Der Kritiker sind viele. Die Konstruktion in + Jahreszahl ist auch in Duden und Wahrig – hier mehr, dort weniger – ein Stein des Anstoßes. Allgemein vertreten wird dabei folgende Meinung: Standardsprachlich ist nur die Jahreszahl ohne Präposition oder die Fügung im Jahr(e) + Jahreszahl. Somit ist der folgende Beleg ein Beispiel für falschen Gebrauch, und besser müssten die Versionen (a) und (b) sein:
Das Problem ist gelöst. Wirklich? Bei einem sensiblen Sprachbenutzer regt sich doch leiser Zweifel: Ist in + Jahreszahl immer falsch? Und wenn die Konstruktion in bestimmten Bereichen gang und gäbe ist, wie das die Kritiker behaupten, was heißt dann in diesem Zusammenhang standardsprachlich? Dieser Beitrag nimmt sich der Probleme um die Konstruktion in + Jahreszahl und ihre viel prominenteren Konkurrenten noch einmal an.
Wenn man in den IDS-Korpora der geschriebenen Sprache, die wohlgemerkt bildungssprachlich geprägt sind, nach in + Jahreszahl sucht, wird man sehr wohl fündig. Erfasst man die Jahreszahlen zwischen 1600 und 2009, so findet man die Konstruktion in dem rund zwei Milliarden Wörter umfassenden Archiv W immerhin über 6.000 Mal. Aber spätestens der Vergleich der Häufigkeiten aller Konstruktionen, die als Konkurrenten in Frage kommen, rückt die Verhältnisse zurecht: So nimmt z. B. bei den Jahreszahlen von 2000 bis 2009 in + Jahreszahl nicht einmal 1% der Gesamtheit ein, welche aus den Vorkommen von in + Jahreszahl (ca. 4.200 ), im Jahr + Jahreszahl (87.282), im Jahre + Jahreszahl (12.229) und bloßer Jahreszahl (ca. 596.700 ) besteht.
Nicht bei allen Fügungen in + vierstellige Zahl und bloßen vierstelligen Zahlen handelt es sich um die gesuchten Konstruktionen, und bei der automatischen Recherche war es nicht möglich, alle unzutreffenden Fundstellen auszuschließen. Dies konnte nur für Stichproben geleistet werden, die dazu genau durchgesehen werden mussten. Bei den gerundeten Häufigkeitsangaben für in + Jahreszahl und bloße Jahreszahl handelt es sich daher um Hochrechnungen anhand von Zufallsstichproben, deren Umfang (zwischen 200 und 800 Treffern) zuverlässige Schätzungen (mit einer Sicherheit von 95% und einer Genauigkeit von unter +/- 3,5% der Gesamtheit jeweiliger Fundstellen) erlaubte.
Abbildung: Anteil der einzelnen Varianten an der Gesamtheit der Vorkommen aller Konstruktionen in den Korpora des „Archivs der geschriebenen Sprache W“
Es scheint, dass wir erleichtert aufatmen können: Die deutsche Sprache steht – zumindest im Bereich der Jahresangaben – noch nicht unmittelbar vor dem Untergang. 85% aller Formen gehen an die Verwendungen der bloßen Jahreszahl, die sich damit von den anderen Varianten deutlich abhebt. Die anderen haben alle die Präposition in gemeinsam, und es drängt sich die Frage auf, ob sie dadurch nicht spezifische Verwendungsbedingungen aufweisen. Nicht, dass die Möglichkeit einer so genannten freien Variation bestritten wird. Nein, es wird nur nach Faktoren gesucht, die den Gebrauch der Konstruktionen mit der Präposition fördern. Man kann unsere Frage auch einfacher fassen: Wann können die Konstruktionen mit der Präposition in von Vorteil sein? So einfach die Frage, so komplex die Antwort. Wie sich herausstellen wird, sind hier semantische, syntaktische, kontextuelle Aspekte und noch einiges mehr zu bedenken.
Betrachten wir zunächst semantische Aspekte: Die zur Diskussion stehenden Zeitangaben können aus der einen Perspektive einen konkreten Zeitraum von einem Jahr, aus der anderen ein kürzeres Zeitintervall bzw. einen Punkt auf der Zeitachse bezeichnen.
