Der Mann, wo ich gesehen habe — Wie akzeptabel ist das relative wo?

Das Wörtchen wo kann grammatisch gesehen viele Funktionen haben. Hier interessiert aber nur sein Gebrauch in Relativsätzen.

Wo als einleitendes Element in Relativsätzen

Am häufigsten findet man wo als W-Adverb mit örtlicher (lokaler) Bedeutung. Man kann es statt einer Kombination aus lokaler Präposition und Relativpronomen verwenden:

Ich suche den Strand, an dem man am besten baden kann.
Ich suche den Strand, wo man am besten baden kann.

Es geschieht jedoch häufig, dass die lokale Bedeutung von wo „metaphorisiert wird und Grundstrukturen für viele andere Inhaltsbereiche abgibt“ (Eisenberg 2006, S. 271). Somit kann mit wo nicht nur auf Orte, sondern auch auf Zeiten oder Sachverhalte verwiesen werden.

Das ist die Stunde, wo ich glücklich war.
Das ist die Stunde, in der ich glücklich war.

Das ist so ein Fall, wo wir beruhigt sein können.
Das ist so ein Fall, bei dem wir beruhigt sein können.
Kaum etwas ist so oft vertont worden wie das Gedicht "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn" aus "Wilhelm Meisters Lehrjahre". (die tageszeitung, 23.02.2022, S. 28)
Da wo wie offenbar im Fall der Haubenlerche umgehend gehandelt werden muss, greifen sie aber nicht schnell genug. (Die Rheinpfalz, 18.06.2022)
Aber in dem Jahr, wo ich meine Prüfung gemacht habe, habe ich umgeschwenkt und dann angefangen mit Musik. (Hamburger Morgenpost, 09.12.2018, S. 35)
Das war vergangenes Jahr so ein Fall, wo die Frustration überwogen hat. (Rhein-Zeitung, 23.11.2023, S. 19)

Nun hört oder liest man Sätze, in denen wo statt eines einfachen Relativpronomens (d.h. eines Relativpronomens mit Präposition) verwendet wird:

(1) Der Mann, den ich gestern gesehen habe, ist heute auch hier.
(2) Der Mann, wo ich gestern gesehen habe, ist heute auch hier.

Manchmal werden sogar sowohl das Relativpronomen als auch wo realisiert:

(3) Der Mann, den wo ich gestern gesehen habe, ist heute auch hier.

Alle drei Beispielsätze bedeuten dasselbe. Heißt das, man kann Relativpronomen und W-Adverb beliebig austauschen oder mischen? Eilige Leser können hier zum Fazit springen.

Wo und wie vertritt wo ein einfaches Relativpronomen?

In Dialekten

Bekannt ist wo in dieser Funktion vor allem in süddeutschen Dialekten. Im Deutschen sind dialektale Relativpronomina „seltener, als man aufgrund der Standardsprache vermuten würde“ (Fleischer 2005). Anstelle der Relativpronomina werden dialektal häufig das, was, wer und wo verwendet. Das relativisch gebrauchte wo ist vor allem heimisch im Alemannischen, Schwäbischen, Fränkischen, Mittelhessischen und teilweise im Bairischen (Wild 2004, S. 335-6). Kombinationen von der, die, das mit wo sind im Moselfränkischen und im Ostfränkischen belegt (vgl. Pittner 2004). Das Gebiet, in welchem relatives wo verwendet wird (und das, wäre es eine Insel, in Anlehnung an Thomas Morus‘ Utopia wohl Die-wo-Topia heißen müsste), erstreckt sich von der Schweiz bis ungefähr Frankfurt am Main.

Wie es dialektal verwendet wird

Grammatisch konzentriert sich die Verwendung des W-Adverbs auf Fälle, bei denen das Bezugsnomen im Nominativ (der Mann, wo) oder Akkusativ (den Mann, wo) steht (Pittner 2004, S. 367). Unterscheidet sich der Kasus des Personalpronomens von dem des Bezugsausdrucks, wird das W-Adverb nicht verwendet, sondern das Relativpronomen:

Das ist der Mann, dem ich noch Geld schulde.

In Die-wo-topia herrscht also kein Chaos, sondern da gibt es durchaus Regeln. Wo ist im Gegensatz zum Relativpronomen indeklinabel, trägt also keine morphologischen Markierungen des Kasus, Genus oder Numerus, sondern zeigt nur an, dass es einen Nebensatz einleitet.

