Zähnearzt und Ohrarzt? – Plurale in Zusammensetzungen

Warum bilden wir im Deutschen eigentlich Ohren-, Augen-, Frauen- und Kinderarzt, aber nicht Zähnearzt, Tierearzt oder Herzenchirurg? Warum sagen wir Rindfleisch, aber Rinderbraten? Warum liegt ein Kind allein im Kinderwagen? Und warum heißt es Haustür, obwohl doch alle Häuser eine haben?

Hier geht es um die Frage nach Einzahl und Mehrzahl, nach Singular und Plural. Warum wählen wir in einigen Zusammensetzungen eine plurale Ersteinheit wie Ohren, in anderen dagegen eine singulare wie Zahn? Das ist vor allem eine semantische Frage, also eine Frage der Bedeutung. Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage ganz kurz die Regeln an, nach denen wir im Deutschen Wörter zusammensetzen:

Regeln der Zusammensetzung

Zusammensetzungen (Kompositionen) des Typs Ohrenarzt und Zahnarzt bestehen immer aus zwei Einheiten.

  • Die zweite Einheit, das sogenannte Grundwort, legt die grammatischen Merkmale der Zusammensetzung fest, unter anderem die Wortart und das Genus. Weil Arzt ein maskulines Nomen ist, ist auch Ohrenarzt genauso wie Zahnarzt ein maskulines Nomen. Außerdem sagt das Grundwort das Grundsätzliche aus. Ein Ohrenarzt ist genauso wie ein Zahnarzt ein Arzt.
  • Die erste Einheit, das sogenannte Bestimmungswort, bestimmt die Bedeutung des Grundwortes näher. Ein Ohrenarzt ist ein Arzt, und zwar einer für Ohren; ein Zahnarzt ist ein Arzt, und zwar einer für Zähne.

Das Grundwort ist die dominante Einheit: Es trägt die Hauptbedeutung. Und ausschließlich das Grundwort wird flektiert. Das Bestimmungswort ist für syntaktische Operationen unerreichbar, es wird nicht flexivisch angepasst. Der Plural von Hausfrau ist nicht die Häuserfrauen, sondern die Hausfrauen.

Allein der Plural von Semmelknödel ist Semmelnknödeln, jedenfalls dem berühmten Scherzdialog Karl Valentins nach:

- Man sagt schon von jeher Semmelknödel.
- Ja, zu EINEM – aber zu mehreren Semmelknödel sagt man Semmelnknödeln.
- Aber wie tät man denn zu einem Dutzend Semmelknödel sagen?
- Auch Semmelnknödeln - Semmel ist die Einzahl, das musst Ihnen merken, und Semmeln ist die Mehrzahl, das sind also mehrere einzelne zusammen.
(Valentin 2006: 83)

Bestimmungswörter werden also der Regel nach eingefroren; einmal zusammengesetzt, flektieren wir sie nicht mehr. Mitunter wählen wir aber Bestimmungswörter, die bereits eine Flexion mitbringen, vor allem Plurale, nämlich

  • Plurale auf -en bzw. -n
    Studentenbude, Astronautennahrung, Glockenturm, Bauernregel, Schneckenhaus
  • Plurale auf -er
    Weiberfasnacht, Männerfreundschaft, Kindergarten, Hühnerhof, Häusermeer
  • Plurale auf -e
    Ärztehaus, Gästebad, Hundekuchen, Mäusebussard, Tagegeld

In der Linguistik ist umstritten, ob es sich hierbei um Pluralformen (Studenten) oder um Stammformen mit Fugenelementen handelt (Student + -en). Vgl. ausführlich Hutschachtel, Hochzeitstorte — Fugenelemente und Flexionsaffixe sowie Fugenelement oder Flexionsaffix?

Plurale auf -s werden offenbar nie als Bestimmungswörter verwendet, etwa Autos, Azubis, Lkws, Opas, Pizzas, Grappas.

Grundsätzlich sind wir bei der Wahl des Numerus von Bestimmungswörtern frei. Es gibt keine starren Regeln zur Verwendung singularer versus pluraler Formen, höchstens Tendenzen.

Der Singular

Einerseits verwenden wir Bestimmungswörter im Nominativ Singular. Er gilt als die unmarkierte, die unauffällige Form. Linguisten nennen sie Stammform; in Wörterbüchern werden Nomina traditionell unter dieser Form aufgeführt. Daher etablieren sich auch viele Zusammensetzungen mit dem Nominativ Singular.

