Chaosse, Nichtse, Stähle? — Was keinen Plural kennt (Singularetantum)

O du wesenloser Geist,
Gott der Strahlen, Glanz geboren,
Den das Weltall jauchzend preist,
Den zum Spotte nun die Thoren
Sich erkoren
(Wilhelm Arent: "Sonnenlied" , 1885)

In vielen Fällen handelt es sich bei Einzahlwörtern nicht um eine grammatische, sondern um eine logische Fragestellung: Die Mona Lisa, das Parthenon, Rudi Völler, alle die gibt es nur einmal.

Manchmal ist jedoch die einem Singularetantum (lat. singularis 'einmalig', tantum 'nur') zugrunde liegende Logik nicht klar ersichtlich. Obige Strophe von Wilhelm Arent illustriert das ganz gut. Zu Glanz, Weltall und Spott scheint es auf den ersten Blick keine Mehrzahl zu geben, im Grunde auch zu Geist nicht. "Moment, was ist mit Geister?", möchte man einwenden. Eine Entscheidungshilfe, ob hier eine Mehrzahl üblich ist oder nicht, können jedoch die Kriterien "abstrakt" und "konkret" sein. Verweist die Buchstabenfolge Geist auf die Seele, das Gemüt oder eine Denkart, hat man es mit einem abstrakten Nomen zu tun, das keinen Plural kennt; bezieht sie sich jedoch auf ein Gespenst oder auf eine besonders intelligente Person, handelt es sich um etwas Konkretes, das zählbar ist und somit eine Mehrzahl hat, nämlich Geister.

Viele Einzahlwörter kann man also zusammenfassen zu Abstrakta, darunter Nominalisierungen und Wörter, die etwas Portionierbares oder Graduierbares bezeichnen, sowie Konkreta, bei denen keine Mehrzahl üblich ist, darunter Substanzbezeichnungen, Sammelnamen und Unikate:

  • Abstrakte Nomina: Friede, Glanz, Spott
  • Substanzbezeichnungen: Gold, Heu, Milch
  • Nominalisierungen: das Laufen, Gemütlichkeit
  • Sammelnamen: Getreide, Publikum, Obst
  • Graduierbares, Portionierbares: Regen, Lärm, Nässe
  • Unikate: Weltall, Mona Lisa, Parthenon

Die Zugehörigkeit eines Singularetantums zu diesen Gruppen ist nicht immer eindeutig. Ebenso gibt es Grenzfälle: Zwischen Alltagssprache und Fachsprachen kann die Verwendung von Plural und Singular bei Bezeichnungen von Substanzen schwanken, beispielsweise bei Blut oder Fett. Auch bei literarischem Sprachgebrauch nimmt man es nicht immer so genau, ob Nils Holgerson sich überhaupt mit den Gänsen in die Lüfte erheben kann, wo doch Luft als unzählbare Substanz keine Mehrzahl haben sollte. Hier bewegt man sich bereits im Bereich der festen Wendungen, die eher durch Tradition als durch grammatische Regeln bedingt sind.

Weitere Beispiele findet man in einer thematisch geordneten Liste weiter unten.

Abstrakta

Abstrakte Nomina stehen gewöhnlich nicht im Plural, wenn sie allgemein auf eine Eigenschaft, einen Vorgang oder einen Zustand verweisen: Güte, Liebe, Niedergang, Chaos, Helligkeit, Gemütlichkeit, Zufriedenheit.

Beispiele aus der Presse sind:

Wenn an einem Fest Überfluss an Speis und Trank herrscht, dann wird maßlos zugegriffen, im Wissen darum, dass es schon morgen wahrscheinlich wieder nur das tägliche Fast-Nichts geben wird. (St. Galler Tagblatt, 20.12.2000; Im Kulturfieber)
Es war vor allem die Ästhetik Adornos, die uns die bittere Einsicht lehrte, dass in einer Welt universalen Unheils vom Kunstwerk Ganzheit nicht mehr gefordert werden darf. Aufgabe der Kunst sei es, sagte Adorno, Chaos in die Ordnung zu bringen. (Die Zeit, 07.06.85, S. 49)

Allerdings werden Einzahlwörter wider Erwarten auch manchmal im Plural verwendet:

Entsprechend der Logik der Internationalisierung und Zentralisierung von Politik schloss man daraus, dass die Überflüsse der einen Region nur in die Mangelgebiete anderer Regionen transportiert werden müssten. (die tageszeitung, 17.11.1987, S. 9)
So steht nun dieser Bürgerbewegungsgläubige einem Hause vor, in dem es von "Sekretariaten des Sekretärs" wimmelt, versucht Fuß zu fassen auf morastigem Grund, Durchblick durch die verschiedenen SED-gemachten Chaosse zu gewinnen, um Transparenz nach außen weitergeben zu können. Und er wirbt mit Geschick und persönlichem Gespräch um die Zuarbeit des alten Apparats. (die tageszeitung, 21.04.1990, S. 28)

Generell scheinen sich die Beispiele mit Plural auf mehrere konkrete Einzelphänomene zu beziehen im Gegensatz zu einem allgemeinen Überfluss oder Chaos. Besonders viele Belege für Chaosse oder Überflüsse findet man allerdings weder im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) noch im Internet, was dafür spricht, dass es sich hier um Ad-hoc-Bildungen handelt.

