Der Mann, wo ich gesehen habe — Wie akzeptabel ist das relative wo?

Das Wörtchen wo kann grammatisch gesehen viele Funktionen haben. Was es alles sein kann, kann man an dieser Stelle nachlesen: wo. Hier interessiert aber nur sein Gebrauch in Relativsätzen.

Wo als einleitendes Element in Relativsätzen

Am häufigsten findet man wo als W-Adverb mit örtlicher (lokaler) Bedeutung. Man kann es statt einer Kombination aus lokaler Präposition und Relativpronomen verwenden:

Ich suche den Strand, an dem man am besten baden kann.
Ich suche den Strand, wo man am besten baden kann.

Es geschieht jedoch häufig, dass die lokale Bedeutung von wo „metaphorisiert wird und Grundstrukturen für viele andere Inhaltsbereiche abgibt“ (Eisenberg 2006, S. 271). Somit kann mit wo nicht nur auf Orte, sondern auch auf Zeiten oder Sachverhalte verwiesen werden.

Das ist die Stunde, wo ich glücklich war.
Das ist die Stunde, in der ich glücklich war.

Das ist so ein Fall, wo wir beruhigt sein können.
Das ist so ein Fall, bei dem wir beruhigt sein können.
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“
[Goethe, „Mignon“; http://www.deutsche-liebeslyrik.de/goet96.htm]

Da, wo - wie bei den arischen Völkern Asiens und bei den Russen - sie entsteht zu einer Zeit, wo die Gemeinde den Acker noch für Gesamtrechnung bestellt oder doch den einzelnen Familien nur auf Zeit zuweist, wo also noch kein Privateigentum am Boden sich gebildet hat, tritt die Staatsgewalt als Despotismus auf.
[http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_474.htm]

Beantragt ein/e Witwe/er eine Lohnsteuerkarte, so bekommt sie/er die Steuerkarte in dem Jahr, wo der Ehegatte verstorben ist und in dem darauf folgendem Jahr den Eintrag mit der Steuerklasse 3.
[http://www.aachen.de/DE/Stadt_buerger/politik_verwaltung/behoerdenwegweiser/dienstleistungen/index_detail.asp?searchId=2710]

Das ist so ein Fall, wo ich darum bitte, dass wir die Reihenfolge einhalten.
[http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/726110/]

Nun hört oder liest man Sätze, in denen wo statt eines einfachen Relativpronomens (d.h. eines Relativpronomens mit Präposition) verwendet wird

1. Der Mann, den ich gestern gesehen habe, ist heute auch hier.
2. Der Mann, wo ich gestern gesehen habe, ist heute auch hier.

und sogar Sätze, in denen sowohl das Relativpronomen als auch wo realisiert sind:

3. Der Mann, den wo ich gestern gesehen habe, ist heute auch hier.

Alle drei Beispielsätze bedeuten dasselbe. Heißt das, man kann Relativpronomen und W-Adverb beliebig austauschen oder mischen? Eilige Leser können hier zum Fazit springen.

Wo und wie vertritt wo ein einfaches Relativpronomen?

In Dialekten

Bekannt ist wo in dieser Funktion vor allem in süddeutschen Dialekten. Im Deutschen sind Relativpronomina in den Dialekten „seltener, als man aufgrund der Standardsprache vermuten würde“ (Fleischer 2005). Anstelle der Relativpronomina werden dialektal häufig das, was, wer und wo verwendet. Das relativisch gebrauchte wo ist vor allem heimisch im Alemannischen, Schwäbischen, Fränkischen, Mittelhessischen und teilweise im Bairischen (Wild 2004, S. 335-6). Kombinationen von der, die, das mit wo sind im Moselfränkischen und im Ostfränkischen belegt (vgl. Pittner 2004). Salopp gesagt heißt das:

Die-wo-topia fängt ungefähr bei Frankfurt am Main an und hört irgendwo in der Schweiz auf.
[http://www.elektrolurch.com/spezial/fussball/saison2002-2003/fussball2002-14spt.htm]

Wie es dialektal verwendet wird

Grammatisch konzentriert sich die Verwendung des W-Adverbs auf Fälle, bei denen das Bezugsnomen im Nominativ (der Mann, wo) oder Akkusativ (den Mann, wo) steht (Pittner 2004, S. 367). Unterscheidet sich der Kasus des Personalpronomens von dem des Bezugsausdrucks (Das ist der Mann, dem ich noch Geld schulde), wird das W-Adverb nicht verwendet, sondern das Relativpronomen.

In Die-wo-topia herrscht also kein Chaos, sondern da gibt es durchaus Regeln. Wo ist im Gegensatz zum Relativpronomen indeklinabel, trägt also keine morphologischen Markierungen des Kasus, Genus oder Numerus, sondern zeigt nur an, dass es einen Nebensatz einleitet.