So lieferte Google im September 2008 rund 19.300 mal Baumdoktor und nur zwei mal Bäumedoktor. Bei der Suche nach der Form Bäumedoktor schlug Google übrigens fürsorglich die etablierte Zusammensetzung mit Singular vor: "Meinten Sie: Baumdoktor?"

Ebenso fand sich im Deutschen Referenzkorpus DeReKo neben 31 mal Baumdoktor nur einmal Bäumedoktor. Auch in der folgenden Tabelle zeigen die Korpora klare Präferenz des Singulars:

SingularPlural
Baumdoktor
31
Bäumedoktor
1
Buchladen
2692
Bücherladen
145
Waldsterben
1784
Wäldersterben
2
Topfset
30
Töpfeset
2
Handkuss
559
Händekuss
1
Apfelernte
496
Äpfelernte
1

Der Singular wird in vielen Grammatiken und auch von Laien semantisch meist damit erklärt, dass es hier um eine bestimmte Art, eine Sorte, eine Gattung, etwas Verallgemeinertes geht: Der Wald schlechthin stirbt und die Buchrücken sind die Rücken, wie sie das typische Buch eben hat. Semantisch lassen sich aber auch die Plurale begründen: Es sterben bekanntlich die Wälder der Welt und geerntet werden körbeweise Äpfel. Überlegungen zur Bedeutung sind also keine Entscheidungshilfen. Denn:

Der Plural

Andererseits zeigen die Korpora auch klare Präferenz des Plurals:

PluralSingular
Liedersammlung
120
Liedsammlung
19
Häuserkampf
787
Hauskampf
2
Bücherregal
1214
Buchregal
59
Händeschütteln
1319
Handschütteln
11

Mitunter ist nicht entscheidbar, ob es sich tatsächlich um einen Plural handelt.

Außer Pluralformen verwenden wir auch Bestimmungswörter im Genitiv Singular (Anwaltskanzlei, Herzensangelegenheit). Lauten Genitiv Singular und Nominativ Plural gleich, ist nicht entscheidbar, ob es sich um singulare oder plurale Formen handelt. Das gilt unter anderem bei vielen Nomina mit singularer -e-Endung wie maskulinem Hüne, Riese, Bote, Affe, Hase und femininem Glocke, Rose, Fahne, Hecke, Zunge.

  • Bei den Maskulina haben Genitiv Singular und Nominativ Plural auch heute noch die gleiche Endung: des Hünen, die Hünen; des Hasen, die Hasen.
  • Bei den Feminina heißt es heute im Genitiv Singular der Zunge, im Plural die Zungen. Aber die historischen Genitive schwacher Feminina stimmen mit den Pluralformen lautlich überein. So heißt es im Mittelhochdeutschen im Genitiv Singular der zungen, im Nominativ Plural die zungen. Typisch für mittelhochdeutsche Genitive sind Phrasen wie das nôtlieht unser lieben vrouwen, bei dem das Licht einer einzelnen, einer bestimmten Frau, nämlich Marias Notlicht, gemeint ist. Die genitivischen Formen haben sich bis heute erhalten. So sagen wir zum Beispiel Frauenkirche. Wieder andere Feminina auf -e sind heute im Singular etabliert, etwa Gemeindehaus, Gemeinderat oder Eliteabteilung, Eliteschule.

Übrigens lauten laut Mittelhochdeutschem Wörterbuch mittelhochdeutsche Zusammensetzungen typischerweise nasebein und roseboum. Die uns bekannten mittelhochdeutschen Schreiber haben also den unmarkierten Singular präferiert.

Sind Zusammensetzungen erst einmal mit singularem oder pluralem Bestimmungswort etabliert, fallen abweichende Verwendungen auf. Etablierte Zusammensetzungen, die wir überall hören und lesen, empfinden wir nämlich meist als genau die Form, an die wir uns halten sollten. Wir neigen dazu, das Gewohnte als das Gesetzte anzusehen. Deshalb sagen wir alle weiter Zahnarzt, aber Ohrenarzt. Und Rindfleisch, aber Rinderbraten. Obwohl - nicht immer:

Eine Studie behauptet nämlich: Die Produktion von einem Kilogramm Rinderfleisch belaste die Umwelt so stark wie eine 250 Kilometer lange Autofahrt.
[Mannheimer Morgen, 11.08.2007, o.S.]