Nominalisierungen

Da sich im Deutschen prinzipiell jede Wortart durch Konversion zu einem abstrakten Nomen verändern lässt, ist schnell aus Wörtern wie alles, nichts, ich, lachen, gelb und gestern das Alles, das Nichts, das Ich, das Lachen, das Gelb und das Gestern gemacht, damit man etwa in einer Gesprächsrunde das Wir zum Gesprächsgegenstand machen und über das Sein philosophieren kann, um schließlich mit Heidegger auf Nietzsche zu antworten: "Das Nichts nichtet nicht". Das grammatisch Besondere an solchen Nominalisierungen ist, dass man sie für gewöhnlich im Singular gebraucht. Nominalisierte Infinitive verweisen beispielsweise auf einen Vorgang als unbegrenzt, eine Vielzahl zu das Lachen, das Gehen, das Denken ist somit sprachlich und logisch fraglich. Solange Nominalisierungen Allgemeines, Unbegrenztes bezeichnen, tendieren sie also dazu, wie die Abstrakta, im Singular verwendet zu werden. Will man mehrere konkrete Einzelerscheinungen einer solchen unbegrenzen Sache beschreiben, kann man auf Zusammensetzungen zurückgreifen. Denken könnte beispielsweise in Denkprozesse gegliedert werden, Lachen in Lachsalven. Bei einigen Nomina kann man immer spontan einen Plural bilden, wie folgender Beleg verdeutlicht.

Papperlapapp, alles Peanuts. Lauter Nichtse im Vergleich zum Fall Schröder vs. Schröder, der seit Tagen die Nation erregt (und aus der Optik mancher Medien auch zu erregen hat). (Züricher Tagesanzeiger, 13.03.1996, S. 5)

Nominalisierungen mit Suffix: Findet man Beispiele wie Nichtse eher selten, so scheinen abstrakte Nominalisierungen auf -heit (etwa Freiheit von frei) und -keit (etwa Gemütlichkeit von gemütlich) und -nis (Finsternis von finster) hingegen häufiger im Plural verwendet zu werden. Beispiele aus DeReKo im Dezember 2024:

SingularAnzahlPluralAnzahlQuotient Singular/Plural
Geborgenheit63.549Geborgenheiten65977,7
Vergangenheit1.832.803Vergangenheiten2.635695,6
Gemütlichkeit57.573Gemütlichkeiten88654,2
Helligkeit41.965Helligkeiten1.05239,9
Finsternis55.379Finsternisse1.46337,9
Freiheit1.283.534Freiheiten133.3789,6

Dass Formen wie Freiheiten, Finsternisse und Helligkeiten verhältnismäßig oft verwendet werden, lässt sich einzelfallbezogen erklären: Helligkeiten kann beispielsweise i.S.v. Helligkeitsstufen verwendet werden, Astronomen scheinen die Leuchtkraft verschiedener Sterne damit zu bezeichnen. Auch Finsternisse haben eine fachspezifische Bedeutung als Himmelserscheinungen, bei denen ein leuchtender Himmelskörper durch einen anderen verdeckt wird. Freiheiten kann i.S.v. einzelnen Bereichen einer allgemeinen Freiheit verstanden werden, etwa in juristischen Kontexten.

Die absolute Helligkeit ist eine Hilfsgröße in der Astronomie, um die tatsächlichen Helligkeiten von Himmelsobjekten (meist Sternen) vergleichen zu können. (Absolute Helligkeit, In: Wikipedia, 2017, http://de.wikipedia.org/wiki/Absolute_Helligkeit)
Auch wenn das Himmelsjahr 2023 in Österreich keine besonderen Finsternisse zu bieten hat, wird zu Saisonende „wenigstens“ eine partielle Mondfinsternis zu sehen sein. (Niederösterreichische Nachrichten, 24.02.2023)
Gegen Ende der Herrschaft Napoleons III. erwachte jedoch die öffentliche Meinung: 1865 veröffentlichten mehrere dutzend liberale und republikanische Persönlichkeiten ein Manifest, das "Programme de Nancy", das für "überschaubare" Machtstrukturen und lokale Freiheiten plädierte. (die tageszeitung, 11.05.2001, S. 14)

