In "Grammatik in Fragen und Antworten" geht es in mehreren Glossen um den Genitiv im Deutschen, unter anderem in Genitiv bei komplexen Eigennamen ("Walthers von der Vogelweide" oder "Walther von der Vogelweides") und Genitiv beim Demonstrativ-Artikel ("Anfang diesen Jahres" oder "Ende dieses Jahres"). Es kommt natürlich nicht von ungefähr, dass kein anderer Kasus, ja vielleicht überhaupt kein anderes grammatisches Phänomen in aktuellen Ratgebern zur deutschen Grammatik so oft behandelt wird wie der Genitiv. Der Genitiv ist das enfant terrible der deutschen Grammatik und vielleicht gerade deswegen das Lieblingskind der deutschen Grammatikschreiber. Die Autorin dieses Artikels und Bruno Strecker, dem dieser Text gewidmet ist, bilden da keine Ausnahme. Einig sind wir beide uns auch darin, dass der Genitiv uns ja eigentlich im Innersten fremd ist, denn, so Bruno des Öfteren, in den süddeutschen Mundarten, die wir beide (wenn auch eher schlecht als recht) sprechen, gibt es keinen Genitiv. Zur Faszination durch das Ungebärdige kommt also noch die durch das so genannte "Fremde" hinzu, beides starke Aphrodisiaka, auch in Wissenschaftsdingen.
Ich will in diesem Artikel wieder meiner Leidenschaft frönen und mich mit einer weiteren Facette des Genitivs im Deutschen befassen, die der Beschreibung und Glossierung harrt, nämlich der Frage nach den Lesarten des Genitivs bei ung-Nominalisierungen.
Unmittelbarer Anlass für die semantische Frage zum Genitiv ist ein Interview des Autors Robert Menasse, das dieser der Rhein-Neckar-Zeitung am 30.10.2007 gegeben hat. Er äußert sich da (S. 13) zum Titel seines Romans "Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust". Es heißt dann: "In der 'Erziehung der Lust' kann man sowohl einen Genitivus objektivus als auch einen Genitivus subjektivus sehen. Das heißt, einerseits wird die Lust erzogen, andererseits ist sie es, die uns erzieht." Menasse spricht auch von einer "Referenz" auf (vielleicht meinte er auch "Reverenz" an) Flauberts berühmten Roman "Education sentimentale", ins Deutsche wahlweise übersetzt als "Erziehung der Gefühle", "Erziehung des Gefühls", "Erziehung des Herzens" oder auch "Lehrjahre des Gefühls". Menasse gibt damit genau das aus der lateinischen Grammatikschreibung abgesunkene Bildungsgut wieder, das wir in allen deutschen Grammatiken finden. Aber stimmt es wirklich, dass man den Genitiv hier "sowohl als auch" lesen kann?
Im IDS-Archiv der geschriebenen Korpora gibt es 1401 Belege für die Wortfolge die Erziehung der. Ganz überwiegend folgen auf der Nominale wie Kinder, Jugendliche, drei Söhne usw. Hier liegen, nach Prüfung der Belege, eindeutig objektivus-Lesarten vor. Nur bei 39 Belegen, also weniger als 3 %, ist angesichts von Genitivnominalen wie der Eltern (über 30 Belege), der Mutter, der Familien, der Männer, der Nazis (jeweils ein Beleg) eine subjektivus-Lesart überhaupt in Erwägung zu ziehen. Von den 371 Treffern für die Erziehung des sind nur 4 subjektivus-verdächtig: die Erziehung des Herzens (Flaubert), die Erziehung des Lehrers, des Elternhauses, des Fernsehens. Bei die Erziehung von sind unter den 526 Belegen nur 4 mit subjektivus-Lesart.
Der Kontext disambiguiert in der Regel und er tut dies bei den subjektivus-verdächtigen Belegen, nach meiner Analyse, in aller Regel auch zugunsten der subjektivus-Lesart. Man vergleiche:
Beleg (2) mag dabei für eine ganze Reihe von Aussagen stehen, in denen der fast formelhafte Ausdruck Erziehung der Eltern ein zentrales Konzept bezeichnet, wenn um Erziehung und Bildung und um die Machtbalance zwischen Familie und Staat, vertreten durch Schule und Sozialbehörden, gestritten wird.
Andererseits aber erweist sich nicht jeder subjektivus-verdächtige Beleg wirklich als mit subjektivus gemeint. Die alten Hasen vom "Spiegel" etwa spielen mit unserer subjektivus-Erwartung beim Titel der Ausgabe 29/2005, der da eben lautet: Die Erziehung der Eltern.
Das Cover macht jedoch die objektivus-Lesart schmackhaft, wenn das
abgebildete kleine Mädchen den devoten Eltern mit erhobenem Zeigefinger und
gezücktem Lehrbuch entgegentritt. [gefunden: http://www.coverbrowser.com/covers/spiegel/13] |
Im folgenden Beleg wird gar durch den Kontext die subjektivus-Lesart eindeutig ausgeschlossen:
Hier repräsentiert die durch-Phrase das Subjektargument, die Genitiv-Phrase das Objektargument. Und genau diese Form der Realisierung des Subjektarguments ist, so scheint es, auch die generell präferierte. So finden sich 79 Belege für die Erziehung durch gegenüber maximal 39+4+4 = 47 subjektivus-verdächtigen Belegen für die Erziehung der/des/von. Für Erziehung durch + fakultativem Determinativ oder Adjektiv + Eltern enthält das Korpus allerdings nur 23 Belege gegenüber mehr als 30 für Erziehung der Eltern in subjektivus-Lesart. Auffällig ist dabei jedoch, dass die genitivische Form nur, wie oben angedeutet, formelhaft, ohne jede attributive Erweitung vorkommt, während bei der durch-Phrase Variation vorherrscht: durch ihre Eltern, durch job-gestresste Eltern usw.