Erweist sich diese fehlende morphologische Markiertheit bei Bezugsausdrücken, die Subjekt oder Akkusativobjekt des übergeordneten Satzes sind, als wenig hinderlich für das Verständnis einer Aussage, kann sie bei komplexeren Nominalphrasen oder bei Dativobjekten oder Genitivattributen rasch für Verwirrung sorgen, wie folgende hochdeutsch-pfälzischen Kontrastbeispiele verdeutlichen:

Hochdeutsch: Der Mann neben der Frau, die ich gesehen habe.
Bedeutung: 'ich habe die Frau gesehen'
Pfälzisch: De Mann newe de Fra, wu isch gesehe hab.
Bedeutung: 'ich habe entweder ihn oder sie oder beide gesehen'
Hochdeutsch: Der Mann, dessen Kind bei uns daheim isst.
Bedeutung: 'das Kind isst etwas’
Pfälzisch Variante 1: De Mann, wu sei Kind bei uns dehäm isst.
Bedeutung missverständlich: 'der Mann isst sein Kind' oder 'das Kind isst etwas'
Pfälzisch Variante 2: De Mann, dem sei Kind bei uns dehäm isst.
Bedeutung: 'das Kind isst etwas'

Siehe auch: Wo ist dem Opa seine Brille? — Zugehörigkeitsanzeige durch Dativattribut.

Kombinationen von Relativpronomen und W-Adverb stellen in solchen Fällen ebenfalls eindeutigere Bezüge her: der Mann, den wo; die Frau, die wo; das Kind, das wo. Hier ist wo allerdings redundant und Redundanzen werden schnell belächelt, wie es im von grammatischen Kuriosa durchsetzten „Liebeslied“ der Gruppe Wise Guys deutlich anklingt:

Sie war ne wunderbare Frau mit schulterlangem blondem Haar. Sie war die Frau, die wo für mich die allereinzigste war. Sie war für mich von Anfang an so wundervoll gewesen. Sie lernte mir das Schreiben und sie lernte mir das Lesen.
(Wise Guys: "Liebeslied", 2004, zitiert nach: songkorpus.de)

Kommt es in der Standardsprache vor?

Was sagen die Grammatiker?

Schon bei Grimm (1854-1960) und Behagel (1923-1928) liest man, im Deutschen vertrete wo das Relativpronomen nur mundartlich. Auch die großen Gegenwartsgrammatiken des Deutschen (GDS, Dudengrammatik, Eisenberg) akzeptieren den Gebrauch des W-Adverbs als Relativpronomen nicht: Im „Standarddeutschen können sich Pronominaladverbien nicht auf menschliche Referenten beziehen" (Fleischer 2005).

Wie sieht der Sprachgebrauch aus?

Tatsächlich begegnet uns das besagte wo in der Tagespresse, dem größten Schriftmedium der Standardsprache, vergleichsweise selten. Im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo, Stand Dezember 2024) lassen sich weder in überregionalen, noch regionalen Zeitungen nennenswerte Verwendungen von der wo, die wo oder das wo finden. Beispiele sind:

Wo doch gerade alles gut schien, nachdem Paul Newman, der wo der Vater von Kevin Costner ist, sein Alkoholproblem endlich in den Griff bekommen und Costner sich gar mit der Familie seiner toten Frau wieder vertragen hatte. (die tageszeitung, 30.04.2003, S. 13)
Und unser Nachbar, der wo ein Ketzer ist, der Protestant Jankowski, der grinst so schmierig und erzählt, der Papst, der liest Bukowski. (die tageszeitung, 02.05.1987, S. 1)
"Na ja, ich fahr' mit dem Bus, der wo zur Schule fährt." (Mannheimer Morgen, 31.07.2001; Große Ferien im August)

Auffallend an der Beleglage ist, dass die meisten Ergebnisse in direkter Rede vorkommen bzw. konzeptionell mündlich, umgangssprachlich, wenn nicht sogar mundartlich markiert sind, wie etwa:

Auf die Frage, wie man denn so was um diese Uhrzeit überhaupt hinunterbrächte, erscholl es aus fettglänzenden Mundwinkeln: "Ei, der, wo viel schafft, derf auch viel esse!" (die tageszeitung, 10.12.1999, S. 20)
Zladdi, der wo locker blieb, zu dem Dreh in der Steiermark: "Ich habe das Ganze nur wegen der Kohle gemacht und niemandem etwas vorgespielt." (Kleine Zeitung, 17.05.2000, Ressort: Lokal; Zladdi, der wo da ist)

Es gibt nur sehr wenige Belege für relatives wo ohne der, den etc.

Der Mann, "wo" sein Publikum zum Lachen bringt SCHRIESHEIM: Mundart-Kabarettist Christian Habekost charakterisiert seine Kurpfälzer. (Mannheimer Morgen, 17.10.2005, Ressort: Rhein-Neckar / Bergstraße)
„Wir sind hier schließlich in Deutschland”, hat Basler nun im ZDF gesagt und dafür Extra-Applaus kassiert. Und hinzugefügt: „Ich lerne nicht extra französisch für die Spieler, wo diese Sprache nicht mächtig sind.” (Süddeutsche Zeitung, 13.08.2001, S. 37)

In der „schönen“ Literatur, ebenso bei den Klassikern, findet man ebenfalls vorrangig Belege für konzeptionelle Mündlichkeit oder dialektale Markiertheit:

