Fugenelement oder Flexionsaffix?

Die hier vertretene Definition des Fugenelements schließt alle flexionsaffixanalogen Einheiten aus, d.h. alle Einheiten, die im Flexionsparadigma der ersten Einheit zu finden sind. Danach sind z.B. das -er- in Kindergarten oder kinderreich, das -es- in Sohnespflicht und das -e- in Ärztehaus oder nächtelang keine Fugenelemente (vgl. die Kinder, des Sohnes, die Ärzte, die Nächte). Dies gilt hier prinzipiell auch für Ersteinheiten wie in Sonnenfinsternis, die in ihrem Flexionsparadigma in eben dieser Form erscheinen (die Sonnen), aber semantisch nicht in dieser Weise erklärt werden können (Finsternis der Sonne, nicht Finsternis der *Sonnen).

Diese Festlegung ist eine formale Festlegung. Es ist eine Festlegung, die nicht besser, aber auch nicht schlechter ist als andere Festlegungen in diesem Bereich. Wie immer man nämlich das Fugenelement definiert: Es bleiben Unstimmigkeiten. Die Unstimmigkeiten werden im Folgenden erläutert. Dabei geht es im Wesentlichen um die Diskussion zweier konträrer Positionen.

  • Position 1: Wörter werden prinzipiell aus Stamm-, nicht aus flektierten Wortformen zusammengesetzt. Alles, was zwischen dem ersten und dem zweiten Stamm steht, ist ein Fugenelement.
  • Position 2: Die Ersteinheit eines komplexen Wortes kann ein Stamm, aber auch eine flektierte Wortform sein. Sie ist immer dann eine flektierte Wortform, wenn das Flexionsparadigma der Ersteinheit diese Form enthält.

Für bzw. gegen diese beiden Hauptpositionen spricht:

Die sprachgeschichtlich ältesten Komposita des Deutschen gehen offenbar auf Nominalphrasen wie ahd. gotes poto zurück (Fleischer/Barz 1995: 136, Eisenberg 1998: 224f, ausführlich Pavlov 1983). Vgl. auch Die Zusammenrückung. In dem sich entwickelnden Kompositatyp Gottesbote sind die flektierten Ersteinheiten fossiliert. Analog dazu wurden Komposita gebildet, deren Ersteinheiten teils flektierten Wortformen entsprechen (z.B. Königsmantel), teils aber auch nicht (z.B. Kindheitstraum). Zu unterscheiden ist folglich zwischen Komposita mit paradigmatischem -s-, d.h. einem aus dem Flexionsparadigma der Ersteinheit erklärlichen, und Komposita mit unparadigmatischem -s-. Position 1 sieht beide als Fugenelemente an und differenziert weiter in paradigmatische Fugenelemente (z.B. in Königsmantel) und unparadigmatische Fugenelemente (z.B. in Kindheitstraum). Position 2 sieht ein Nebeneinander von flektierten Wortformen (z.B. in Königsmantel) und Fugenelementen (z.B. in Kindheitstraum).

Sprecherschreiber verwenden, auch wenn dies aus semantischen Gründen nahe läge, nicht regelmäßig die flektierten Wortformen; die Form der Ersteinheit ist also nicht voraussagbar: Vgl. Buchrücken, obwohl es sich um den Rücken eines Buches handelt, und Buchladen, obwohl dort Bücher verkauft werden. Insofern muss etwa "der immer wieder unternommene Versuch, den Genitiv als Kriterium für die Setzung des Binde-s festzustellen, als gescheitert gelten" (Heuer 1986: 187). Position 1 leitet aus dieser Unregelmäßigkeit ab, dass Sprecherschreibern die Funktion und Semantik der flektierten Formen nicht mehr gegenwärtig ist und auch paradigmatische Fugenelemente sinnentleert sind. Position 2 sieht jedes System als ein System mit offenen Optionen. Die Optionen sowohl mit Stamm-, als auch mit flektierten Wortformen Wörter zu bilden werden gleichermaßen genutzt. Dass Sprecherschreiber einmal so und einmal so verfahren, ist kein Argument für oder gegen irgendetwas. Für Position 2 spricht insofern nichts dagegen, alle Ersteinheiten, die Formen des Flexionsparadigmas entsprechen, für flektierte Wortformen zu halten.