Relativpronomen

W-Adverb

Erweist sich diese fehlende morphologische Markiertheit bei Bezugsausdrücken, die Subjekt oder Akkusativobjekt des übergeordneten Satzes sind, als wenig hinderlich für das Verständnis einer Aussage, kann sie bei komplexeren Nominalphrasen oder bei Dativobjekten oder Genitivattributen rasch für Verwirrung sorgen, wie folgende hochdeutsch-pfälzische Kontrastbeispiele verdeutlichen sollen.

HochdeutschPfälzisch
Beispiel 1Der Mann neben der Frau, die ich gesehen habeDe Mann newe de Fra, wu isch gesehe hab
Bedeutung'ich habe die Frau gesehen''ich habe entweder ihn oder sie oder beide gesehen'
Beispiel 2aDer Mann, dessen Kind bei uns daheim isst De Mann, wu sei Kind bei uns dehäm isst
Bedeutung'das Kind isst etwas’ Missverständlich: 'der Mann isst sein Kind' oder 'das Kind isst etwas'
Beispiel 2bDe Mann, dem sei Kind bei uns dehäm isst
'das Kind isst etwas’

Siehe auch: Wo ist dem Opa seine Brille? — Zugehörigkeitsanzeige durch Dativattribut.

Kombinationen von Relativpronomen und W-Adverb stellen in solchen Fällen ebenfalls eindeutigere Bezüge her: der Mann, den wo; die Frau, die wo; das Kind, das wo. Hier ist wo allerdings redundant und Redundanzen werden schnell belächelt, wie es im von grammatischen Kuriosa durchsetzten „Liebeslied“ der Gruppe Wise Guys deutlich anklingt:

„Sie war ne wunderbare Frau mit schulterlangem blondem Haar. Sie war die Frau, die wo für mich die allereinzigste war. / Sie war für mich von Anfang an so wundervoll gewesen./ Sie lernte mir das Schreiben / und sie lernte mir das Lesen“
[http://www.justsomelyrics.com/1912069/Wise-Guys-Meine-Deutschlehrerin-Lyrics]

Kommt es in der Standardsprache vor?

Was sagen die Grammatiker?

Schon bei Grimm (1854-1960) und Behagel (1923-1928) liest man, im Deutschen vertrete wo das Relativpronomen nur mundartlich. Auch die großen Gegenwartsgrammatiken des Deutschen (GDS, Dudengrammatik, Eisenberg) schließen den Gebrauch des W-Adverbs als Relativpronomen aus der Standardsprache aus: Im „Standarddeutschen können sich Pronominaladverbien nicht auf menschliche Referenten beziehen“ (Fleischer 2005). Wie sieht es im Sprachgebrauch wirklich aus?

Wie ist der Gebrauch in der Presse und im Internet?

Tatsächlich begegnet uns das besagte wo in der Tagespresse, dem größten Schriftmedium der Standardsprache, selten. In den Korpora der geschriebenen Sprache des IDS lassen sich weder in überregionalen, noch regionalen Zeitungen nennenswerte Verwendungen von der wo, die wo oder das wo finden. Eine Suche nach der, wo (am 21.04.08) ergab Beispiele wie:

Wo doch gerade alles gut schien, nachdem Paul Newman, der wo der Vater von Kevin Costner ist, sein Alkoholproblem endlich in den Griff bekommen und Costner sich gar mit der Familie seiner toten Frau wieder vertragen hatte.
[die tageszeitung, 30.04.2003, S. 13]

Und unser Nachbar, der wo ein Ketzer ist, der Protestant Jankowski, der grinst so schmierig und erzählt, der Papst, der liest Bukowski.
[die tageszeitung, 02.05.1987, S. 1]

"Na ja, ich fahr' mit dem Bus, der wo zur Schule fährt."
[Mannheimer Morgen, 31.07.2001; Große Ferien im August]

Auffallend an der Beleglage (133 Belege) ist allerdings, dass die meisten der Ergebnisse in direkter Rede vorkommen, konzeptionell mündlich, umgangssprachlich, wenn nicht sogar mundartlich markiert sind, wie etwa:

Auf die Frage, wie man denn so was um diese Uhrzeit überhaupt hinunterbrächte, erscholl es aus fettglänzenden Mundwinkeln: "Ei, der, wo viel schafft, derf auch viel esse!"
[die tageszeitung, 10.12.1999, S. 20]

Zladdi, der wo locker blieb, zu dem Dreh in der Steiermark: "Ich habe das Ganze nur wegen der Kohle gemacht und niemandem etwas vorgespielt."
[Kleine Zeitung, 17.05.2000, Ressort: Lokal; Zladdi, der wo da ist]

Es gibt nur einen Beleg für relatives wo ohne der, den etc.