Ein Mensch, der keine Meinung hat, der kann gar nie recht mein sagen, wenn er auch Millionen im Vermögen hat; das Rechte fehlt ihm; und deßwegen heißt man's auch Meinung, und die wo mitten drin sind, und nicht 'rüber und nicht 'nüber wollen, denen geht's wie jenem Esel. (Berthold Auerbach, Schatzkästlein des Gevattersmanns, Jahrgang 1845, "Neuer deutscher Briefsteller", Stuttgart: J. G.Cotta'scher Verlag, 1862, S. 77)
"ist sie krank?"„ne, krank grad net“, antwortet Xaver. „bloß erwischt hat sie’s und recht weinen tut s’ alleweil recht heftik. es ist zwegen den Herrn, der wo mit ihr tanzt hat, den Frackjacketen, Herrn Hergesell.“ (Thomas Mann, Unordnung und frühes Leid, Gesammelte Werke, Bd. 8, 1960, S. 651)

Im Internet dagegen springen einem die wos förmlich in Tausenden entgegen. Prominente Vertreter sind Variationen des Jürgen Klinsmann zugeschriebenen "Mir sind die, wo gwinne wellet". Manche fallen in den Bereich der Sprachreflexion. Prominent sind Fundstellen in Online-Diskussionsforen:

Wo gibt es Footballfans fast aller NFL-Teams (ja, auch den Bengals) zu sehen? Ganz einfach, bei "Die Klub, die wo gewinne tut". (https://nfl-talk.net/index.php?thread/12657-p-town-2006/&pageNo=3)
die wo“ Autsch! Sagt man so bei euch? (Benutzerdiskussion, Wikipedia 2017, http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer_Diskussion:Penta/Archiv1)
Das wäre quasi für normale Sichter, die wo noch keinen Barnstar haben. (Benutzerdiskussion, Wikipedia 2017, http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer_Diskussion:Frau_Tuna)

Insgesamt scheint es den Fürsten von Die-wo-topia also zumindest auf dem Gebiet der Schriftsprache an einer breiten Bevölkerungsbasis zu mangeln. Eine Erklärung dafür könnte sein: wo als Relativpronomen ist ein Dialektmerkmal und als solches, ebenso wie dialektale Texte, eher selten verschriftet zu finden.

Stigma?

Dass das relative wo dennoch immer wieder zitiert und parodiert wird, zeigt, wie sehr stigmatisiert es ist. Dieser Eindruck bestätigt sich angesichts zahlreicher sprachreflexiver Aussagen, bei denen mitunter weit mehr als mangelnde Deutschkompetenz mit der Verwendung des relativischen wo assoziiert wird.

Eine scherzhafte Redewendung im Schwäbischen karikiert diesen Gebrauch mit einem zusätzlichen Wortspiel: Die, wo „die wo“ sagen, sind die, wo kein Deutsch können. (Wikipedia, 2011, http://de.wikipedia.org/wiki/Relativsatz)
Okay, ich geb´s zu: "Deutsche Sprache, schwere Sprache." Das trifft auch auf die neue Rechtschreibung zu. Aber richtig sprechen sollte schon drin sein. Sonst klingt das Deutsche bald als wie der, wo nicht mehr weiß, wem seins das ist. (Nordkurier, 13.09.2007)
Wäre es nicht interessant, die Werbung für "Mario's und Loddar's Sprachschule" zu entwerfen? Etwa: Die wo Ihnen das Deutsch lernen tun. (Berliner Morgenpost, 13.08.2001, S. 7)

Die Stigmatisierung scheint so umfassend zu sein, dass sie sich auch auf völlig unproblematische Verwendungsweisen auswirkt. So schreibt die Teilnehmerin einer Diskussion im Internet:

Ein Freund hat mir das Buch "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" von Bastian Sick geschenkt. Das Buch ist über dem Atlantik nach Chile in Südamerika geflogen, 'wo' ich in Moment wohne. (http://www.proz.com/topic/48301)

Hier besteht eigentlich kein Grund, das W-Adverb wo in Anführungszeichen zu setzen, da sein Gebrauch nach artikellosen Ortsnamen die standardsprachliche Verwendung ist. Auch bei den Klassikern Goethe und Lessing etwa, bei denen man sich vielerlei Anregungen holen kann, ist solches wo nicht verpönt, im Gegenteil. Nur eben anstelle des Relativpronomens ist es nicht standardsprachlich.

Fazit

In keiner Grammatik gilt das relativische wo als standardsprachlich akzeptabel. Nachforschungen in Korpora und im Internet zeigen nur sehr seltene Verwendungen in standardnaher Schriftsprache. Der Mann, wo ich gesehen habe ist eine Sache der (gesprochenen) Dialekte. Dort allerdings ist sein Gebrauch akzeptiert und regelhaft.

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Autor(en)
Matthias Mösch
Bearbeiter
Roman Schneider
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