Warum weichen einige von uns vom Etablierten ab?

Wahl eines abweichenden Numerus

Abweichungen müssen nicht bewusst sein. Wer kennt schon alle etablierten Zusammensetzungen des Deutschen? Meist sind die Abweichungen auch nicht besonders auffällig, so dass man niemanden vor ihnen warnen muss. Wir können uns aber sensibilisieren für die Möglichkeiten der Zusammensetzung. Dann können wir bewusst mit ihnen spielen, sie bewusst nutzen.

Abweichungen gibt es besonders von etablierten singularen Formen zu pluralen, weniger von den pluralen zu den singularen. Hier einige Belege zu den oben oppositionierten Zusammensetzungen:

Christian Weidner vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland ist ein Bäumedoktor. Der Mann, der im Beruf Arzt ist, tätschelt seine Bäume wie Patienten, klopft ihnen auf die Rinde, sagt: "Na, was hat er denn?"
[Frankfurter Allgemeine, 2.11.2001, o.S.]
Wäldersterben, Meeresverseuchung, Alpenkatastrophen werden mit der Umstrukturierung der Wirtschaft sich noch verstärken.
[die tageszeitung, 24.11.1988, S. 8]
Als zweiten Gast empfängt die Königin den Chef der stärksten Partei, der dann mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Nach vollbrachtem Händekuss darf nun er mit dem stehengelassenen Dienstwagen an die Downing Street fahren, wo er vor der schwarzen Tür eine Rede halten wird.
[St. Galler Tagblatt, 2.5.1997, o.S.]

Mitunter mag ein Sprecherschreiber gezielt den Plural wählen: Der Doktor tätschelt seine Bäume, nicht nur einen Baum. Ähnlich wird wohl auch gezielt zwischen Landesvater 'Vater eines Landes' und Länderspiel 'Spiel zwischen zwei Ländern' unterschieden. Eine Hauswand ist eine Wand von einem Haus; die Häuserwand kann auch ein bedrohliche Wand aus Häusern sein. Mitunter erstaunt der Plural allerdings: Ein einzelner Kuss auf gleich mehrere Hände? Manche Leute sagen aber eben so. Das W-Archiv der geschriebenen Sprache im Deutschen Referenzkorpus DeReKo hatte im Juni 2021 genau einen Beleg dafür:

Nach vollbrachtem Händekuss darf nun er mit dem stehengelassenen Dienstwagen an die Downing Street. (St. Galler Tagblatt 1997, A97/MAI.01647)

Auch berühmte deutsche Dichter sagen übrigens so, etwa Jean Paul oder Ludwig Achim von Arnim:

Wie der Lysander mit dem Fräulein jetzt so schöne thut, ein Händekuß ist ihm jetzt gar nichts gar nichts mehr, sonst hätte er sich wohl vier Wochen lang darnach die Beine abgelaufen, sie scheint nun auch mit allem ganz zufrieden!
[Arnim 1846, nach http://www.zeno.org]
Es war ihm gar nicht unbekannt (sondern komisch), was es bedeute, daß er bei ihr von Sentenzen zu Blicken, von diesen zum Händekuß, dann zum Mundkuß gelangte.
[Jean Paul 1800 nach http://gutenberg.spiegel.de]

Mitunter mag auch der Klang, die Euphonie ausschlaggebend sein (griech. eufonos 'wohlklingend'). So heißt es reimend zum Beispiel:

Augen auf beim Schuhekauf!

oder

Es war die Witwe Blauensteiner ein Segen für die Särgeschreiner.
[Neue Kronen-Zeitung, 9.3.1997, S. 2]

Fazit

Es gibt keine festen Regeln für die Verwendung pluraler oder singularer Ersteinheiten in Zusammensetzungen.

Die singulare Form (z.B. Handkuss) gilt als die unmarkierte. Sie wird offenbar mehrheitlich gewählt und ist insofern auch in den meisten etablierten Zusammensetzungen präsent.

Plurale Ersteinheiten sind grundsätzlich nicht falsch. Sie können auffallen, wenn sie etablierte Ersteinheiten variieren (z.B. Händekuss). Mitunter wird ihre Auffälligkeit für bestimmte Zwecke und Effekte eingesetzt.