Beschönigen aus schönigen, belobigen aus lobigen? – Bildung von Verben

Wie schon im letzten Jahr ließen sich Schüler des Berufskollegs Hilden ihre europäischen Sprachenkenntnisse durch das neue KMK-Fremdsprachenzertifikat bescheinigen.
[www.berufskolleg.de, 20.5.2008]

Wie bildet man Verben? Gezeigt wird das nachfolgend an ungewöhnlichen Beispielen wie beschönigen, begradigen, belobigen und bescheinigen. Solche Verben gehören zum festen Bestand unseres Wortschatzes und werden relativ häufig benutzt. So liefern etwa die Korpora der geschriebenen Sprache des Instituts für Deutsche Sprache weit über zweitausend Mal beschönigen, weit über tausend Mal begradigen und rund fünfhundert Mal belobigen, zum Beispiel:

Nein, ich bitte nur um mehr Sachlichkeit. Die Medien haben nun einmal eine starke Definitionsmacht und entscheiden, was sie berichten - und was sie lieber weglassen. Sie sind dabei genauso Partei wie ich als BND-Chef. Ich will nichts beschönigen. Viele der von Schäfer berichteten Maßnahmen sind ein Schandfleck auf unserer Weste.
[Die Zeit, 22.6.2006, o.S.]
In den Jahren 1967 und 1968 wurde die Ebnaterstrasse im Bereich des Restaurants Traube verlegt respektive begradigt.
[St. Galler Tagblatt, 22.8.2001, o.S.]
Maria Becker wurde nicht nur für ihre grosse Ausdruckskraft als Schauspielerin belobigt, sondern auch als Kämpferin gegen "gewisse Fehlentwicklungen", wie ein "Regie- und Dramaturgentheater, das sich gegen das Publikum wende", so der Kölner Theaterwissenschaftler Elmar Buck.
[Zürcher Tagesanzeiger, 5.12.1997, S. 78]

Aber fangen wir am Anfang an: Im Deutschen bilden wir Verben vor allem durch Präfigierung.

Verbpräfigierung

Verbpräfigierung ist Verbbildung mit Präfixen. Verbpräfixe sind unselbständige Einheiten, die wir vor etwas stellen (lat. praefigere 'voranstellen'). Die deutschen Verbpräfixe sind im Wesentlichen be-, ent-, er-, ver- und zer-, zum Beispiel in begehen, beleuchten, besagen, entgehen, entgleiten, entfliehen, ergehen, erfreuen, erhoffen, vergehen, verstehen, verfolgen und zergehen, zerbröseln, zerreißen.

Genauer beschrieben ist das hier.

Wenn begehen aus dem Präfix be- und dem Verb gehen besteht, besteht dann beschönigen aus dem Präfix be- und dem Verb schönigen und besteht belobigen aus dem Präfix be- und dem Verb lobigen?


?? be- + schönigen
?? be- + lobigen?

Aber gibt es die Verben schönigen und lobigen überhaupt? Regelgemäß wären sie durchaus. Es wird ja auch reinigen und huldigen gebildet. Denn zur Bildung von Verben verwenden wir außer Präfixen auch Suffixe.

Verbsuffigierung

Verbsuffixe sind Einheiten, die wir an etwas anhängen (lat. suffigere 'hinten anhängen'). Typische Suffixe zur Bildung von Verben sind -ig und -ier, zum Beispiel in reinigen und halbieren. Das etablierte Verb reinigen besteht aus dem Adjektiv rein, an das das Suffix -ig gehängt wird. So auch sättigen zu satt und festigen zu fest.

Das -en am Ende eines Verbs wie reinigen ist übrigens kein Mittel der Wortbildung, es gehört nicht zum Wortbildungsaffix -ig, sondern ist ein selbständiges Flexionsaffix. Flexionsaffixe dienen der Flexion, der Beugung von Verben (ich reinige, du reinigst, wir reinigen). Das Flexionsaffix -en dient unter anderem der Markierung des Infinitivs (zu reinigen) und einiger Pluralformen des Päsens (wir reinigen, sie reinigen). Siehe Flexion.

Prinzipiell haben wir also die Möglichkeit, aus einem Adjektiv und dem Suffix -ig ein Verb zu bilden. Allerdings ist schönigen ungebräuchlich. Auch gradigen ist unüblich und folglich für das Verb begradigen nicht als Basis anzunehmen.

Mitunter finden sich be-Verben, die auf sprachhistorisch übliche, aber heute vergessene Verben zurückgehen. So ist zum Beispiel helligen heute ungebräuchlich. Im Mittelhochdeutschen aber gab es ein Verb helligen zum Adjektiv hellic 'ermüdet, erschöpft', das die Basis des Präfixverbs behelligen 'bis zur Ermüdung bedrängen' war. So auch allein mit Präfix gebildetes besänftigen zum mittelhochdeutschen Verb sänftigen.

Außer aus Adjektiven können wir auch aus Nomina und dem Suffix -ig Verben bilden, zum Beispiel aus Angst das Verb ängstigen. So auch huldigen, steinigen, nächtigen, peinigen, verdächtigen und züchtigen. Beruhen Verben wie beerdigen oder belobigen auf solchen Suffixverben? Eher nicht, denn erdigen oder lobigen sind ganz und gar unübliche Verben.

Kann man Verben wie beschönigen oder belobigen also noch anders erklären als mit Präfigierung oder Suffigierung?

Verbzirkumfigierung

Verben wie beschönigen erklärt man am besten durch Zirkumfigierung. Verbzirkumfixe sind Einheiten, die wir um etwas herum positionieren (lat. circumfigere 'ringsum umwickeln'). Ein typisches Verbzirkumfix ist be-...-ig, zum Beispiel in beschönigen.


be- + schön + -ig(en)
be- + Lob + -ig(en)

Das Besondere an dieser Erklärung ist, dass sie einen einzigen Vorgang zur Verbbildung vorsieht und nicht umständliche Umwege konstruieren muss. Dieser Erklärung nach zirkumfigieren wir nämlich in einem Zug aus der adjektivischen Basis schön ein Verb und bilden nicht erst ein gedachtes, ein virtuelles Zwischensuffixverb schönigen aus schön und -ig, das wir dann aber gar nicht in Texten verwenden, sondern ausschließlich, um aus ihm das gleichbedeutende Präfixverb beschönigen weiter abzuleiten. Ebenso zirkumfigieren wir das Nomen Lob in einem Zug zum Verb belobigen und gehen nicht erst den Umweg über ein virtuelles lobigen, das wir dann ja ebenfalls nur verwenden würden, um es zum gleichbedeutenden belobigen abzuleiten.

Fachterminologisch beschrieben ist das alles hier.

Das Zirkumfix be-...-ig ist im Deutschen das einzige verbbildende Zirkumfix. Die etablierten Zirkumfixverben des Deutschen finden sich in der folgenden, relativ überschaubaren Liste.

Liste der mit Zirkumfix abgeleiteten Verben
Ableitung mit Adjektivbasis
begradigen
besänftigen
beschönigen
Ableitung mit Substantivbasis
beabsichtigen
beaufsichtigen
beeidigen
beeinträchtigen
beerdigen
befriedigen
begnadigen
beherzigen
beköstigen
beleidigen
belobigen
benachrichtigen
berechtigen
berücksichtigen
bescheinigen
beseitigen
besichtigen
bevorrechtigen

Diese Liste sollte vollständig sein. Die Autorin dieser Antwort freut sich über gut durchdachte Hinweise auf Fehlendes!

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Autor(en)
Elke Donalies
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