Einige Schwierigkeiten bei der Analyse expliziter Verbderivate
Schwierigkeiten bei der Produktion von Wörtern gibt es eher selten. Sprecherschreiber bilden Wörter relativ unbelastet und auch Hörerleser rezipieren Wortbildungsprodukte relativ unbelastet. Die Schwierigkeiten hat eher der Linguist, wenn er analysieren und klassifizieren will:
Schwierigkeiten bei der Analyse machen Präfixverben mit nominaler oder adjektivischer Basis, z.B.bedachen, entkernen, vergolden oder betäuben, erbittern, verarmen. Schwierig zu klären ist, was der syntaktische Kern sein soll, also das, was die grammatischen Merkmale festlegt: Auch in der Wortbildung des Deutschen gilt ja dieRighthand Head Rule, also die Regel, dass die jeweils zweite Einheit einer binären Struktur der syntaktische Kern ist. Bei denominalen und deadjektivischen Präfixverben stört nun, dass die zweiten Einheiten (*dachen, *täuben) im Wortschatz nicht vorhanden sind und dass man sie sich auch nicht so recht als Okkasionalismen vorstellen kann. Es gibt drei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Man nimmt erstens an, dass es so etwas wie *dachen doch irgendwie, sozusagen virtuell gibt, man nimmt zweitens an, dass es Präfixkonversion gibt, oder man nimmt drittens an, dass ein Präfix doch ein syntaktischer Kern sein kann:
1. Das virtuelle Verb
Die Annahme "virtueller Zwischenformen" (u.a. bei Stiebels 1996), also z.B. eines virtuellen verbalen Stamms dach-, der erst in einem zweiten Ableitungsschritt mit be- präfigiert wird, führt nicht weiter. Eschenlohr 1999: 108 fordert, dass die "'direkte' Ableitung eines Präfixverbs von einem nominalen Stamm" jedenfalls immer dann angenommen werden müsse, "wenn die virtuelle Zwischenform ungrammatisch ist." Nun lässt sich über Ungrammatikalität bekanntlich endlos streiten: Immerhin sind Verben wie *dachen, *kernen vom System her durchaus möglich, denn im System ist ein Modell für konvertierte Verben dieser Art vorgesehen, z.B. zu *dachen Verben wie in Hermine zuckert den orientalischen Kaffee, Hrair ölt die Fahradkette und zu *kernen Verben wie der Fischhändler köpft, grätet und schuppt den Karpfen. Am System liegt es also nicht, dass *dachen und *täuben so merkwürdig wirken. Es liegt an der Norm. Vgl. System und Norm in der Wortbildung. Verben wie *dachen wären im Sinne dieses Nichtnormgerechtseins als nur virtuell einzustufen. Virtuelle Wörter sind natürlich unbefriedigende Hypothesen: Dass es etwas geben soll, was es nicht gibt, widerspricht der Logik.
Bei der Hypothese virtueller Zwischenformen fragt sich darüber hinaus, "ob eine Analyse plausibel ist, die stets einen zusätzlichen Ableitungsschritt erfordert", denn "semantisch ist es mindestens genauso plausibel, von einer substantivischen Basis auszugehen (vgl. Plank 1981: 57f)" (ebd.). Mit Eschenlohr werden deshalb auch hier virtuelle Zwischenformen nicht als Königsweg angesehen.
So fraglich wie "virtuelle Zwischenformen" sind ähnliche Modelle, so u.a. das "holistische" Analysemodelle, nach denen das Affix "als Anweisung zu verstehen ist, das Konzept seiner Basis so zu modifizieren, dass das Derivat ein verändertes Konzept aufweist" (referiert bei Meibauer 1995: 106). Auch hier spielt Virtuelles eine Rolle, das allerdings offenbar eher semantisch gemeint ist. Das Verbpräfix weist nach diesem Modell "keine eigenständige Bedeutung auf, sondern signalisiert nur, dass unter Beachtung bestimmter Beschränkungen ein passendes, gegenüber der Basis verändertes Konzept gefunden werden muss" (ebd.). Diese Hypothese hat den Nachteil, dass auch hier an den Kommunikationsbedürfnissen und -prozessen vorbei analysiert wird: Ziel eines solchen Wortbildungsvorgangs ist ja nicht die Umnutzung oder Veränderung der Basis, die durch ein Präfix signalisiert würde, sondern die Findung einer treffenden Bezeichnung für ein in der außersprachlichen Wirklichkeit vorgefundenes Denotat, z.B. eine bestimmte Tätigkeit.
Aus diesen Gründen werden hier keine "virtuellen Zwischenformen" akzeptiert.
2. Die Präfixkonversion
U.a. Fleischer/Barz (1995: 308) gehen von einem Modell Präfixkonversion aus. Nach diesem Modell besteht die Ableitung von Verben wie verarzten in gleichzeitiger Präfigierung und Konversion. Fleischer/Barz sehen auch andere Wortbildungsprozesse als kombinierte Verfahren an, so die Präfix-Suffix-Derivation (z.B. bei Gesinge). Modelle kombinierter Verfahren sind jedoch nicht notwendig zur Erklärung von Phänomenen der Wortbildung. Die Präfix-Suffix-Kombination wird hier als Zirkumfigierung aufgefasst. Vgl. Das Zirkumfix. Und auch das bei Fleischer/Barz Präfixkonversion genannte Verfahren lässt sich anders erklären, nämlich als:
3. Das Präfix als syntaktischer Kern
Dass nicht nur Suffixe, sondern auch Präfixe syntaktische Kerne sein können, ist bereits erwogen worden: "Williams (1981) und Lieber (1981) schlagen [...] vor, die germanischen Präfixe als Köpfe der komplexen Verben zu betrachten [...]. Als linksseitige Köpfe übertragen sie ihre morphosyntaktischen Spezifizierungen auf die Gesamtkonstruktion und sind somit imstande, Nomina und Adjektive zu verbalisieren" Olsen 1991: 341. Als syntaktischer Kern fungiert z.B. be- insofern, als es die grammatischen Merkmale des Derivats bestimmt: Ganz gleich, welcher Wortart die Basis angehört, sind z.B.be-Bildungen stets Verben. Sind Präfixe syntaktische Kerne, liegt die Vermutung nahe, dass Präfixe grundsätzlich auch semantische Kerne sein können (vgl. Donalies 1999a). Vgl. Das transponierende, das determinierende und das determinierte Wortbildungsaffix. Verben wie vergolden werden hier also als Präfigierungsprodukte aufgefasst; das Präfix legt die grammatischen Merkmale des Derivats fest und ist Determinatum.