Warum bilden wir im Deutschen eigentlich Ohren-, Augen-, Frauen- und Kinderarzt, aber nicht Zahnearzt, Tierearzt oder Herzenchirurg? Warum sagen wir Rindfleisch, aber Rinderbraten? Warum liegt ein Kind allein im Kinderwagen? Und warum hei?t es Haustur, obwohl doch alle Hauser eine haben?
Hier geht es um die Frage nach Einzahl und Mehrzahl, nach Singular und Plural. Warum wahlen wir in einigen Zusammensetzungen eine plurale Ersteinheit wie Ohren, in anderen dagegen eine singulare wie Zahn? Das ist vor allem eine semantische Frage, also eine Frage der Bedeutung. Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage ganz kurz die Regeln an, nach denen wir im Deutschen Worter zusammensetzen:
Zusammensetzungen (Kompositionen) des Typs Ohrenarzt und Zahnarzt bestehen immer aus zwei Einheiten.
Das Grundwort ist die dominante Einheit: Es tragt die Hauptbedeutung. Und ausschlie?lich das Grundwort wird flektiert. Das Bestimmungswort ist fur syntaktische Operationen unerreichbar, es wird nicht flexivisch angepasst. Der Plural von Hausfrau ist nicht die Hauserfrauen, sondern die Hausfrauen.
Allein der Plural von Semmelknodel ist Semmelnknodeln, jedenfalls dem beruhmten Scherzdialog Karl Valentins nach:
Bestimmungsworter werden also der Regel nach eingefroren; einmal zusammengesetzt, flektieren wir sie nicht mehr. Mitunter wahlen wir aber Bestimmungsworter, die bereits eine Flexion mitbringen, vor allem Plurale, namlich
In der Linguistik ist umstritten, ob es sich hierbei um Pluralformen (Studenten) oder um Stammformen mit Fugenelementen handelt (Student + -en). Vgl. ausfuhrlich Hutschachtel, Hochzeitstorte ? Fugenelemente und Flexionsaffixe sowie Fugenelement oder Flexionsaffix?
Plurale auf -s werden offenbar nie als Bestimmungsworter verwendet, etwa Autos, Azubis, Lkws, Opas, Pizzas, Grappas.
Grundsatzlich sind wir bei der Wahl des Numerus von Bestimmungswortern frei. Es gibt keine starren Regeln zur Verwendung singularer versus pluraler Formen, hochstens Tendenzen.
Einerseits verwenden wir Bestimmungsworter im Nominativ Singular. Er gilt als die unmarkierte, die unauffallige Form. Linguisten nennen sie Stammform; in Worterbuchern werden Nomina traditionell unter dieser Form aufgefuhrt. Daher etablieren sich auch viele Zusammensetzungen mit dem Nominativ Singular.
So fand sich im Deutschen Referenzkorpus DeReKo via KorAP im Oktober 2024 neben 314 mal Baumdoktor nur einmal Baumedoktor. Auch in der folgenden Tabelle zeigt das Korpus eine klare Praferenz des Singulars:
Singular | Plural |
Baumdoktor 314 | Baumedoktor 1 |
Buchladen 25.963 | Bucherladen 1.258 |
Waldsterben 13.309 | Waldersterben 13 |
Topfset 316 | Topfeset 0 |
Handkuss 10.595 | Handekuss 1 |
Apfelernte 8.471 | Apfelernte 11 |
Der Singular wird in vielen Grammatiken und auch von Laien semantisch meist damit erklart, dass es hier um eine bestimmte Art, eine Sorte, eine Gattung, etwas Verallgemeinertes geht: Der Wald schlechthin stirbt und die Buchrucken sind die Rucken, wie sie das typische Buch eben hat. Semantisch lassen sich aber auch die Plurale begrunden: Es sterben bekanntlich die Walder der Welt und geerntet werden korbeweise Apfel. Uberlegungen zur Bedeutung sind also keine Entscheidungshilfen. Denn:
Andererseits zeigt DeReKo bei anderen Komposita auch klare Praferenzen des Plurals:
Plural | Singular |
Liedersammlung 2.189 | Liedsammlung 384 |
Hauserkampf 7.653 | Hauskampf 28 |
Bucherregal 16.767 | Buchregal 840 |
Handeschutteln 16.030 | Handschutteln 122 |
Mitunter ist nicht entscheidbar, ob es sich tatsachlich um einen Plural handelt.