Ich bin mir bewusst, dass das Zahlen-Bild unvollständig ist: Es fehlen die Zahlen zu anderen Genitivphrasen, etwa mit den Possessiva oder anderen Determinativen, wie in Erziehung meiner/dieser (Kinder/Eltern), auch die Gesamtphrase muss ja nicht unbedingt durch den definiten Artikel eingeleitet sein. Hier mit Erfolg zu recherchieren ist nach wie vor aufwändig – sicher werden wir es besser können, wenn das letzte große Projekt, das Bruno Strecker begonnen hat, die Korpus-Grammatik des Deutschen, weiter fortgeschritten sein wird.
Für den Augenblick haben wir uns Gewissheit verschafft: subjektivus-Lesarten sind bei einem deverbalen Substantiv, einer ung-Ableitung wie Erziehung im Korpus belegt. Dass wir außer den Flaubert- und Menasse-Zitaten keine Belegungen für nicht-belebte Erzieher bzw. Erzogene gefunden haben, liegt auch an den im Korpus vor allem berücksichtigten Textgattungen. Nur im dichterischen, nicht im so genannten öffentlichen Sprachgebrauch werden Herzen, Empfindungen und die Lust erzogen oder schreibt man diesen gar aktive erzieherische Kräfte zu.
Gehen wir über zum Abgleich mit Darstellungen in der Literatur. Ehrich/Rapp (2000) gehen dem Verdacht nach, dass nicht alle ung-Nominalisierungen – selbst wenn sie Eventualitäten bezeichnen, nicht etwa Gegenstände – die Nennung des Subjektarguments bzw. des Agens als postnominalen Genitiv zulassen. Dieser Verdacht lag ja auch unserer Korpusrecherche zugrunde. Sie zeigen, dass a) die Interpretation der Genitivphrase als Objektargument generell präferiert ist, und dass b) nur bei bestimmten (semantischen) Sorten von ung-Nominalisierungen überhaupt subjektivus-Genitive zugelassen sind. Prozess-Nominalisierungen erlauben in geeigneten Kontexten neben der Objektlesart auch die Subjektlesart eines postnominalen Genitivs, Ereignisnominalisierungen nur die Objektlesart (a.a.O. S. 268). Dabei bezeichnen Prozessnominalisierungen Vorgänge ohne inhärenten Schlusspunkt. „Sie werden in der Regel auf der Basis atelischer Verben gebildet (Verfolgung), Ereignisnominalisierungen benennen Vorgänge mit einem definierten Resultatszustand; ihre Basis sind telische Verben (Vernichtung).“ Dies erklärt folgenden Kontrast (adaptiert nach Ehrich/Rapp a.a.O. S. 284 f.):
subjektivus | objektivus | |
die Verfolgung | der Angreifer | der Gegner |
die Vernichtung | *des Betrügers | der Akte |
Nach dieser Analyse ist Erziehung als Prozessnominalisierung einzuordnen, erlaubt es doch in geeigneten Kontexten, wie wir gesehen haben, auch subjektivus-Lesarten für den Genitiv. Nun sind aber die Nominalisierungen doch nicht ganz so sauber sortiert, wie es zunächst den Anschein hat. Ist erziehen wirklich eindeutig bzw. ausschließlich eine Tätigkeit (activity nach der Einteilung von Vendler 1957), gehört es neben z.B. behandeln, belehren, versorgen zu den von Ehrich/Rapp genannten "Betreuungs-/Behandlungsverben" (S. 279)? Sicher nicht nur. Deutlicher noch als die anderen Verben im Umfeld, denen auch Ehrich-Rapp (in Fußnote 33) telische Varianten zubilligen, ist erziehen ein Prozess, bei dem ein "definierter Resultatszustand" impliziert sein kann. Immer dann, wenn das Verb mit einem Präpositivkomplement mit zu verknüpft ist, haben wir es nicht mit einer activity, sondern einem accomplishment, einem Vorgang mit definiertem Resultatszustand zu tun. Auch Erziehung wird in Kombination mit zu gebraucht wie in den folgenden Belegen, die auch eine attributive Genitivphrase oder ein pränominales Possessivum enthalten:
Der Genitiv und das Possessivum sind hier nur in Objektlesart möglich. Können wir daraus im Umkehrschluss folgern, dass immer dort, wo eine zu-Phrase fehlt und ein Genitiv in Subjektlesart möglich ist, Erziehung somit als Tätigkeit konzeptualisiert wird, Resultate nicht intendiert und nicht zu erwarten sind. Diese Gleichsetzung von grammatischem Verhalten und Intentionen von Partizipanten ist sicher unrichtig – auch wenn gerade im Fall der Erziehung der Eltern mit Vergeblichkeit oder gar Ziellosigkeit zu rechnen ist.
Offen lasse ich auch die Frage, wozu wir die Lust – dann in Objektlesart – erziehen könnten: unsere Erziehung der Lust zu ??. Die Frage, wozu sie uns erziehen könnte, kann jedenfalls nur so gestellt werden: unsere Erziehung zu ?? durch die Lust.
Dieser Beitrag findet sich auch in der Festschrift für Bruno Strecker, den Erfinder der "Grammatik in Fragen und Antworten", über den IDS-Buchshop sowie den IDS-Publikationsserver.
Gisela Zifonun (2012): Die Erziehung der Lust — Lesearten des adnominalen Genitivs. In: Marek Konopka / Roman Schneider: Grammatische Stolpersteine digital — Festschrift für Bruno Strecker zum 65. Geburtstag. Mannheim: Institut für deutsche Sprache. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:mh39-41010