Solche Plurale sind keine Modeerscheinungen, sondern von jeher gang und gäbe. Selbst in altehrwürdigen Texten wie dem "Althochdeutschen Tatian", an den sich Studierende der Germanistik mit Schrecken erinnern mögen, lassen sich "falsche" Plurale finden:

Inti thaz lioht in finstarnessin liuhta inti finstarnessi thaz ni bigriffun (http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/ahd/tatian/tatialex.htm)

Die ebenso unüblich wirkende Übersetzung wäre: Das Licht leuchtete in die Finsternis und die *Finsternisse begriffen das nicht — soll noch einmal jemand sagen, unsere Sprache wäre in einem ständigen Verfall begriffen.

Substanzbezeichnungen

Substanzbezeichnungen kommen gewöhnlich im Singular vor: Gold, Milch, Wasser, Limonade, Holz, Staub, Messing, Helium usw. Will man auf verschiedene Sorten einer Substanz verweisen, kann man eine Pluralform verwenden: Ein gut sortierter Weinhandel führt beispielsweise rheinischen Wein und Moselwein oder aber auch rheinische Weine und Moselweine. Eine so wichtige Flüssigkeit wie Wasser hat gleich zwei Pluralformen, die mit konkreter Bedeutung heißt Wässer, die sprichwörtlich verwendete Form hat keinen Umlaut: Mit allen Wassern gewaschen sein.

Möchte man Substanzbezeichnungen in der Mehrzahl verwenden, kann man auch auf Zusammensetzungen zurückgreifen: Wer häufig Limonade trinkt, weicht zur Abwechslung auf verschiedene Limonadensorten, Limonadenmarken oder Limonadengetränke aus. Im alltäglichen Sprachgebrauch nutzt man anstelle solcher Zusammensetzungen allerdings auch Substanzbezeichnungen pluralisch, etwa wenn man sagt, dass man drei Bier trinkt (häufig auch Biere), also drei Gläser Bier, nachdem man zwei würzige Schaschliks, also zwei Schaschlikspieße, gegessen hat. Wer es gesünder mag, wird vielleicht eher etliche Müslis genießen. Begründet sind solche Verwendungen durch Teil-Ganzes-Verhältnisse (Holonymien bzw. Meronymien), bei denen man die Substanzbezeichnung verwendet, aber eine bestimmte Menge der Substanz meint. In geschriebener Sprache sind jedoch eher Verwendungsweisen wie drei Gläser Bier üblich. Nichtsdestotrotz finden sich Korpusbelege:

Man kann Jugendlichen immer wieder sagen, dass zwei Biere genug sind. (St. Galler Tagblatt, 06.05.2019)
Neben ihm hat ein Sockenverkäufer vor dem Wahllokal seine Ware ausgelegt, in der Ecke brutzeln drei schwere Schaschliks auf einem Grill. (Luxemburger Tageblatt, 12.10.2015)
"Am Anfang haben wir für Max mitgekocht, doch da wurde er zu fett", lächelt Frauchen Monika. Nun gibt es zwei Müslis à 200 Gramm Vollkorngetreide in den Napf. (Mannheimer Morgen, 16.03.2001)

Fachsprachliche Verwendungen

Wie bereits angedeutet, wird in Fachsprachen nicht nur von Weltallen, sondern auch von Milche(n), Stählen, Erden, sogar von Salzen, Fetten und von Lauben gesprochen. Diese Formen stehen teilweise in Konkurrenz mit Zusammensetzungen auf -art und -sorte, wie Laubsorte und sorgen mitunter für Verwirrung. In einem Sprachforum herrschte Uneinigkeit darüber, ob man Blute als Vielzahl von Blut zulassen solle. Blute, so ein Teilnehmer, sei alltagssprachlich, wenn nicht sogar auch fachsprachlich überflüssig, da man mit den Zusammensetzungen Blutarten, Blutgruppen, Blutproben, Blutsorten usw. immer bezeichnen könne, was durch Blute ausgedrückt werden soll.

Einige Beispiele für pluralische Verwendung von Singulariatantum im Sinne von 'Arten, Sorten':

Die gespendeten Blute werden in einem Labor untersucht, in ihre Bestandteile aufgetrennt und verarbeitet. (Mitteldeutsche Zeitung, 01.08.2019, S. 13)
Läge das Ja-Wort der Behörden vor, sei er aber in der Lage, den Müll ohne jeden Rest zu beseitigen. Die Filterstäube und Salze aus der Rauchgasreinigung seien heutzutage schließlich das "Hauptproblem" bei der Müllverbrennung, meinte Baums. (die tageszeitung, 19.03.1990, S. 28)
Mit Hilfe der Talgdrüsen, die verschiedene Fette und Wachse produzieren, wird die Hautoberfläche weich und geschmeidig gehalten. Durch die Schweißdrüsen, die Milchsäure und Salze freisetzen, wird Wasser an die oberste Schicht der Haut, die Hornschicht, gebunden und damit die Austrocknung verhindert. (Tiroler Tageszeitung, 09.07.1998, Die trockene Haut I)