Au?er Pluralformen verwenden wir auch Bestimmungsworter im Genitiv Singular (Anwaltskanzlei, Herzensangelegenheit). Lauten Genitiv Singular und Nominativ Plural gleich, ist nicht entscheidbar, ob es sich um singulare oder plurale Formen handelt. Das gilt unter anderem bei vielen Nomina mit singularer -e-Endung wie maskulinem Hune, Riese, Bote, Affe, Hase und femininem Glocke, Rose, Fahne, Hecke, Zunge.
Ubrigens lauten laut Mittelhochdeutschem Worterbuch mittelhochdeutsche Zusammensetzungen typischerweise nasebein und roseboum. Die uns bekannten mittelhochdeutschen Schreiber haben also den unmarkierten Singular praferiert.
Sind Zusammensetzungen erst einmal mit singularem oder pluralem Bestimmungswort etabliert, fallen abweichende Verwendungen auf. Etablierte Zusammensetzungen, die wir uberall horen und lesen, empfinden wir namlich meist als genau die Form, an die wir uns halten sollten. Wir neigen dazu, das Gewohnte als das Gesetzte anzusehen. Deshalb sagen wir alle weiter Zahnarzt, aber Ohrenarzt. Und Rindfleisch, aber Rinderbraten. Obwohl - nicht immer:
Warum weichen einige von uns vom Etablierten ab?
Abweichungen mussen nicht bewusst sein. Wer kennt schon alle etablierten Zusammensetzungen des Deutschen? Meist sind die Abweichungen auch nicht besonders auffallig, so dass man niemanden vor ihnen warnen muss. Wir konnen uns aber sensibilisieren fur die Moglichkeiten der Zusammensetzung. Dann konnen wir bewusst mit ihnen spielen, sie bewusst nutzen.
Abweichungen gibt es besonders von etablierten singularen Formen zu pluralen, weniger von den pluralen zu den singularen. Hier einige Belege zu den oben oppositionierten Zusammensetzungen:
Mitunter mag ein Sprecherschreiber gezielt den Plural wahlen: Der Doktor tatschelt seine Baume, nicht nur einen Baum. Ahnlich wird wohl auch gezielt zwischen Landesvater 'Vater eines Landes' und Landerspiel 'Spiel zwischen zwei Landern' unterschieden. Eine Hauswand ist eine Wand von einem Haus; die Hauserwand kann auch ein bedrohliche Wand aus Hausern sein. Mitunter erstaunt der Plural allerdings: Ein einzelner Kuss auf gleich mehrere Hande? Manche Leute sagen aber eben so. Das Deutsche Referenzkorpus DeReKo hatte im Oktober 2024 genau einen Beleg dafur:
Auch beruhmte deutsche Dichter sagen ubrigens so, etwa Jean Paul oder Ludwig Achim von Arnim:
Mitunter mag auch der Klang, die Euphonie ausschlaggebend sein (griech. eufonos 'wohlklingend'). So hei?t es reimend zum Beispiel:
oder
Es gibt keine festen Regeln fur die Verwendung pluraler oder singularer Ersteinheiten in Zusammensetzungen.
Die singulare Form (z.B. Handkuss) gilt als die unmarkierte. Sie wird offenbar mehrheitlich gewahlt und ist insofern auch in den meisten etablierten Zusammensetzungen prasent.
Plurale Ersteinheiten sind grundsatzlich nicht falsch. Sie konnen auffallen, wenn sie etablierte Ersteinheiten variieren (z.B. Handekuss). Mitunter wird ihre Auffalligkeit fur bestimmte Zwecke und Effekte eingesetzt.