Umfährt er ihn oder fährt er ihn um? — Komplexe Verben

Wer beim Linksabbiegen den Polizisten nicht umfährt, verstößt gegen die StVO.
[Heringer 1995, 179]

oder

Zwei gleiche ungleiche Sätze
Man kann mit einem Schlitten einen Zaun umfahren. (Glück gehabt!)
Man kann mit einem Schlitten einen Zaun umfahren. (Krach! Au!)

(Hans Manz 1998, nach Janich 2004, 216)

Vor allem Deutschlerner haben mit den deutschen Verben des Typs umfahren Probleme. Deshalb richtet sich diese Antwort vor allem an sie. Aber auch Deutschkönner können hier das Eine und Andere über Verbbildung lernen.

Im Deutschen bilden wir Verben vor allem auf zweierlei Art:

  1. Wir können eine kleine Anzahl sogenannter Präfixe mit Verben kombinieren. Es sind im Wesentlichen die nur für die Verbbildung verwendeten Präfixe be-, ent-, er-, ver- und zer-: begehen, ergehen, entgehen, vergehen, zergehen. Präfixe sind fest mit einem Verb verbunden; sie kommen nicht frei in Texten vor. Vgl. Begehen, entgehen, ergehen, vergehen, zergehen – Präfixverben und ihre Bedeutung
  2. Wir können frei in Texten vorkommende Präpositionen wie auf, aus, durch, unter mit Verben kombinieren. Die Verbindungen sind entweder lose oder fest.
    • Lose Verbindungen heißen Präverbfügungen. Wir setzen sie aus einer Präposition in der Funktion eines Präverbs (auf) und einem Verb (nehmen) zusammen. Präverbfügungen werden in vielen Kontexten getrennt:
      Das Publikum nahm die Vorlage dankbar auf und engagierte sich.
      [die tageszeitung 3.1.2005, S. 23].
      Auch werden Präverbfügungen im Perfekt durch das Flexionsaffix ge- getrennt: Das Publikum hat die Vorlage dankbar aufgenommen, ebenso durch den Infinitivmarker zu: Das Publikum konnte nicht anders als die Vorlage dankbar aufzunehmen. Präverb und Verb wechseln also ihre Position zueinander. Folgen Präverb und Verb unmittelbar aufeinander, wird ihre Verbindung grafisch angezeigt; die Präverbfügung wird zusammengeschrieben: Das war damals, als das Publikum die Vorlage dankbar aufnahm. Vergleichbare englische Formen ändern übrigens die Reihenfolge nie: to pick up, he has picked up, he was picking up. Das Präverb wird betont: áufnehmen, dúrchstehen .
    • Feste Verbindungen heißen Verbkomposita. Wir setzen sie aus den Kompositionseinheiten Präposition und Verb zusammen. Komposita werden nie getrennt:
      Die Polizei untersuchte jedoch auch die geschäftlichen Kontakte Kleins und sie durchleuchtete sein Privatleben
      [Berliner Zeitung 12.6.2001, S. 20].
      Im Perfekt haben Komposita kein Flexionsaffix ge-: Sie haben die Kontakte untersucht; der Infinitivmarker zu wird vorangestellt: Sie haben sich bemüht, die Kontakte zu untersuchen. Kompositatypisch wird die zweite Einheit betont: untersúchen, durchléuchten .

Die meisten Präpositionen fungieren ausschließlich als Präverb, zum Beispiel:

  • ab in absetzen, abschreiben, abheben
  • an in anstellen, anschubsen, angewöhnen
  • auf in auslachen, ausbeuten, ausstehen
  • bei in beilegen, beitreten, beistehen
  • mit in mitdenken, mitfreuen, mitfahren
  • vor in vorlaufen, vornehmen, vorblättern

Manche Präpositionen können wir aber sowohl als Kompositionsglied als auch als Präverb verwenden. Es sind:

  • durch
  • über
  • um
  • unter
  • wider

Gibt es feste Regeln?

Wann werden durch, über, um, unter und wider fest an ein Verb gebunden und wann nur lose?

Zuerst die schlechte Nachricht: Man muss es mit jedem einzelnen Verb mitlernen. Die etwas bessere Nachricht ist, dass es offenbar Tendenzen gibt:

  • So sind Verben ohne Akkusativobjekt, die sogenannten intransitive Verben, meist lose Verbindungen, also Präverbfügungen: Er arbeitet durch; er fällt um, aber: Er unterliegt.
  • Über und unter im Sinne von 'zu viel, zu stark' und 'zu wenig, zu schwach' führt immer zu festen Verbindungen, also Komposita: Er überarbeitet sich ständig; er unterfordert sich ständig.
  • Um im Sinne von 'woandershin' führt zu Präverbfügungen: Er pflanzt den Rosenstrauch um; im Sinne von 'um herum' führt es zu Komposita: Er umwickelt den Rosenstrauch mit Bast.
  • Wider bildet fast immer Komposita: Er widersetzt sich; er widerlegt sie. So auch:
    Die Ursachen der Einsätze widerspiegelt die ganze Palette von Ski- und Wanderunfällen
    [Vorarlberger Nachrichten, 13.1.1997, S. B1].
    Selten gibt es präverbfügliche Varianten:
    Der Zustand des Planeten spiegelt wider, in welch reduzierten Vorstellungen die Medienkonsumenten im Hinblick auf ihre Lebensgestaltung verhaftet sind, welchen Vorläufern sie nachlaufen
    [die tageszeitung, 9.6.1992, S. 14].

Dass sowohl Präverbfügungen als auch Komposita mit ein und derselben Basis gebildet werden, ist selten; meist sind beide dann einfach gleichwertige Varianten:

Es spiegelt sich wider; es widerspiegelt sich.
Er durchblättert ein Buch, er blättert ein Buch durch
.

Mitunter können auf diese Weise verschiedene Aspekte beleuchtet werden; es kommt zu "sogenannter syntaktischer Umverteilung" [Rich 2003, S. 105]:

Er legt ein Metallstück unter (die Schraube); er unterlegt die Schraube (mit einem Metallstück).

Dass Präverbfügungen und Komposita mit gleicher Basis Verschiedenes bedeuten, ist noch seltener:

Er setzt über versus Er übersetzt Dostojewski.
Er stellt sich unter versus Er unterstellt sich Bösartigkeit.

Am seltensten ist, dass damit witzig verwirrende Kontexte hergestellt werden können: Natürlich umfahren wir den Polizisten besser als ihn umzufahren...

Weiterführende Literatur

Donalies 1999, Eichinger 2004, Rich 2003

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Autor(en)
Elke Donalies
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