisch zu konkretisieren, hat also z.T. absurde Konsequenzen.

Der Begriff und Terminus Klammerform wird hier nicht benötigt.

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Autor(en)
Elke Donalies
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