Zu unterscheiden ist zwischen Ersteinheiten, die Genitivformen entsprechen, und Ersteinheiten, die Pluralformen entsprechen. Position 1 hält beide für defunktionalisiert (Eschenlohr 1999: 206). Dies kann zumindest für die Pluralformen nicht gelten:

  • Die Ersteinheiten in Komposita wie Blumenvase entsprechen in jeder Hinsicht den flektierten Wortformen. Die Wahl des (nach Position 1 als paradigmatisches Fugenelement anzusehenden) Elements richtet sich exakt nach dem Flexionsparadigma der Ersteinheit: So wird bei der Zusammensetzung von Blume und Vase eben nicht das sehr häufige Fugen-s- verwendet, sondern ein dem Flexionaparadigma von Blume entsprechendes -n-.
  • Regelmäßig finden sich dem Flexionsparadigma der Pluralbildung entsprechende Umlautungen, z.B. bei Ärztehaus, Gästebad, Räderwerk, Güterbahnhof, Männerfreundschaft, nächtelang.Was genauso aussieht wie eine Pluralform, ist nach Position 2 auch eine Pluralform. Was sonst?
  • Dass Sprecherschreibern die Funktion und Semantik der Ersteinheiten durchaus bewusst ist, zeigen Oppositionen wie Landesverteidigung 'Verteidigung eines Landes' versus Länderspiel 'Spiel zwischen Ländern'. Gerade Pluralformen machen vielfach Sinn. Sind Fugenelemente - wie ja auch Position 1 meint (vgl. Fleischer/Barz 1995: 137) - als semantisch leer definiert, können jedenfalls bedeutungsbeitragende Pluralmarkierer wie in Länderpiel nicht als Fugenelemente analysiert werden.
  • Pluralformen bezeichnen syntaxunabhängig die Vielzahl von etwas; sie haben eine klar konturierte Wortbedeutung. Genitivformen dagegen haben vor allem eine syntaktische Funktion: Der Genitiv ist ein syntaktisch regierter Kasus, er stellt eine Relation her. Dass er dies in gleicher Weise in Wortbildungsprodukten tut, d.h. dass Wortbildungsprodukte gefrorene Syntax sind, wird hier nicht angenommen. Die Relation zwischen Einheiten in Wortbildungsprodukten besteht vielmehr grundsätzlich im Determinationsverhältnis aller Determinativkomposita; die Relation wird nicht erst durch eine genitivische Ersteinheit bewirkt, vgl. Computerbildschirm 'Bildschirm eines Computers'. Insofern werden Genitivformen in Wortbildungsprodukten auch nach Position 2 als defunktionalisiert angesehen (vgl. Eschenlohr 1999: 206).

Im Übrigen werden in der Wortbildung zwar überwiegend, aber keineswegs ausschließlich Stammformen verwendet. So basieren Infinitivkonversionen wie das Schreiben auf infinitiven Verbformen (schreiben); die Basen einiger konvertierter Verben wie verbreitern sind komparative Adjektivformen (breiter). Daher gibt es keinen Grund, die Verwendung von Stämmen als starre Regel zu formulieren.

Wird schließlich als Fugenelement "genau das angesehen, was über die Form des Nom Sg eines substantivischen Determinans hinausgeht" (Eisenberg 1998: 227), muss eine Vielzahl von Fugenelementen angenommen werden. Danach sind schon für nominale Komposita anzusetzen: "n (Blumenvase), s (Zweifelsfall), ns (Glaubensfrage), e (Pferdewagen), er (Kinderwagen), en (Heldenmut), es (Siegeswille) und ens (Schmerzensschrei)" (ebd.) sowie die Lehnfugenelemente -i- und -o-. (Das darüber hinaus bei Eisenberg ebd. als Lehnfugenelement angeführte -ial, z.B. in Territorialverteidigung, wird hier nicht als Fugenelement verstanden, sondern als Suffixendung der adjektivischen Ersteinheit territorial.) Im Gegensatz dazu ergibt sich bei einer Definition, die alle als Flexionsaffixe in Frage kommenden Einheiten ausschließt, für die Kompositionsfugenelemente ein sehr viel überschaubareres Inventar aus dem seltenen Fugenelement -i- und den häufigeren Elementen -o- und -s-. Auffällig ist dabei, dass außer -i-, -o- und -s- keine unparadigmatischen Elemente vorkommen.

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