Fachsprache ist also nicht Alltagssprache. Bedeutet das aber, dass ich als Physiker an meinem Arbeitsplatz von Weltallen und Universen sprechen darf, aber in meinem privaten Umfeld, in dem Theorien über Multiversen und n-Dimensionalität nicht gang und gäbe sind, tunlichst darauf achten muss, nur Weltall und Universum zu verwenden? In DeReKo ließen sich jedenfalls nur ca. 200 Belege für Weltalle (gegenüber ca. 70.000 für Weltall) finden. Belege für Universen gibt es immerhin ca. 4.800 gegenüber knapp ca. 146.000 für Universum. Weltraum ist ca. 78.000-mal belegt, Welträume hingegen 39-mal. Ähnliche Zahlenverhältnisse lassen sich für das Blut und die Blute finden. Das Korpus liefert auch nur einige magere Belege für Milche, was deutlich gegen einen häufigen Gebrauch dieser Mehrzahlform spricht. Mit anderen Substanzbezeichnungen verhält es sich ähnlich.

Besonders reich an fettlöslichem Vitamin E sind pflanzliche Öle, Mandeln, Grünkohl, Vollkorngetreide, Milche und Eier. (Salzburger Nachrichten, 26.08.2000)
Gemäss MIBD ist anzunehmen, dass fast alle beanstandeten Milchen einen geringen Anteil Fremdwasser enthalten. (St. Galler Tagblatt, 12.08.1999)

Abschließende Bemerkung

Mit Wässern und Ähnlichem kann es manchmal zu sprachlichen Ausrutschern kommen. Singulariatantum sind zwar im Grunde nicht schwer zu erkennen und handhaben, doch entsteht nicht selten Verwirrung durch Teil-Ganzes-Verhältnisse, Abgrenzungsprobleme mancher Verwendungsweisen und auch durch fachsprachliche Plurale wie Blute, Erden, Stähle, Milche(n).

In jedem Fall gilt: Möchte man Güten, Freiheiten oder Helligkeiten nicht verwenden, so kann man jederzeit aus einem Singularetantum einen Plural machen, indem man eine Zusammensetzung (etwa mit -arten, -sorten, -bereichen) bildet.

Einige thematisch geordnete Singulariatantum

Abstrakta, die Zustände und Gefühle beschreibenAlter, Chaos, Einigkeit, Feigheit, Friede, Furcht, Geborgenheit, Gegenwart, Gemütlichkeit, Glück, Güte, Jugend, Liebe, Überfluss, Vergangenheit, Vertrauen, Zorn, Zukunft
Bildungen auf –tum, die Bevölkerungsgruppen beschreibenBeamtentum, Bürgertum, Christentum, Nomadentum, Vordenkertum, Wachstum, Zwittertum, Zypriotentum
Englische Entlehnungen auf –nessBusiness, Coolness, Fairness, Toughness, Wellness
Dinge, die in verschiedenen Graden vorkommenDreck, Eis, Gebell, Hehl, Rauch, Regen, Schall, Schmuck, Schnee, Sonnenschein, Tau
Lehnwörter, die ein Verfahren bezeichnenFading, Flashing, Recycling, Monitoring
MusikrichtungenPop, Rock, Jazz, Klassik, Elektro, Techno
Nominalisierungen, die Tätigkeiten beschreibendas Denken, Geschehen, Verzeihen, Vergessen
SammelnamenAdel, Geflügel, Gemüse, Gepäck, Gesindel, Getreide, Laub, Marine, Obst, Pack, Personal, Plebs, Pöbel, Polizei, Ungeziefer, Vieh, Wild
SportartenBadminton, Baseball, Basketball, Biking, Fitness, Golf, Jogging, Rugby, Squash, Tennis, (Nordic) Walking
Substanzen, Erzeugnisse, chemische ElementeButter, Chlor, Flachs, Fleisch, Gold, Heu, Honig, Joghurt, Kakao, Kampfer, Milch, Sahne, Schnee, Wolle

Zu Nomen, die nur in der Mehrzahl stehen, siehe: Eltern, Leute, Ferien — Was keinen Singular kennt (Pluraletantum).

Zum Text

Schlagwörter
Autor(en)
Matthias Mösch
Bearbeiter
Roman Schneider
Letzte Änderung
Aktionen
Seite merken
Seite als PDF
Seite drucken
Seite zitieren

Seite teilen