Der Mann, "wo" sein Publikum zum Lachen bringt SCHRIESHEIM: Mundart-Kabarettist Christian Habekost charakterisiert seine Kurpfälzer
[Mannheimer Morgen, 17.10.2005, Ressort: Rhein-Neckar / Bergstraße; Der Mann, "wo" sein Publikum zum Lachen bringt]

In der „schönen“ Literatur, ebenso bei den Klassikern, findet man ebenfalls nur Belege in Textpassagen von konzeptioneller Mündlichkeit oder dialektaler Markiertheit:

Ein Mensch, der keine Meinung hat, der kann gar nie recht mein sagen, wenn er auch Millionen im Vermögen hat; das Rechte fehlt ihm; und deßwegen heißt man's auch Meinung, und die wo mitten drin sind, und nicht 'rüber und nicht 'nüber wollen, denen geht's wie jenem Esel.
[Auerbach, Schatzkästlein; Briefsteller, (Geschr. 1845), 1862, S. 77]

Bei Belegen aus dem Internet sieht das zunächst anders aus. Hier springen einem förmlich die wos in Tausenden entgegen. Deren prominenteste Vertreter kommen vor in Variationen des Jürgen Klinsmann zugeschriebenen "Mir sind die, wo gwinne wellet" oder Aussagen Mario Baslers:

„Ich lerne nicht extra französisch für die Spieler, wo dieser Sprache nicht mächtig sind“
[http://de.nntp2http.com/etc/sprache/deutsch/2008/02/]

Eine ebenso große Anzahl von Belegen fällt in den Bereich der Sprachreflexion:

Die-wo-topia fängt ungefähr bei Frankfurt am Main an und hört irgendwo in der Schweiz auf. […] "Die, wo die Lieder dudeln, da wo die Diesel dinieren und die, wo die Discjockeys dippen, die duzen den Direktor: Briegel, Brigadenführer, des brisanten Brimboriums."
[http://www.elektrolurch.com/spezial/fussball/saison2002-2003/fussball2002-14spt.htm]

Die Prominenz von Die-wo-topia ist also weit bekannt, aber wie sieht es mit der Bevölkerungsbasis aus? Filtert man bewusst mundartlich und/oder parodistisch gehaltene Belege heraus, bleibt auch hier wieder nur eine geringe Anzahl „authentischer“ Verwendungen, meist aus Internetforen und Blogs, übrig, z.B.:

Re: Frage an die wo schon alles gesehen haben (wohin zum Strandurlaub)
[http://www.spotlight.de/zforen/rsn/m/rsn-1193909502-26657.html]

Eine Stichprobe (mit Google am 4.4.2008) zeigt, wie verhältnismäßig selten wo als Relativpronomen im Bezug auf belebte Bezugsausdrücke im Internet vertreten ist.

Anzahl relativischer Anschlüsse an Mann und Frau:

der Mann, der1.130.000
der Mann, den143.000
der Mann, dem41.300
der Mann, wo569
der Mann, der wo196
der Mann, den wo5
der Mann, dem wo4
//
die Frau, die581.000
die Frau, der66.500
die Frau, wo548
die Frau, die wo30
die Frau, der wo1

Eine weitere Stichprobe (22.04.08) nach ein/e Mann/Frau/Kind/…, wo lieferte mehr Belege (3.000 für Frau, 1.060 für Kind, 812 für Mann, 327 für Mädchen, 75 für Junge), doch diese Belegzahlen sind noch recht gering verglichen mit pronominalen Anschlüssen (1.070.000 für eine Frau, die; 342.000 für ein Kind, das; 563.000 für ein Mann, der; 171.000 für ein Mädchen, das; 85.300 für ein Junge, der).

Es scheint den Fürsten von Die-wo-topia also zumindest in der Schriftsprache an einer breiten Bevölkerungsbasis zu mangeln. Eine Erklärung dafür könnte sein: wo als Relativpronomen ist ein Dialektmerkmal und als solches, ebenso wie dialektale Texte, kaum im verschrifteten Teil des Internets vertreten.

Stigma?

Dass das relative wo dennoch immer wieder zitiert und parodiert wird, zeigt, wie sehr stigmatisiert es ist. Diese Stigmatisierung scheint so umfassend zu sein, dass sich dies auch auf völlig unproblematische Verwendungsweisen auswirkt. So schreibt die Teilnehmerin einer Diskussion im Internet:

Ein Freund hat mir das Buch "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" von Bastian Sick geschenkt. Das Buch ist über dem Atlantik nach Chile in Südamerika geflogen, 'wo' ich in Moment wohne.
[http://www.proz.com/topic/48301]

Es bestünde hier kein Grund, das W-Adverb wo in Anführungszeichen zu setzen, da sein Gebrauch nach artikellosen Ortsnamen die standardsprachliche Verwendung ist. Auch bei den Klassikern Goethe und Lessing etwa, bei denen man sich vielerlei Anregungen holen kann, ist solches wo nicht verpönt, im Gegenteil. Nur eben anstelle des Relativpronomens ist es nicht standardsprachlich.

Fazit

In keiner Grammatik gilt das relativische wo als standardsprachlich akzeptabel. Die Beleglage bei Recherchen in der Tagespresse und im Internet zeigt, dass diese Verwendungen mit wo so gering sind, dass sich die Frage nach ihrem Vorkommen in Standard- und Schriftsprache darüber hinaus so gut wie erübrigt. Den Mann, (den) wo ist eine Sache der (gesprochenen) Dialekte. Dort allerdings ist seine Verwendung regelhaft und erlaubt.

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Autor(en)
Matthias Mösch
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