Die präpositionalen Konstruktionen sind aufgrund der (prototypisch räumlichen) Bedeutung von in gut geeignet, wenn es darauf ankommt, ein bestimmtes Jahr als einen Zeit-Raum aufzufassen, innerhalb dessen etwas geschieht oder gilt, und zwar vor allem:
„in […]:
1. (räumlich) a) <mit Dativ> kennzeichnet den
Ort eines Geschehens, eines Zustands, eines Vorkommens usw. als im Innern, innerhalb von
etw. Bestimmtem gelegen: er ist, wohnt, lebt in Berlin; der Schlüssel ist in der Tasche;
Ü er ist [Mitglied] in einer Partei;
[…]
2. (zeitlich) a) <mit Dativ> zur Angabe
eines Zeitraums, innerhalb dessen etw. geschieht, der Fall ist usw.: in diesem Sommer
hat es viel geregnet; (nicht standardspr.; nach engl. Vorbild:) in 1999;
[…].“ (Duden 2003)
��Temporale in-Phrasen fassen Zeiträume
als "inkludierende" Intervalle, sei es bei der zeitlichen Situierung von Ereignissen in längeren
Zeiträumen (im 9. Jahrhundert, im Jahre 1987, in der letzten Woche, in der Nacht),
sei es beim telischen [d. h. einen Endpunkt setzenden] Gebrauch (in einer Stunde drei Glas
Bier trinken).“
(siehe
Übertragungen der Grundbedeutung von in. ).
Die Konstruktionen, die man in solchen Verwendungen mit "im gesamten Jahr ...", "im Laufe des Jahres …" oder "innerhalb des Jahres …" paraphrasieren kann, sind an der Herstellung einer Zeitraum-Perspektive beteiligt, in der die gesamte Zeit vom Anfang bis zum Ende des betreffenden Jahres genau betrachtet wird.
Abbildung: Die Zeitraum-Perspektive und die Zeitpunkt-Perspektive
Die Zeitraum-Verwendungen sind in den Korpora für die Jahreszahlen 2000-2009 bei allen Jahreszahlkonstruktionen mit in im Übergewicht. Besonders häufig sind sie bei in + Jahreszahl feststellbar, wo sie in den untersuchten Stichproben über 85% aller in+Jahreszahl-Verwendungen erreichen. Wie erwartet sind sie auch bei bloßer Jahreszahl zu finden. Allerdings liegt hier ihr Anteil unter 25% aller Verwendungen der bloßen Jahreszahl. Damit das entstehende Bild nicht verzerrt wird: Aufgrund allgemeiner Häufigkeitsunterschiede sind in der Zeitraum-Verwendung bloße Jahreszahlen immer noch etwa 34 Mal häufiger als in+Jahreszahl-Verbindungen.
Die entsprechenden Beispielbelege für die bloßen Jahreszahlen seien hier nachgeliefert:
Bei bloßer Jahreszahl werden die Zeitraum-Verwendungen von der anderen Verwendung in den Hintergrund gedrängt, in der die Jahreszahl ein feststehendes kleineres Zeitintervall oder einen Zeit-Punkt datiert. Die Jahreszahl bestimmt auf diese Weise z. B.:
Diese Zeitpunkt-Verwendung ist auch bei den Konstruktionen mit in zu finden, aber weit seltener. Besonders selten ist sie in den untersuchten Stichproben bei in + Jahreszahl (unter 15% aller Vorkommen dieser Verbindung). Bei der bloßen Jahreszahl hat die Zeitpunkt-Verwendung dagegen einen Anteil von über 75%. Das Gros der Belege machen dabei zwei spezifische Verwendungen aus, in denen
Die zweite der beiden Verwendungen, in der die bloße Jahreszahl mehr oder weniger ohne Alternative bleibt, braucht hier nicht weiter problematisiert zu werden. In der ersten ist schnell die Grenze zum komplexen Eigennamen überschritten, vgl. auch den folgenden Beleg:
Bereits eine der zuletzt diskutierten Spezialverwendungen war attributiv. Es lohnt sich einen Blick auf die Alternation zwischen der bloßen Jahreszahl und den in-Konstruktionen in dieser syntaktischen Funktion zu werfen. Sie scheint zum Teil der Unterscheidung zwischen der Zeitraum- und der Zeitpunkt-Perspektive geschuldet zu sein wie im folgenden Beleg:
Innerhalb der Zeitpunkt-Verwendungen wiederum kann sie öfter diffizile, einander überlagernde Gründe haben. So erscheinen die folgenden attributiven Konstruktionen mit im Jahr nicht ohne weiteres ersetzbar durch bloße Jahreszahlen. Dies ist zum einen dadurch verursacht, dass bloße Jahreszahlen nach komplexen Nominalphrasen mit mehreren Nomina tendenziell auf das letzte Nomen bezogen werden, was in den ersten drei Fällen falsch wäre, zum anderen dadurch, dass bloße Jahreszahlen eine restriktive Interpretation des Attributs suggerieren können, die auch in den einzublendenden Fällen unzutreffend wäre:
Im Eingangszitat sieht Bastian Sick den "Wirtschaftsjargon" als die Hauptdomäne der Konstruktion in + Jahreszahl an. In den untersuchten Stichproben für die Jahreszahlen 2000-2009 liegt der Anteil der in Wirtschaftskontexten genutzten Verwendungen von in + Jahreszahl etwa bei 60% der Vorkommen dieser Konstruktion. Die Erklärung für die extensive Nutzung aller Konstruktionen mit in in Wirtschaftskontexten liegt auf der Hand: In solchen Kontexten geht es häufig darum, Prozesse über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu beobachten, und die Konstruktionen mit in sind – wie bereits dargelegt – für die Zeitraum-Verwendung wie geschaffen. Bei in + Jahreszahl speziell weisen die Kritiker auch oft auf den Einfluss englischsprachiger Vorbilder hin, und die sind im Bereich der Wirtschaft bekanntlich allgegenwärtig. Unsere Aufmerksamkeit zieht aber vorerst ein anderer Faktor auf sich: Die Tatsache, dass in Wirtschaftskontexten Jahreszahlen oft von anderen Zahlen umgeben sind, z. B. von Prozent-, Mengen- und Geldbetragsangaben, vgl.:
Rund 50% der Belege für in + Jahreszahl erscheinen in den untersuchten Stichproben in derartigen Zahlenkontexten. Hier trägt die Präposition vor der Jahreszahl zur übersichtlichen Gestaltung der Darstellung bei, indem sie die Interpretation der Jahreszahl als solche vorbereitet. Die Präposition wirkt auf jeden Fall entzerrend, wenn ansonsten die Jahreszahl unmittelbar nach einer anderen Zahl stünde. Man versuche etwa die Präposition im folgenden Beispiel zu tilgen:
Durch Zahlen geprägte Darstellungen in Wirtschaftstexten haben oft einen überblicksartigen, schematischen oder tabellarischen Charakter, bei dem möglichst eindeutige, aber auch platzsparende Darstellungsformen bevorzugt werden, und hier ist schließlich die Konstruktion in + Jahreszahl konkurrenzlos. Sie kann natürlich nicht nur in Wirtschaftskontexten genutzt werden, sondern überall dort, wo Jahresangaben von Zahlen umgeben sind:
Dieser Beleg macht es noch einmal deutlich: In derart verdichteten Zahlenkontexten sind in+Jahreszahl-Konstruktionen einerseits eindeutiger als bloße Jahreszahlen, andererseits bieten sie die Kürze, was sie gegenüber im Jahr(e)-Konstruktionen auszeichnet (man beachte den Wechsel von im Jahr zu in am Anfang des obigen Belegs).
Wir wollen festhalten: Es gibt mindestens zwei vom Einfluss der englischen Sprache unabhängige Faktoren, die den Gebrauch der Konstruktionen mit der Präposition in in Wirtschaftskontexten begünstigen:
Bei in + Jahreszahl speziell kommt hinzu, dass diese Konstruktion für knapp angelegte Zahlenkontexte besser geeignet ist als im Jahr(e) + Jahreszahl.
Nachdem wir die Vorteile der Konstruktion in + Jahreszahl diskutiert haben, kommen wir zu der Frage, ob sie sich in jüngerer Zeit besonders stark ausbreitet. Zunächst bietet sich ein Blick in die weiter zurückliegende Vergangenheit an: In der folgenden Tabelle werden die Häufigkeiten der Varianten mit den Jahreszahlen von 1600 bis 1999 in den historischen Korpora des Archivs HIST zusammengetragen. Die Korpora umfassen über 65 Millionen Wörter, und weisen einen Schwerpunkt im Bereich der Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf.
in + Jahreszahl | im Jahre + Jahreszahl | im Jahr + Jahreszahl | bloße Jahreszahl (unbereinigt) |
11 | 1137 | 295 | 17478 |
Tabelle: Varianten für die Jahreszahlen 1600-1999 in den historischen Korpora des „Archivs HIST“
Hier und im Folgenden kann bei bloßer Jahreszahl auf eine rigorose Eliminierung aller unzutreffenden Belege verzichtet werden, da die ermittelten Zahlen lediglich einem Vergleich zwischen verschiedenen Epochen bzw. Zeitabschnitten dienen und der Anteil unzutreffender Belege in allen Recherchen einigermaßen konstant bleibt.
Unerwarteterweise finden sich auch in den historischen Korpora einige Belege für in + Jahreszahl, allesamt aus dem 19. Jahrhundert, z. B.:
Sollte die These vom Vorbild der englischen Sprache stimmen, müsste dieses also schon erstaunlich früh wirksam gewesen sein. Außerdem könnte es sich zu damaliger Zeit mindestens genauso gut um den Einfluss der französischen Sprache gehandelt haben.
Der zunehmende Gebrauch von Fügungen wie in 1870 wird übrigens schon Ende des 19. Jhs. vom Sprachpfleger Gustav Wustmann in seinen berühmten "Allerhand Sprachdummheiten" (1891) beklagt (ich danke Jörg Kilian für entsprechenden Hinweis, M. K.). Wustmann spricht in diesem Zusammenhang von "willkürliche[r] Nachäfferei des Französischen [!] und des Englischen".
Anhand der folgenden Abbildungen können die ermittelten Ergebnisse aus den historischen Korpora mit den Ergebnissen aus den moderneren Korpora des "Archivs W" verglichen werden (wohlgemerkt, alle gefunden Konstruktionen mit den Jahreszahlen 2000-2009 entstammen Quellen aus der Zeit nach 1991). Die Abbildungen sehen einander überraschend ähnlich, allerdings ist das Verhältnis der Varianten im Jahre und im Jahr zueinander umgekehrt.
Abbildung: Varianten für Jahreszahlen 1600-1999 in den historischen Korpora des „Archivs HIST“.
Abbildung: Varianten für Jahreszahlen 2000-2009 in den Korpora des „Archivs der geschriebenen Sprache W“ (bloße Jahreszahl unbereinigt)
Schauen wir uns im zweiten Schritt die Entwicklung der Häufigkeitswerte seit den Sechszigerjahren an. Auch von dieser Betrachtung kann man sich einen Beitrag zur Klärung der Frage nach dem eventuellen Einfluss des Englischen versprechen. Dabei wird angenommen, dass dieser Einfluss im Allgemeinen in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, was sich auch darin widerspiegeln müsste, dass in + Jahreszahl im Vergleich zu den übrigen Varianten im Laufe der Zeit ebenfalls zugenommen hat. Tabelle und Abbildung, die folgen, informieren über die Verwendung der Varianten für die Jahreszahlen 1960-1969 in den Quellen der Jahre 1960-1969 aus dem "Archiv W".
in + Jahreszahl | im Jahre + Jahreszahl | im Jahr + Jahreszahl | bloße Jahreszahl (unbereinigt) |
9 | 125 | 17 | 2894 |
Tabelle: Varianten für Jahreszahlen 1960-1969 in den Quellen der Jahre 1960-1969 aus den Korpora des „Archivs der geschriebenen Sprache W“
Bei bloßer Jahreszahl konnte hier auf eine rigorose Eliminierung aller unzutreffenden Belege verzichtet werden, ohne dadurch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu verschiedenen Zeitabschnitten zu gefährden.
Abbildung: Varianten für Jahreszahlen 1960-1969 in den Quellen aus den Jahren 1960-1969
Die Abbildung erinnert an die Abbildung zu Jahreszahlen 2000-2009 weiter oben, obwohl die Größen der jeweiligen Grundgesamtheiten wie auch die Zusammenstellung der jeweiligen Korpora sehr verschieden sind. Und wieder liegt der Hauptunterschied darin, dass sich das Verhältnis von im Jahre zu im Jahr umkehrt.
Unsere Betrachtung der historischen Entwicklung der Variantenhäufigkeit scheint also dafür zu sprechen, dass
Als einzige auffällige Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist die starke Abnahme des Dativ-e feststellbar, die sich in der Stärkung von im Jahr + Jahreszahl und der Schwächung von im Jahre + Jahreszahl ausdrückt.
Unter dem Eindruck dieser Ergebnisse kann man dem verunsicherten Sprachbenutzer folgende Empfehlungen geben: